ArchivDeutsches Ärzteblatt18/2023Interview mit dem Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Andreas Gassen, Dr. med. Stephan Hofmeister und Dr. med. Sibylle Steiner: Praxen brauchen Spielraum

POLITIK: Das Interview

Interview mit dem Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Andreas Gassen, Dr. med. Stephan Hofmeister und Dr. med. Sibylle Steiner: Praxen brauchen Spielraum

Beerheide, Rebecca; Schmedt, Michael

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Der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sieht vor allem die Honorarfrage, die Ambulantisierung und die Digitalisierung als Kernarbeitsbereiche. Der medizinische Nachwuchs spiele dabei eine wichtige Rolle.

Andreas Gassen, Stephan Hofmeister und Sibylle Steiner (v.l.) wurden Anfang März für sechs Jahre von der Vertreterversammlung in den Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gewählt. Gassen und Hofmeister wurden damit in ihrem Amt bestätigt, Sibylle Steiner folgte dem langjährigen Vorstandsmitglied Thomas Kriedel. Fotos: axentis.de/G.J.Lopata
Andreas Gassen, Stephan Hofmeister und Sibylle Steiner (v.l.) wurden Anfang März für sechs Jahre von der Vertreterversammlung in den Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gewählt. Gassen und Hofmeister wurden damit in ihrem Amt bestätigt, Sibylle Steiner folgte dem langjährigen Vorstandsmitglied Thomas Kriedel. Fotos: axentis.de/G.J.Lopata

Sie sind als Vorstand der KBV auf der vergangenen Vertreterversammlung gewählt worden. Was sind für Sie die Kernthemen der kommenden sechs Jahre?

Gassen: Wir haben Baustellen in jedem Versorgungsbereich. Ein Kernthema ist aber natürlich die Honorarfrage. In der Psychotherapie geht es immer wieder um die Angemessenheit der psychotherapeutischen Leistung, wozu regelmäßig vor Gerichten geklagt wird. Die Hausärzte benötigen Honorarsicherheit, die Minister Lauterbach mit seinem Versprechen der Entbudgetierung einlösen muss. Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für die Fachärzte, die seit 30 Jahren Zwangsrabatte an die Krankenkassen ertragen müssen. Wir brauchen eine unquotierte Vergütung, jede erbrachte Leistung muss vollständig bezahlt werden, ansonsten werden wir perspektivisch die Sicherstellung nicht mehr gewährleisten können. Ein winziger Schritt ist bereits getan bei den Kinder- und Jugendärzten. Aber das reicht längst nicht. Zudem müssen bei der Ambulantisierung eine Arztpraxis und ein Krankenhaus für die gleiche Leistung eine gleiche Vergütung bekommen.

Wir müssen die Attraktivität der Niederlassung aufzeigen, ist der stellvertretende KBV-Vorsitzende Stephan Hofmeister überzeugt.
Wir müssen die Attraktivität der Niederlassung aufzeigen, ist der stellvertretende KBV-Vorsitzende Stephan Hofmeister überzeugt.

Hofmeister: Die grundsätzliche Komponente Honorar hat Herr Gassen bereits genannt. Bei der Notfallversorgung warten wir auf die Gesetzgebung und haben mit Ersteinschätzungsverfahren SMED und mit der 116117 hervorragende Steuerungsinstrumente, die wir flächendeckend ausgerollt haben. Sie können aber noch nicht alle Bedürfnisse decken, weil es nach wie vor keine vernünftige Finanzierung gibt. Denn es muss bislang aus dem Honorar der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte und Psychotherapeuten finanziert werden. Sobald die Finanzfrage geklärt ist, ist der größte Schritt zu einer sinnvollen Steuerung der Akutversorgung und der Bereitschaftsdienstleistung getan.

