POLITIK
Eröffnung des 127. Deutschen Ärztetages: Zwischen Distanz und dem Willen zur Zusammenarbeit
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Im Vorfeld der kommenden Reformen im Gesundheitswesen bot die Ärzteschaft der Gesundheitspolitik ihre Expertise an. Aber man sei keine Lobbyorganisation, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach meint. Dieser schlug versöhnliche Töne an, schwieg aber zur Zukunft der GOÄ.
Emotionen pur: Zur Eröffnung des 127. Deutschen Ärztetages ertönte in der Essener Philharmonie das Steigerlied – die Hymne des Ruhrgebietes sowie aller Bergbauregionen im deutschsprachigen Raum, der dazugehörigen Fußballclubs, gesungen von Studentenverbindungen und auf SPD-Parteitagen. Mit dem Volkslied – das seit Anfang 2023 im bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes steht – wird an die gefährliche Arbeit der Bergleute gedacht, die nach ihrer Arbeit hofften, wieder das Tageslicht zu sehen. Solidarität und Zusammenhalt der Gesellschaft war ein Stichwort für die diesjährige Eröffnung des Ärztetages: Sei es bei der weiteren Unterstützung der Ukraine oder den bevorstehenden Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen, für die nun zügige Reformen erfolgen müssen. „Glück auf“-Rufe gab es auch vom Präsidenten der diesjährigen gastgebenden Landesärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, der das Steigerlied als „passend für die Gesundheitspolitik für die nächsten 20 Jahre“ bezeichnete.
Denkfabriken der Ärzteschaft
Naturgemäß sind Ärzteschaft sowie Landes- und Bundespolitik in lebhaften Diskussionen darüber, wie anstehende Probleme gelöst werden könnten und welche Beteiligung die jeweiligen Gruppen an Reformprozessen bekommen sollen. So betonten Henke sowie der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, dass die Ärzteschaft, aber auch die Vertreterinnen und Vertreter der Krankenkassen oder der Krankenhäuser, keine „Lobbyisten“ seien. Die Gremien der Ärztekammern sowie der BÄK seien „keine verstaubten Ausschüsse von Funktionären“, sondern „Denkfabriken für kluge Vorschläge für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens“, sagte Reinhardt unter dem Applaus des Publikums. Diese „Abqualifizierung“ (Henke) sei ein „politischer Fehler“ (Reinhardt) und dürfe so nicht fortgeführt werden. Dafür sei der Reformdruck im Gesundheitswesen zu hoch, die Lösungsansätze aus der Ärzteschaft mit Erfahrungswissen bereits intensiv ausgearbeitet. Als Beispiel nannte der BÄK-Präsident die Coronapandemie, in der die Ärzteschaft pragmatische Lösungen gefunden und flexibel auf neue Herausforderungen reagiert habe. „Vor allem haben wir bewiesen, dass es einen echten Mehrwert hat, wenn die Ärzteschaft eng in die wichtigen, die Gesundheit der Menschen betreffenden Entscheidungen einbezogen wird.“
Die Kritik aufnehmend, drückte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sein hohes Maß an Wertschätzung für die ärztliche Selbstverwaltung aus. Ein „Lobbyismus für bessere Gesundheitsversorgung“ sei nicht ehrenrührig – in diesem Sinne begreife er die Selbstverwaltung als Partner. Sein Dank an die Ärzteschaft für die Arbeit in der Pandemie sprach er erneut aus – und mahnte, dass die Pandemie für die meisten zwar vorbei sei, aber die Folgen mit Blick auf die psychische Gesundheit der Kinder sowie der Long-COVID-Betroffenen noch lange nicht. Lauterbach kam an dem Morgen aus der Ferne nach Essen: „Noch nie bin ich so lange zu einem Ärztetag angereist“ – er kam direkt aus der japanischen Stadt Nagasaki, wo er am Gesundheitsministertreffen der G7-Staaten teilgenommen hatte. In Japan sei die Bevölkerung bereits älter als in Deutschland und dort werde schon sichtbar, wie sehr man mehr ärztliches und pflegerisches Personal für die Versorgung der Menschen benötige. Die anstehende Krankenhausreform sei dabei ein Schritt, die Versorgung sowie die Struktur des Personals in Krankenhäusern zu verbessern, so Lauterbach.
BÄK-Präsident Reinhardt warb dafür, die in der Versorgung praktisch Tätigen von Beginn an mit einzubeziehen, damit die Reform auch nur einen Hauch einer Chance hat. Er verwies darauf, dass in Nordrhein-Westfalen (NRW) die Selbstverwaltung bei den bereits eingeleiteten Reformen im Bereich der Krankenhausplanung frühzeitig und intensiv involviert wurde – dies hatte auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) in seinem Grußwort an den Ärztetag betont. Es habe im bevölkerungsreichsten Bundesland nun drei Jahre für den Reformprozess benötigt. Und am Ende stünden „keine Doppelstrukturen auf kleinstem Raum, keine kleinen Fallzahlen mit womöglich schlechter Qualität“, wie Laumann betonte. Gleichzeitig sei ihm als Landesminister wichtig, dass „alle Menschen in akzeptablen Zeiten Zugang zum Gesundheitswesen und zu den Leistungen bekommen“.
