ArchivDeutsches Ärzteblatt23/2023Hausarztzentrierte Versorgung: Nicht ausgeschöpftes Potenzial

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Hausarztzentrierte Versorgung: Nicht ausgeschöpftes Potenzial

Lau, Tobias

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Im Jahr 2008 wurde in Baden-Württemberg die Hausarztzentrierte Versorgung aus der Taufe gehoben. 15 Jahre später ziehen die Vertragspartner eine durchweg positive Bilanz und wollen ihr Versorgungsmodell mithilfe des Gesetzgebers weiter stärken.

Die Hausarztzentrierte Versorgung gilt als Erfolgsmodell, wird aber noch nicht flächendeckend angeboten. Foto: bnenin/stock.adobe.com
Die Hausarztzentrierte Versorgung gilt als Erfolgsmodell, wird aber noch nicht flächendeckend angeboten. Foto: bnenin/stock.adobe.com

Vor allem ältere Chroniker mit Erkrankungen wie Diabetes, Asthma, der Chronisch Obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) oder koronaren Herzerkrankungen profitieren von der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) – und zwar in zunehmendem Maße. Zu diesem Ergebnis kommen aktuelle Auswertungen, die die HzV-Vertragspartner in Baden-Württemberg kürzlich vorgestellt haben.

„Die Qualitätsschere zwischen HzV und Regelversorgung öffnet sich immer weiter“, erklärte Professor Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt, bei der Vorstellung der Bilanz von 15 Jahren HzV. Von Anfang an, also seit Mai 2008, haben Gerlach und Professor Dr. med. Joachim Szecsenyi, langjähriger ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg, die Auswirkungen der Selektivverträge auf Vollversorgungsbasis analysiert. „Es gibt in Deutschland wohl keine Versorgungsintervention, die jemals so breit, so intensiv und zugleich über so einen langen Zeitraum evaluiert wurde“, unterstrich Gerlach. Ihre Untersuchungen hätten signifikante Ergebnisse hervorgebracht, betonten beide.

Weniger Komplikationen

So würden Hochrechnungen für die Jahre 2011 bis 2020 zeigen, dass bei 119 000 Diabetikern über 11 000 schwerwiegende Komplikationen vermieden werden konnten. Demnach seien unter anderem rund 350 Fälle neu aufgetretener Erblindung, 2 250 Schlaganfälle vermieden worden. Auch Nierenschäden und Amputationen seien deutlich seltener vorgekommen als bei vergleichbaren Patientinnen und Patienten in der Regelversorgung. „Das ist ein wirklich relevantes Ergebnis“, betonte Gerlach. Schließlich würden diese Komplikationen nicht nur teils extreme und lebenszeitverkürzende Beeinträchtigungen bedeuten, sondern auch hohe Folgekosten verursachen.

„Mitverantwortlich ist dafür sicherlich auch die um 20 Prozent höhere Teilnahme am Disease-Management-Programm Diabetes, die in der HzV ja gezielt angereizt wird“, mutmaßte er. Die Versorgung werde so strukturierter und kontinuierlicher, was ja gerade bei Chronikern wichtig sei. Es entstehe eine „umfassende, qualitätsorientierte Versorgungssteuerung“. So habe es allein im Jahr 2020 zwei Millionen Hausarztkontakte mehr und 1,9 Millionen unkoordinierte Facharztkontakte ohne Überweisung weniger gegeben. Insgesamt betreuen in Baden-Württemberg 5 400 Ärztinnen und Ärzte 1,78 Millionen AOK-Versicherte in der HzV. „Wir sehen über die Jahre, dass die Zahl unkoordinierter Facharzttermine bei Menschen, die an der HzV teilnehmen, kontinuierlich abnimmt“, betonte Szecsenyi. Gleiches gelte für die Zahl der Hospitalisierungen: Allein 2020 habe es unter HzV-Teilnehmern 27 000 Krankenhauseinweisungen, 125 000 Krankenhaustage sowie 5 500 Wiedereinweisungen weniger gegeben als in einer Vergleichsgruppe, die an der Regelversorgung teilnahm.

Ähnlich sehe es bei der Medikation aus: Nicht nur habe es speziell in der Polymedikation rund 6 500 Verordnungen potenziell inadäquater Medikamente weniger gegeben, auch mit Blick auf die Medikamentenkosten seien positive Effekte zu sehen. „Das wird auch durch die beispielhafte Qualitätszirkelarbeit innerhalb der HZV unterstützt“, erklärte Szecsenyi. „Die HzV in Baden-Württemberg ist die einzige große Versorgungslandschaft, wo Ärzte regelmäßig ein Feedback zu ihrem Medikamenteneinsatz bekommen.“ Bei anderen Krankheitsbildern lasse sich ähnliches beobachten.