Eine weitere Herausforderung ist die Besetzung und Nachbesetzung von Praxen. Wir müssen die Attraktivität der Niederlassung aufzeigen. Diese ist die Lösung für einige Probleme. Landarztquoten helfen da weniger. Was wir brauchen, sind attraktive und flexible Arbeitsbedingungen. So könnte man beispielsweise auch von zu Hause gewisse Sprechstunden digital anbieten. An solchen modernen Formen arbeiten wir.

Steiner: Ich bin die Neue im Team und habe ein Ressort, dessen Themen ich durch meine bisherige Tätigkeit sehr gut kenne. Das ist die Arbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Dazu gehört der breite Themenkreis von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden über Prävention, sektorenübergreifende Qualitätssicherung und Psychotherapie bis hin zur Arzneimittelversorgung und veranlasste Leistungen. Ich denke im Gemeinsamen Bundesausschuss muss es uns gelingen, gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Berufsverbänden die Beratungsthemen möglichst früh zu besetzen, um die Interessen der Ärzteschaft und der Psychotherapeutenschaft zu vertreten. Das zweite Thema ist die Digitalisierung. Diese kann man nicht mehr isoliert sehen, da sie alle Versorgungsbereiche betrifft. Daher ergeben sich durchaus auch Überschneidungen mit den Aufgaben der KBV im G-BA. Wir müssen von der reinen technischen Diskussion wegkommen und uns mehr darauf fokussieren, wie die Digitalisierung medizinische Versorgungsprozesse unterstützen und sogar verbessern kann.

Wurde denn bei der Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministeriums genügend ärztlich mitgedacht?

Steiner: Letztlich geht es dort zu sehr darum, was technisch machbar ist, ohne den Zeitaufwand von digitalen Anwendungen in den Praxen zu berücksichtigen. Aus unserer Sicht steht der Nutzen für die Versorgung zu wenig im Mittelpunkt. Man trifft in dieser Digitalisierungsstrategie viele bekannte Vorhaben. Es ist aber noch ein gutes Stück Weg zu gehen, bis realisierbare Projekte und praktische Anwendungen entstehen.

Eine praktische Anwendung ist die elektronische Patientenakte (ePA), die die Ärzte befüllen sollen. Sind die bislang vorgesehenen zehn Euro ausreichend?

Momentan haben wir den Eindruck, es ist nur eine Pseudo-Ambulantisierung für die Krankenhäuser, sagt KBV-Vorstandsvorsitzender Andreas Gassen.
Momentan haben wir den Eindruck, es ist nur eine Pseudo-Ambulantisierung für die Krankenhäuser, sagt KBV-Vorstandsvorsitzender Andreas Gassen.

Gassen: Das hängt davon ab, wie die Befüllung funktioniert. Läuft das weitgehend automatisiert, sind zehn Euro in Ordnung. Müssen sie die Akte händisch befüllen, ist es viel zu wenig. Wie Frau Steiner sagte, ist die technische Machbarkeit entscheidend. Wir als Vertragsärztinnen und -ärzte bekommen immer etwas vorgesetzt, das dann in die Versorgung gekippt wird, obwohl es technisch nicht funktioniert. Und das ist das, was die Kolleginnen und Kollegen in den Arztpraxen nervt und die Akzeptanz verringert. Dazu kommt, dass die Kosten für diese ganze Digitalisierung wegen viel zu niedriger Erstattungen zu großen Teilen an den Praxen hängen bleiben. Das ist inakzeptabel.

Hofmeister: Das sieht man beim elektronischen Rezept. Das ist ein Massenprozess mit 460 Millionen Rezepten pro Jahr. Dieser Prozess wird in die Praxen gebracht, obwohl der Prozess des eRezepts immer noch um ein Vielfaches länger dauert als der des Papierrezepts. Man verschwendet also weiterhin Zeit von Ärzten und Mitarbeitenden, die im Umgang mit den Patientinnen und Patienten fehlt. Und wenn am Ende ein Papierrezept mit einem QR-Code steht anstatt wie bisher mit den drei Medikamenten, dann kann man das nicht mehr vermitteln. Wir sind Spezialisten für Versorgungsprozesse. Die Digitalexperten müssen uns nur ansprechen, dann können wir gemeinsam gute digitale Prozesse entwickeln.