NRW als Vorbild
Den Prozess in NRW bezeichnete Reinhardt als vorbildlich – inhaltlich und prozedural, auch für die Reformen im Bund. Der Einbezug der Selbstverwaltung sei für die Politik zwar manchmal unbequem, aber notwendig, weil weder ein Ministerium allein noch eine von der Regierung eingesetzte Kommission alle möglichen Auswirkungen einer Reform antizipieren können. Dies gelte bei der Krankenhausreform beispielsweise für die Folgen der geplanten Versorgungsstufen auf die ärztliche Weiterbildung. Da mit den vorgesehenen Leistungsgruppen nicht mehr an allen Weiterbildungsstätten die volle Weiterbildungszeit angeboten werden könnten, müssten die Leistungsgruppen „medizinisch sinnvoll zugeschnitten und an der Systematik der ärztlichen Weiterbildungsordnung ausgerichtet werden“, so Reinhardt. Daher müssten die Landesärztekammern sowie die BÄK frühzeitig in den Reformprozess einbezogen werden. Zudem müssten die Auswirkungen der Reform unter Einbindung der Akteure aus der Versorgung auf den vertragsärztlichen Bereich mitgedacht werden. Ein Verdrängungswettbewerb zwischen den Sektoren dürfe es nicht geben, warnte Reinhardt. Grundsätzlich habe er den Eindruck, dass die Ampelregierung wenig Interesse an der Sicherung und Förderung der wirtschaftlich selbstständigen vertragsärztlichen Praxis hat. „Hier scheint aus dem Blick geraten zu sein, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen und ihre Teams einen ganz wesentlichen Teil der Patientenversorgung in Deutschland sicherstellen. Und wenn dann die Politik den ambulanten Sektor in den Blick nimmt, dann um zu kürzen und zu streichen“, so der BÄK-Präsident. Beispiel sei die Streichung der Neupatientenregelung, die „versorgungspolitisch völlig unsinnig“ war und „eine Verunsicherung derer, die mit dem Gedanken spielen, sich selbstständig zu machen“. Ein weiteres Beispiel sei die Digitalisierung in den Praxen: „Die Ärztinnen und Ärzte sind guten Willens und offen für digitale Anwendungen“, sagte Reinhardt. „Viele sind aber nach wie vor frustriert, weil die Technik nicht stabil funktioniert und die Medienbrüche noch zahlreich sind.“ Es fehle an Checks auf Praxistauglichkeit. „Politik und Industrie sollte klar sein, dass Arztpraxen und Kliniken keine Versuchslabore für unausgereifte Technik sind. Für unzureichende technische Lösungen haben wir einfach keine Zeit.“
Während man es den Ärztinnen und Ärzten in der ambulanten Versorgung immer schwerer mache, plane das Bundesgesundheitsministerium den Aufbau von teuren Parallelstrukturen wie Kiosken, Nurses oder neuen Lotsenberufen. Statt damit neue Schnittstellen und Abstimmungsprobleme zu verursachen, sei Lauterbach aufgerufen, die Praxen zu stärken. „Erleichtern Sie es den Praxen, mit qualifizierten Mitarbeitern aus unterschiedlichen Gesundheitsberufen eine koordinierte Versorgung zu leisten.“ Der eindringliche Appell Reinhardts: „Und machen Sie endlich Schluss mit der Budgetierung – nicht nur für einzelne Arztgruppen, sondern für alle!“
Auch die Ärzteschaft wisse, dass die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) konsolidiert werden müssen, „allerdings nicht zulasten der niedergelassenen Haus- und Fachärzte und ihrer Mitarbeiter“. Daher hatte Reinhardt „schnell einige kurze Vorschläge“ parat, wie sich das System besser finanzieren lasse: So müsse der Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds zur vollständigen Refinanzierung aller versicherungsfremden Leistungen in der GKV beitragen und der Bundeszuschuss dynamisiert werden. Auch die Kosten der GKV für Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld, müssten ausfinanziert werden. Ebenso sollten Teile der Genussteuern auf Alkohol und Tabak als zweckgebundene Gesundheitsabgabe für die GKV genutzt und die Mehrwertsteuer bei Arzneimitteln gesenkt werden. „Und ich würde Sie auch zu Christian Lindner begleiten“, rief Reinhardt Minister Lauterbach zu.
Für eine bessere Zusammenarbeit mahnte Reinhardt längere Fristen für Stellungnahmen in politischen Verfahren an. Was in der Coronapandemie als Notfall noch bis zu einem gewissen Grad habe nachvollzogen werden können, sei nun nicht mehr verständlich. Bei Stellungnahmefristen von gelegentlich nur wenigen Stunden sei es nicht mehr möglich, die komplexen Anträge zu lesen und zu durchdringen, so Reinhardt. Das gelte nicht nur für die Organisationen des Gesundheitswesens, sondern auch für die Abgeordneten. „Ich halte eine solche Pro-forma-Beteiligung des Parlaments und der organisierten Zivilgesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz politischer Entscheidungen für demokratiegefährdend“, sagte Reinhardt unter tosendem Applaus.
