ArchivDeutsches Ärzteblatt21-22/2023Digitalisierung: Strategische Neuausrichtung versorgungsorientiert umsetzen

DEUTSCHER ÄRZTETAG

Digitalisierung: Strategische Neuausrichtung versorgungsorientiert umsetzen

Haserück, André; Lau, Tobias

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Die Delegierten des 127. Deutschen Ärztetages begrüßten die Digitalstrategie der Bundesregierung – zumindest prinzipiell.
Die Delegierten des 127. Deutschen Ärztetages begrüßten die Digitalstrategie der Bundesregierung – zumindest prinzipiell.

Die Digitalisierungsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums hat viel Potenzial und setzt den Fokus auf Patienten und Anwenderfreundlichkeit. Doch die Ärzteschaft sieht auch drohende Probleme, die nicht nur teuer werden, sondern auch dem Arzt-Patient-Verhältnis schaden könnten.

Der 127. Deutsche Ärztetag begrüßt die angekündigte Ausrichtung der Digitalisierungsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf die Verbesserung der Versorgungsprozesse sowie nutzerorientierte Technologien und Anwendungen. Diesen Worten müssten nun allerdings Taten folgen, forderte der Berliner Ärztekammerpräsident Dr. med. Peter Bobbert. Die explizit in der Strategie angekündigte – und immer wieder von der Ärzteschaft eingeforderte – Neuorientierung sieht der Ärztetag als positiven Impuls für eine Weiterentwicklung hin zu einer praxistauglichen Telematikinfrastruktur (TI), wie es der 126. Deutsche Ärztetag 2022 in Bremen gefordert hatte.

Patienten in den Fokus stellen

In der Vergangenheit sei bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens der Kardinalfehler begangen worden, den Fokus zu sehr auf administrative Prozesse zu legen, erklärte Bobbert. In der Digitalstrategie der Bundesregierung sei allerdings zu erkennen, dass sie den Fokus wieder auf den Nutzen für die Patienten lege: „Da steht der Mensch im Mittelpunkt dieser Digitalstrategie und das kann man nur befürworten.“

Es sei nun Zeit, an einem Strang zu ziehen und den enormen Rückstand, den Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn hat, endlich aufzuholen. Elektronisches Rezept (E-Rezept) und elektronische Patientenakte (ePA) würden in vielen Ländern schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren genutzt. „Im digitalen Zeitalter sind 20 Jahre ein Jahrhundert“, mahnte er. Ein „problematisches Signal“ stelle allerdings die vom BMG vorgesehene Neuaufstellung der gematik in 100-prozentiger Trägerschaft des Bundes dar. „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum das so gemacht wird. Es ist ein falsches Zeichen“, kritisierte Bobbert.

Selbstverwaltung in der gematik

Wenn die bisherigen Gesellschafter ganz aus der gematik ausgegrenzt werden sollen, passe das nicht zu der angekündigten Stärkung der Nutzerorientierung, betonten die Delegierten und lehnten dies strikt ab. Wolle man die Identifikation mit TI-Projekten stärken, müsse die Expertise der Ärzteschaft bei der Weiterentwicklung eingebunden werden – etwa bei der Auswahl und Priorisierung von neuen Anwendungen, Qualitätskriterien oder auch Einführungsfristen.

Die zukünftige Digitalagentur benötige hierzu passende Beratungs- und Entscheidungsstrukturen. In diesem Sinne fordert der Ärztetag die Einrichtung eines Nutzerpanels von Ärzten und Patienten, welches die Entscheidungsprozesse begleiten soll. Dies unterstrich Erik Bodendieck, Präsident der Landesärztekammer Sachsen. Man müsse einfordern, „dass wenigstens ärztlicher Sachverstand dort mit einfließt und nicht nur politische Kriterien.“

Die Delegierten forderten von der gematik, diese müsse eine Roadmap mit „realistischen Planungsannahmen und priorisierten medizinischen Anwendungen“ entwickeln. Diese Planung solle dann die bisherigen gesetzlich vorgegebenen Einführungstermine und Vorgaben bezüglich einzelner digitaler Anwendungen ersetzen. Zudem solle die Digitalisierungsstrategie durch eine „Implementierungs- und Kommunikationsstrategie“ begleitet werden. Angesichts der Dimension des Gesamtvorhabens brauche es eine breite Öffentlichkeitskampagne, so der Ärztetag.