Haben Sie denn das Gefühl, dass auf die KBV zugegangen wird, was die ärztliche Erfahrung betrifft?

Der Nutzen für die Versorgung steht bei der Digitalisierung zu wenig im Mittelpunkt, kritisiert KBV-Vorständin Sibylle Steiner.
Der Nutzen für die Versorgung steht bei der Digitalisierung zu wenig im Mittelpunkt, kritisiert KBV-Vorständin Sibylle Steiner.

Steiner: Das Thema wird sehr technikorientiert diskutiert. Manchmal fragt man sich, ob die Erfahrungen, die man zum Beispiel mit dem Medikationsplan auf Papier gelernt hat, über Bord geworfen werden, wenn man sich jetzt die geplante Medikationsübersicht anschaut. Oder nehmen Sie die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Ich glaube, da haben alle einen schmerzhaften Erfahrungsprozess durchlaufen, bis das in den Praxen lief. Jetzt machen die Arbeitgeber diese Erfahrungen. Wir vermissen schon, dass solche Erfahrungen berücksichtigt werden.

Aber wie sehen Sie die Rolle der Industrie? Diese schafft schließlich die technischen Voraussetzungen.

Gassen: Es müsste eine einheitliche Lösung geben. Man könnte ja vom Bund eine Ausschreibung machen und die Anforderungen definieren. Wer die Ausschreibung gewinnt, muss die Infrastruktur liefern, idealerweise softwarebasiert. Übergabepunkt ist der Anschluss in der Praxis. Die Kosten trägt der Bund. Ab da ist die Praxisverwaltungssoftware gefragt mit interoperablen Schnittstellen. Es kann nicht sein, dass letztlich die Praxen damit zu kämpfen haben, dass rund 150 verschiedene Praxissysteme diese Lösung anders interpretieren. Nur mit einer einheitlichen Struktur wird sich die ePA durchsetzen.

Hofmeister: Aktuell fehlen auch noch strukturierte Daten. Bislang haben wir fast keine kompatiblen maschinenlesbaren Daten. Wenn es nur PDF gibt, reicht dies nicht aus, denn die müssen händisch durchgeschaut werden.

Steiner: Die Standards sind ganz wichtig. Wenn man eine Anfrage aus der Praxis bekommt, bei der ein Problem geschildert wird, dann fragt man als Erstes danach, was für ein Praxisverwaltungssystem genutzt wird.

Kommen wir zur Ambulantisierung. Geht der Bundesgesundheitsminister das Thema richtig an?

Gassen: Nein. Momentan haben wir den Eindruck, es ist nur eine Pseudo-Ambulantisierung für die Krankenhäuser. Entscheidend muss aber sein: Wer kann die Leistung qualifiziert erbringen und nicht in welchem Gebäude wird sie erbracht? Jede fünfte aktuell stationäre Leistung ist ambulant erbringbar und wird auch im Rest der Welt ambulant erbracht. Jetzt fragen wir uns, ob das Ministerium die gestalterische Kraft hat, tatsächlich die Hybrid-DRGs als echte Option einzuführen. Macht man dies mit gleichen Bedingungen für alle Leistungserbringer und einem umfänglichen Katalog, wird das funktionieren. Beschränkt man sich auf 20 Prozeduren und vergütet diese schlecht, dann funktioniert dies nicht. Jetzt kommt es darauf an: Sorgt der Minister mit einer Rechtsverordnung für eine Vergütung, die sich sowohl für Praxen als auch für Krankenhäuser rechnet? Machen wir einen Schweregrad-Zuschlag bei komplexen Fällen? Mit solchen klaren Regelungen, belastbar finanziert, passiert da etwas. Man muss diesen Wandel im Sinne der Versorgung gestalten.