Delegation und Zusammenarbeit

Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, sieht das Konzept als Schlüssel zu einer effizienten Nutzung der begrenzten Ressourcen angesichts der demografischen Entwicklung. „Als die Innovationsküche im Gesundheitswesen ist die HzV schneller und flexibler, was die Implementierung zukunftsfähiger Konzepte angeht“, erklärte sie. 38 Prozent der Hausärzte in Baden-Württemberg seien bereits über 60 Jahre. Dabei gäbe es bereits jetzt 800 zu wenig. „Wir setzen auf die Ausweitung der Delegation und auf interprofessionelle Versorgung. Die HzV war auch hier Vorreiterin.“ Schon als in Baden-Württemberg vor 15 Jahren die bundesweit ersten HzV-Verträge unterzeichnet worden seien, sei mit dem Konzept der Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH) der Grundstein für weitere Delegationskonzepte gelegt worden. Es habe sich in den Auswertungen gezeigt, dass HzV-Praxen mit einer VERAH nachweislich eine intensivere und besser koordinierte Versorgung bei dauerhaft höherer Versorgungskontinuität bereitstellen, erklärte auch Szecsenyi. Das Konzept müsse deshalb konsequent weiterentwickelt werden, betonte Buhlinger-Göpfert, beispielsweise mit der akademisierten VERAH an fünf Standorten der privaten Hochschule FOM. Der VERAH-Studiengang „Primärmedizinisches Versorgungs- und Praxismanagement“ sei im Oktober des vergangenen Jahres gestartet, ab Juli folge dann noch die Förderung mit 300 Stipendien à 5 000 Euro.

Einfache Vergütung

Außerdem würden Teampraxen durch höhere Zuschläge für VERAH gefördert, nämlich mit einer Erhöhung des Zuschlags auf die Chronikerziffer P3 von fünf auf zehn Euro. Ein weiterer Zuschlag sei für die „klimaresistente Versorgung“ vereinbart worden, ergänzte Dr. med. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender des Praxisnetzwerks MEDI Baden-Württemberg. Nach einer Schulung zu Klima und Gesundheit könnten dann acht Euro je Patient und Jahr auf die Chronikerziffer P3 angerechnet werden. Hinzu komme dennoch ein neuer Zuschlag für die Beschäftigung akademisierter Mitarbeiter aus nicht ärztlichen Heilberufen. Er betrage zehn Euro auf die kontaktunabhängige Grundpauschale P1 – „wenn Sie so wollen, ein Teampraxenzuschlag“, sagte Buhlinger-Göpfarth.

„Das einfache, aber faire Vergütungssystem mit der gesunden Mischung aus Pauschale und Einzelfall-Leistung ohne Budget könnte eine Vorbild sein für das kassenärztliche Vergütungssystem“, findet auch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Ihre Mitglieder würden von der Leistung in Selektivverträgen profitieren, weil die Vergütung im Kollektivvertrag entsprechend angepasst wurde. Die KV sieht die HzV als Erfolgskonzept: Ergänzt durch die Facharztverträge sei sie „auch ein Beweis dafür, dass eine Patientensteuerung, wie wir sie auch für die Notfallversorgung fordern, insgesamt die Versorgungsqualität verbessert, sofern die niedergelassenen Arztpraxen einbezogen werden“. Hausarzt und Hausärztin hätten eine Lotsenfunktion, da sie ihre Patienten kennen und genau wissen, welche fachärztliche Versorgungsebene für sie die beste ist. Die HzV fördere so auch das Zusammenspiel zwischen Haus- und Fachärzten.

Allerdings gebe es auch Verbesserungsbedarf. Es sei wichtig und zeitgemäß, dass die HzV-Einschreibung der Patienten künftig auch in der Praxis selbst statt bei einzelnen Ärzten erfolgen kann, betonte Baumgärtner. Das sei wichtig, da die Einschreibung beim Arzt derzeit ein strukturelles Problem darstelle, das mit der Zunahme des Anteils Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) noch drängender werde. Bei Unterzeichnung der ersten HzV-Verträge 2008 habe es im ambulanten Bereich rund 12 500 angestellte Ärzte gegeben. Mittlerweile habe sich deren Zahl vervierfacht. „Wenn diese Ärzte dann wechseln, müssen sie alle Patienten umschreiben“, unterstrich er. Er habe Kontakt zu vielen Praxen, die damit Schwierigkeiten haben. „Also es gibt da ein paar bürokratische Hürden.“

Bundesweiter Ausbau

Auch die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen, HzV-Verträge anzubieten, sei nicht ausreichend, um die Zahl der teilnehmenden Patienten deutlich zu steigern. Die Vertragspartner fordern deshalb, dass Vollversorgungsverträge von der Bundespolitik durch Anschubfinanzierungen und Bonifizierungen explizit gefördert werden.

Das sei nötig, um das Modell auch bundesweit stärker auf die Straße zu bringen: 6,12 Millionen Versicherte nähmen an der HzV teil, davon seien aber fast 30 Prozent allein in Baden-Württemberg, erklärte Buhlinger-Göpfarth: „Das Potenzial ist leider noch nicht ausgeschöpft. Da geht noch was.“ Tobias Lau

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