GOÄ-Reform angemahnt
Dringend notwendig sei es auch, den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich zu Rechtssicherheit in der privatärztlichen Abrechnung zu verhelfen. Die Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) müsse auf den Weg gebracht werden, forderte Reinhardt. „Beenden Sie die unwürdige Blockadehaltung in Sachen GOÄ und bringen Sie endlich diese Reform auf den Weg.“ Die notwendigen Vorarbeiten habe man zusammen mit PKV und Beihilfe für den Verordnungsgeber erledigt. Nun vonseiten des Ministers auf die Einigung zwischen PKV und BÄK zu warten sei „Zeitspiel“. „Die GOÄ ist eine staatliche Verordnung. Als Verordnungsgeber ist es Ihre Pflicht, auch gegenüber Patientinnen und Patienten und der Ärzteschaft sowie der Kostenträger, eine transparente und rechtssichere Abrechnung privatärztlicher Leistungen auf Grundlage einer stets aktuellen Gebührenordnung sicherzustellen.“ Daher sei die „Geduld der Ärztinnen und Ärzte“ nun zu Ende.
Auf die seit Langem von der Ärzteschaft geforderte GOÄ-Reform ging Bundesgesundheitsminister Lauterbach in seiner anschließenden Rede nicht ein. Gerade zurückgekehrt vom Ministertreffen der G7-Länder in Japan, appellierte er noch einmal, dass der Krieg in der Ukraine schnell beendet werden müsse. Zuvor hatte schon Reinhardt das Engagement der deutschen Ärztinnen und Ärzte bei der Unterstützung von Flüchtlingen in Deutschland, die medizinische Versorgung sowie die ehrenamtlichen Angebote zur Hilfe vor Ort betont. Lauterbach skizzierte seine geplanten Regierungsprojekte: Er wolle wieder die Ideale wecken, mit denen viele junge Menschen in den Arztberuf starten – die dann aber in der derzeitigen „überdrehten Ökonomisierung“ oft zu früh verloren gehen. Um die Freiberuflichkeit im ambulanten Versorgungsbereich zu stärken, solle die Entbudgetierung nach den Kinder- und Jugendärzten auch für die Hausärzte kommen. Auch eine Entbürokratisierungsinitiative sowie sein persönliches Engagement für zusätzliche 5 000 Medizinstudienplätze kündigte Lauterbach erneut an. Im „Schulterschluss“ mit der Ärzteschaft sieht sich Lauterbach beim Thema investorenbetriebene Medizinische Versorgungszentren (MVZ). An der Einführung der MVZ war er als Berater der früheren Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) beteiligt, nun müssten die „Fehlentwicklungen“ in diesem Bereich beendet werden. Zuvor hatte BÄK-Präsident Reinhardt betont, wie sehr die Ärzteschaft dieses Thema bereits seit 2017 auf dem 120. Deutschen Ärztetag in Freiburg vorangetrieben habe. Im Nachgang der Debatte wurde eine „hochkarätig besetzte Arbeitsgruppe zu dem Thema gebildet“ und Expertinnen und Experten dazu eingeladen. Konkrete Vorschläge habe die BÄK dann im Januar 2023 vorgelegt und diskutiert. „Aus der Politik kam eine durchweg positive Resonanz, von den Betreibern großer investorenbetriebener MVZ erwartungsgemäß scharfe Kritik“, erklärte Reinhardt. „Wir werten das als Bestätigung der Wirksamkeit unserer Vorschläge.“ Auch im Bundesrat würde die Thematik schon diskutiert. Dabei seien MVZ „grundsätzlich eine sehr sinnvolle Ergänzung der ambulanten Versorgungsstrukturen“, bekräftigte Reinhardt. „Und deshalb ist es so wichtig, MVZ als sinnvolle Versorgungsoption vor einer investorengesteuerten Kommerzialisierung zu bewahren.“
Insgesamt beschrieb Minister Lauterbach den „roten Faden“ seiner Tätigkeit als Abarbeitung „der Versäumnisse der letzten zehn Jahre“. Neben den fehlenden Studienplätzen seien dies auch die Lieferengpässe bei Arzneimitteln, die beschriebene Situation bei den MVZ, die schwierigen Strukturen bei Krankenhäusern sowie die „überdrehte“ Ökonomie des Gesundheitswesens. Er halte sich nicht mit Rückblicken auf, schließlich habe seine Partei in den vergangenen zehn Jahren zeitweise mitregiert.
Daher sprach Lauterbach in Richtung der gesamten Ärzteschaft die Einladung aus, an diesen „Baustellen“ im Gesundheitswesen gemeinsam zu arbeiten – diese Einladung nahm Reinhardt im Namen der BÄK an. Rebecca Beerheide,
André Haserück
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