Thema Notfallreform. Wie bewerten Sie die aktuellen Reformpläne?

Gassen: Ich glaube, man muss daran erinnern, dass die Notfallversorgung und die Bereitschaftsdienstversorgung für Menschen gedacht sind, die trotz vorhandener Praxisstruktur außerhalb der Praxiszeiten eine akute behandlungsbedürftige Gesundheitsstörung oder einen Unfall o. Ä. erleiden. Aktuell wird aber so kommuniziert, als hätte jeder Bürger 24 Stunden, sieben Tage die Woche, überall und zu jeder Zeit einen Rundumversorgungsanspruch. Und Teile der Politik unterstützen dies sogar. So entsteht ein Anspruchsverhalten der Bevölkerung, das nicht zu erfüllen ist. Wir müssen das auf ein angemessenes Maß zurückfahren. Dann passt es auch. Aber es passt nicht, wenn es normal ist, mit einer Bagatellerkrankung in die Notaufnahme zu fahren. Das ist erstens nicht finanzierbar und zweitens nicht leistbar, weil wir das Personal nicht haben. Wir erleben doch gerade wieder eine mediale Berichterstattung, die drastisch aufzeigt, wie es um die Personalsituation in deutschen Krankenhäusern bestellt ist. Und drittens ist es gesetzlich nicht hinterlegt. Die Patienten müssen richtig gesteuert werden, sonst wird es nicht funktionieren.

Hofmeister: Eine Unschärfe bleibt auch in dem Wording „die Notfallversorgung“. Denn diese bleibt weiterhin in der Hand des staatlichen Rettungssystems, also auf Länder- und Kreisebene zu regeln. Dafür brauchen wir Krankenhäuser, Notaufnahmen et cetera. Dafür sind wir nicht zuständig. Daneben gibt es den akuten Bereitschaftsdienst. Das ist wichtig auseinanderzuhalten. Das sind zwei getrennte Dinge. Was wir vorschlagen, ist die Schnittstelle zwischen diesen Bereichen mit 116117 und 112 – also die Leitstellen – zu verknüpfen sowie ein Ersteinschätzungsverfahren wie SMED vorzuschalten, was bis zu 25 Prozent der Patientenfälle schon herausfiltert.

Und wer ist für Patienten am sogenannten Tresen verantwortlich?

Hofmeister: Da muss jemand stehen, der nach anerkannten medizinischen Kriterien diesen Patienten sortiert. Das kann alles von „morgen zum Arzt“ oder „rein in den Schockraum“ sein. Der Streit, ob das die KV macht oder das Krankenhaus, entzündet sich daran, dass es mutmaßlich Krankenhäuser gibt, die diese Türe nutzen, um ihre Betten zu belegen. Das ist ein ärgerliches Phänomen. Krankenhäuser sagen, das sei unwahr. Wir glauben, dass da doch was dran ist. 50 Prozent der Belegungszahlen bestehen in manchen Häusern aus den fußläufigen Ambulanzpatienten. Das gibt es in keinem anderen Land der Welt. Daher sind objektive Kriterien so wichtig. Das jeweilige erreichbare Versorgungsangebot kann dann durchaus von Uhrzeit zu Uhrzeit und von Ort zu Ort verschieden sein. Wenn das um 23.50 Uhr in der Uckermark ist, wird das Angebot ein anderes sein (müssen) als zur gleichen Uhrzeit irgendwo in Berlin. Das ist auch nicht schlimm. Für all das haben wir Vorschläge. Das muss einmal finanziell hinterlegt sein, um es nach und nach auszubauen.