Peter Bobbert (links) und Erik Bodendieck mahnten, dass das deutsche Gesundheitswesen seinen Digitalisierungsrückstand endlich aufholen müsse.
Peter Bobbert (links) und Erik Bodendieck mahnten, dass das deutsche Gesundheitswesen seinen Digitalisierungsrückstand endlich aufholen müsse.

Wahrnehmung ändern

Dazu gehöre auch, sagte Bobbert, die öffentliche Wahrnehmung bezüglich einiger scheinbarer Kontroversen zu verändern. So werde in der Debatte über die Nutzung von Gesundheitsdaten aus der ePA, beispielsweise im geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), mit falschen Kategorien argumentiert.

Es müsse enden, dass Gegner der geplanten Datennutzung mit Schlagwörtern wie der Nutzung durch Pharmaindustrie oder einem theoretischen Zugriff der Politik auf diese Daten argumentieren: „Ich warne davor, dass man das so macht. Das zu dämonisieren, halte ich für unklug“, sagte er. Wenn man beispielsweise der pharmazeutischen Forschung die Datennutzung verweigere, werde sie sich schlicht noch mehr ins Ausland verlagern: „Und dann müssen wir es uns von dort holen“, so Bobbert. Dr. med. Sven Dreyer von der Ärztekammer Nordrhein teilte diese Einschätzung und beklagte, Deutschland sei bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen „ganz weit hinten“. Wolle man grundsätzlich eine Opt-in-Regelung bei der ePA umsetzen, werde man da auch bleiben – es fehle schlicht an Daten, wie auch die Coronapandemie gezeigt habe.

Mit einer möglichst aufwandsarmen Dateneingabe und -verwaltung setzten sich die Ärztetagsdelegierten eingehend auseinander. Der Gesetzgeber sei aufgerufen, verbindliche IT-Standards bei der Datenerfassung vorzugeben. In einem entsprechenden Beschluss des Ärztetages heißt es, diese Standards für IT-Hersteller, Register, Qualitätssicherungsinstitutionen und weitere am Gesundheitswesen teilnehmende Institutionen müssten für die Dokumentation von administrativen sowie medizinischen Daten gelten.

Insbesondere Krankenhausinformations- (KIS) und Praxisverwaltungssysteme (PVS) müssten über geeignete Funktionen verfügen, um automatisierte Abläufe bei der Datenverwaltung zu ermöglichen – selbiges gelte für Subsysteme. Andernfalls entstehe unnötiger bürokratischer Aufwand, warnten die Delegierten. Auch gesetzgeberische Vorgaben zur Qualitätssicherung dürften nur dann umgesetzt werden, heißt es im Beschluss, wenn diese Standards mit dem Ziel nur einer einmaligen Eingabe erfüllt sind. Alle Dokumentationen, die diese Standards nicht erfüllen, seien auszusetzen.

Probleme in der Umsetzung

Über Schwierigkeiten mit der neuen Technik im Praxisbetrieb klagte Dr. med. Irmgard Landgraf aus Berlin. Man brauche digitale Unterstützung in den Praxen, allerdings werde es der Ärzteschaft schwer gemacht. „Die Anwendungen der Telematikinfrastruktur sind nicht immer praxistauglich“, kritisierte sie.

Trotz allem sei Digitalisierung im Gesundheitswesen erforderlich. So habe sich beispielsweise die Videosprechstunde in der Coronapandemie sehr bewährt und sollte als Instrument gestärkt werden. Einen dahin gehenden Antrag verabschiedeten die Delegierten für die Betriebsmedizin: Dort sollen demnach telemedizinische Verfahren wie Videokonsile und Videosprechstunden in zukunftsweisenden Modellprojekten zügig weiterentwickelt, erprobt und evaluiert werden. So könne man beschreiben, unter welchen Rahmenbedingungen eine betriebsärztliche telemedizinische Betreuung möglich ist und wann ein persönlicher Besuch am Arbeitsplatz notwendig wird.

Zugriffsrechte und Datenschutz

Claudia Ritter- Rupp (oben) und Irmgard Landgraf (unten): Trotz bestehender Probleme soll die Digitalisierung mitgestaltet werden.
Claudia Ritter- Rupp (oben) und Irmgard Landgraf (unten): Trotz bestehender Probleme soll die Digitalisierung mitgestaltet werden.