Steiner: Die Steuerung beginnt fast schon früher, nämlich dann, wenn man Selbsteinschätzungsinstrumente nutzt, mit denen der Patient sich erst einmal selbst einschätzen kann und dann auch die Hilfestellung bekommt, die der richtigen Versorgungsstufe entspricht. Oder ein anderer Ansatz: In der KV Nordrhein hat man über Weihnachten und Neujahr ein Angebot für Eltern von Kindern mit Atemwegsinfektionen eingerichtet, die eine erste Anlaufstelle in Form von Beratung per Videosprechstunde hatten. Das gehört auch zu digitalen Angeboten, die gut funktionieren können.

Und woran scheitert es momentan?

Gassen: An der Finanzierung. Es ist teuer und nicht nur ein Leuchtturm-, sondern ein Strukturprojekt. Wir brauchen wie bei der Feuerwehr eine Struktur, die einsatzbereit ist, wenn ich sie brauche, die aber auch finanziert ist, wenn sie nicht gebraucht wird und keinen Umsatz generiert. Die haben wir nicht. Und es muss zur Pflicht werden, dass man sich dort meldet. Dann muss man sehr schnell eine qualifizierte medizinische Ersteinschätzung vornehmen und sagen: „Kommen Sie da und dahin oder machen Sie jetzt Folgendes.“ Das ist machbar, das ist lieferbar und das ist auch medizinisch vertretbar lieferbar. Aber in der Breite noch nicht vorhanden, weil sich die öffentliche Hand um die Rahmensetzung und die Finanzierung drückt.

Die Finanzierung müsste in ein Krankenhausstrukturgesetz?

Gassen: Wir können und wollen solch ein System jedenfalls nicht weiter aus gedeckelten Honoraren der Vertragsärzte stemmen.

Hofmeister: Das muss steuerfinanziert werden. Man könnte es dann als Callcenter umsetzen, die dezentral im Schichtbetrieb solch ein Angebot betreiben.

Ist es für den medizinischen Nachwuchs bei den jetzigen Rahmenbedingungen noch attraktiv, in die Niederlassung zu gehen?

Hofmeister: Die Attraktivität ist nicht unser Problem. Das Krankenhaus ist jedenfalls mit seinem Schichtbetrieb und seiner ökonomischen Durchschleife keine Konkurrenz. Bei der Niederlassung haben wir ein Dilemma. Wir müssen Missstände aufzeigen trotz der unbestrittenen Vorteile. Das ist unser Spannungsfeld. So ist das Thema Weiterbildung wichtig. Wer einmal in seiner Weiterbildungszeit in der Praxis gearbeitet hat, den brauchen wir nicht zu überzeugen. Auch bei den Hausärzten sehen wir gerade, dass sich die Zahlen stabilisieren.

Steiner: Wir müssen die jungen Kolleginnen und Kollegen auch überzeugen, dass nicht alles nur Bürokratie ist. Wir müssen Dinge vereinfachen, digitale Angebote einfach und praktikabel gestalten. Auch die Frage der Verordnungssicherheit, Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regresse spielen nach wie vor eine Rolle, was junge Kolleginnen und Kollegen abschreckt. Da muss man viel genauer draufschauen.

Immer mehr Ärztinnen und Ärzte wollen lieber in Teilzeit arbeiten oder als Angestellte in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ). Macht Ihnen das Sorgen?

Gassen: Das muss man akzeptieren. Mehr Ärztinnen und Ärzte werden wir nicht bekommen. Aber gerade deshalb darf man diese knappe Ressource nicht mit sinnloser Bürokratie belasten, anstatt ihr die Zeit und die Beinfreiheit zu lassen, sich um Patienten zu kümmern. Das wirksamste Mittel sowohl für mehr Niederlassungen als auch gegen Investoren in den MVZ ist, den Praxen den unternehmerischen und wirtschaftlichen Spielraum zu lassen, vernünftig Medizin zu machen. Das ist dann für die meisten attraktiver als in einer Konzernstruktur im MVZ zu arbeiten. Denn macht es mehr Spaß in der eigenen Praxis zu arbeiten, Medizin so zu machen wie man es möchte, mit einem eigenen Team?

Steiner: Wir müssen auch schon früher ansetzen und für Medizinstudierende Angebote entwickeln. Im Medizinstudium sollte man schon Dinge lernen, die später in der ambulanten Versorgung in den Praxen eine Rolle spielen.

Aber der Trend geht zu größeren Einheiten?

Hofmeister: Das ist richtig, aber auch nicht schlimm. Das Kollegiale ist sinnvoll. Mit einem Allgemeinmediziner, Geriater und Gynäkologen zum Beispiel ist die ganze Familie abgedeckt. Man könnte das auch in einer Praxisgemeinschaft mit verschiedenen wirtschaftlichen Einheiten zusammen machen oder eine Dependance gründen, die dann tragfähig wird. Es ist auch möglich, ein Teilzeit-Vertragsarzt zu sein – auch in ganz kleinen Gebinden, in jeder Rechtsform. Es gibt ganz viel Variabilität.

Zum Schluss: Sehen Sie sich als Selbstverwaltung von der Politik noch ausreichend akzeptiert?

Gassen: Weite Teile der Politik fremdeln mit der Selbstverwaltung. Man möchte gerne mehr kontrollieren. Eine Struktur, die sich selbst verwaltet, auch wenn sie wesentliche Aufgaben übernimmt und dies der öffentlichen Hand abnimmt, wird kritisch gesehen. Das ist schwierig und sicherlich ein Problem. Wir haben das in den letzten Jahren erlebt und das ist nicht nur das Phänomen einer SPD-geführten Regierung, sondern das gab es 16 Jahre mit der Union auch; man hat die Freiräume der Selbstverwaltung zunehmend eingeengt und das zunehmend behördenähnlich auszugestalten versucht. Auf der anderen Seite musste man feststellen, unter anderem auch in der Coronazeit, dass man ohne diese Strukturen die Versorgung nicht hätte sicherstellen können, weil gerade die Selbstverwaltung viele Dinge möglich gemacht hat. Wir wissen ja, dass Ulla Schmidt (SPD) die Selbstverwaltung abschaffen wollte. Das will man heute wohl nicht mehr, weil man letztlich weiß, dass den Job keiner so schnell übernehmen könnte, aber mehr Kontrolle fänden viele politisch Verantwortliche schon schön. Die Selbstverwaltung braucht aber Freiraum.

Hofmeister: Es gibt nicht mehr viel Interesse aus dem politischen Lager an einer funktionierenden Selbstverwaltung aus den beschriebenen Gründen. Ich glaube auch, dieses Nicht-durchregieren-Können, das schmerzt viele. Das ist ja auch der Ständigen Impfkommission passiert. Man hat sie extra gegründet, um sie unabhängiger zu machen und in Coronazeiten hat man dennoch versucht durchzuregieren.

Steiner: Ich glaube, dass die Selbstverwaltung im Gemeinsamen Bundesausschuss zu Unrecht als zu langsam und ineffizient wahrgenommen wird. Die Sonderregelungen in der Pandemie haben gezeigt, dass es schnell gehen kann. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen: Wenn Dinge in der Selbstverwaltung nicht klappen, wie jetzt zum Beispiel bei der Vereinbarung der TI-Finanzierung, bei der wir die Erstattung der Kosten für Betrieb und Ausstattung der Telematikinfrastruktur auf Monatspauschalen umstellen müssen, dann liegt das an der unrealistischen Erwartungshaltung der Politik, der wir gegenüberstehen. Die Prognose der Politik, Pauschalen würden automatisch zu sinkenden Marktpreisen führen, ist falsch, denn es gibt keinen echten Markt. Da ist die Selbstverwaltung von der Politik abhängig.

Das Interview führten Rebecca Beerheide und Michael Schmedt.

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