Ein weiteres Thema, das viele Delegierte umtrieb, war das Verhältnis von Patient und Arzt im digitalen Zeitalter: So forderten sie ein gesetzlich verankertes Diskriminierungsverbot für Krankheitsdaten aus der ePA. Bislang hätten Dritte nur über eine Arztanfrage auf ärztlich erhobene Patientendaten zugreifen können. Mit der ePA drohe sich dies zu ändern – von privaten Versicherern bis hin zu kommerzieller Forschung könnten auch im Rahmen des EHDS zahlreiche Akteure Interesse anmelden.

Damit dadurch das Patientenwohl nicht gefährdet wird, brauche es ein Diskriminierungsverbot für ärztlich erhobene Daten, betonte der Ärztetag. Außerdem, so beschlossen sie in weiteren Anträgen, müsse bei der Ausgestaltung des EHDS das Recht der Patienten auf informationelle Selbstbestimmung stärker als bisher berücksichtigt werden – sie müssten die Möglichkeit haben, der Datenweitergabe zu widersprechen, ohne dass ihnen dabei Nachteile entstehen. Auch müsse die unerwünschte Re-Identifizierung einer Person anhand ihrer Gesundheitsdaten verboten und wirksam sanktioniert werden.

Die Bundesregierung müsse sich intensiv mit dem Verordnungsentwurf der EU-Kommission zum EHDS befassen und sich dafür einsetzen, dass dieser nicht zu einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung in Deutschland führt und etablierte Datenschutzstandards zulasten des Einzelnen abgesenkt werden. Das auf Vertrauen aufbauende besondere Arzt-Patient-Verhältnis dürfe keinesfalls durch die aus dem EHDS resultierenden Pflichten gefährdet werden. Das unterstrich auch Dr. med. Claudia Ritter-Rupp aus Bayern. Sie neige nicht dazu zu dämonisieren, aber die vorliegenden Pläne würden einen „Angriff auf die ärztliche Schweigepflicht“ darstellen und drohten das vertrauensvolle Arzt-Patient-Verhältnis negativ zu beeinflussen, warnte sie.

„Wir dürfen nicht den Fehler begehen, den Datenschutz gegen die Datennutzung auszuspielen.“ Die Patientensouveränität müsse gewahrt werden, so Ritter-Rupp. Dazu gehört nach Sicht der Delegierten auch das sogenannte feingranulare Zugriffsmanagement in der ePA, also die Möglichkeit, je nach Datensatz zu entscheiden, welcher Arzt ihn sehen darf oder eben nicht. Zugriffsberechtigungen müssen auch feingranular auf bestimmte Kategorien von Daten und einzelnen Dokumenten vergeben werden können, fordern sie.

Das gelte auch für die Forschung: Die betroffenen Personen müssten ein voraussetzungsfreies, niederschwelliges Widerspruchsrecht haben. Ohne ihre Zustimmung dürften gesundheitsbezogene Daten weder für die Gesundheitsforschung noch für die Politik verfügbar gemacht werden.

Patientenrechte beachten

Die Patientenrechte, die sich aus der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ergeben, müssten gewahrt bleiben, so die Delegierten. Dabei müssten bürokratische Mehraufwände in Kliniken und Praxen möglichst vermieden und anfallende Aufwände adäquat vergütet werden. Deutschland müsse sich in all diesen Punkten engagieren, wenn der EHDS auf europäischer Ebene ausgehandelt wird. Zwar begrüße die Ärzteschaft eine beschleunigte, sich europaweit angleichende Digitalisierung des Gesundheitswesens, aber nur, wenn sie sich an einem klar erkennbaren Nutzen für die Patienten orientiere.

„Die ePA kommt und sie ist auch sinnvoll“, betonte Bodendieck. Allerdings müssten diejenigen Ärzte, die sich bereit erklären, „am Anfang in den ganzen Wirrnissen“ und trotz etwaiger technischer Schwach- und Fehlerstellen mitzumachen, auch für ihren Mehraufwand entlohnt werden.

André Haserück, Tobias Lau

Fazit

TOP Vc – Sachstandsbericht: Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung

  • Die Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministeriums muss versorgungsorientiert umgesetzt werden.
  • Die gematik soll eine Roadmap mit Planungsannahmen und priorisierten medizinischen Anwendungen entwickeln.
  • Die Digitalisierung muss durch eine Implementierungs- und Kommunikationsstrategie begleitet werden.
  • Der Gesetzgeber soll verbindliche IT-Standards bei der Datenerfassung vorgeben.

Die Entschließungen zu den TOP Vc im Internet: www.aerzteblatt.de/2023top5c
Das gesamte Beschlussprotokoll im Internet: http://daebl.de/HR63

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