POLITIK
Digitalisierung: Medizinische Apps in die Versorgung integrieren
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Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat viele Gesichter – eins davon sind medizinische Apps. Die Bundesärztekammer hat Positionen erarbeitet, die aus ihrer Sicht für eine erfolgreiche Integration digitaler Anwendungen in ärztliche Behandlungskonzepte umgesetzt werden müssen.
Medizinische Apps und Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) können sowohl bei der Diagnose als auch in der Therapie eine sinnvolle Ergänzung der ärztlichen Tätigkeit sein. Die Chancen, die sich daraus ergeben, nimmt die Ärzteschaft zwar wahr. Allerdings stellen sich bezüglich der wirkungsvollen Implementierung solcher Anwendungen in die medizinische Versorgung einige Fragen. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat dazu nun ein Positionspapier erarbeitet, das Empfehlungen samt konkreter Anforderungen der Ärzteschaft an einen erfolgreichen Einsatz medizinischer Apps gegenüber Politik und Herstellern enthält.
Vor anderthalb Jahren hatte der Vorstand der BÄK den von den Präsidenten der Ärztekammern Sachsen und Berlin, Erik Bodendieck und Dr. med. Peter Bobbert, geleiteten Ausschuss „Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung“ beauftragt, die konkreten Auswirkungen der Digitalisierung auf das ärztliche Handeln zu untersuchen. „Das ist ein relativ umfangreiches Verfahren, das wir in den anderthalb Jahren nicht geschafft hätten. Wir haben uns deshalb exemplarisch mit dem Thema medizinische Apps mit dem Schwerpunkt auf Digitale Gesundheitsanwendungen befasst“, erklärte Bodendieck bei der Vorstellung des Papiers auf dem 127. Deutschen Ärztetag in Essen. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht, wir haben oft darüber diskutiert, wir haben immer wieder den deutschen und den europäischen Rahmen sowie verschiedene wissenschaftliche Ausarbeitungen dazu abgleichen müssen.“
Unüberschaubarer Markt
Der Markt der Apps sei mittlerweile unüberschaubar groß. Schätzungen zufolge sind derzeit zwischen 90 000 und 130 000 digitale Gesundheitsanwendungen für mobile Endgeräte verfügbar. Welche Apps man dazu zählt und welche nicht, ist dabei schon das erste Definitionsproblem. „Es gibt keine verbindlichen Abgrenzungen schon allein zwischen den Bereichen Gesundheit, Wellness oder medizinische Apps“, betonte Bodendieck. Hinzu komme: Wer eine Smartwatch trägt, habe oft noch über die zugehörigen Apps Verknüpfungen zu Anwendungen anderer Hersteller. „Auch da ist das Feld also sehr inhomogen“, merkte er an. Jeder müsse deshalb für sich selbst entscheiden und sich fragen, wie viel Wert sie oder er auf einen datenschutzrechtlich einwandfreien Umgang mit den eigenen Daten legt.
Die gesetzliche Einführung der DiGA, heißt es dazu im Positionspapier der BÄK, habe bereits zu einer deutlichen Verbesserung von Transparenz und Qualität bei den medizinischen Apps geführt: Datenschutz, Interoperabilität, Transparenz und auch medizinische Wirksamkeit dieser Apps würden nun erstmals strukturiert untersucht. Diese Fortschritte sollten laut BÄK möglichst auf alle digitalen Anwendungen, die in Diagnostik und Therapie am Patienten eingesetzt werden, ausgeweitet werden.
Alle Apps mit Gesundheitsbezug zu untersuchen, sei schon wegen der Größe des Marktes schlicht nicht möglich gewesen, betonte Bodendieck. Doch es gebe ein Abgrenzungskriterium, das man heranziehen könne: „Wir haben geschaut, bei welchen Angeboten es sich lohnt, sich weiter mit ihnen zu befassen, und sind darauf gekommen, dass wir uns diejenigen anschauen, die ein Medizinprodukt darstellen.“ Dieses Kriterium sei auch relevant für die Versorgung: Falls eine App kein zugelassenes Medizinprodukt ist, aber vorgibt, medizinische Daten zu erheben, dann solle man als Ärztin oder Arzt den eigenen Patienten von der Nutzung eher abraten. Grund sei vor allem, dass man in diesem Fall schlicht nicht wisse, was mit den erhobenen Daten geschieht.
„Weder wir noch die Patientinnen und Patienten können dort die Validität der erhobenen Daten nachprüfen oder sich darauf verlassen“, betonte Bodendieck und erklärte den entscheidenden Unterschied: „Wenn es sich aber um ein Medizinprodukt handelt, ist eine Stufe erreicht, bei der wir als Ärztinnen und Ärzte relativ grundsätzlich sagen können, dass wir uns mit diesen Anwendungen befassen sollen und müssen – vor allen Dingen, wenn sie in unser jeweiliges Fachgebiet gehören.“
Das Positionspapier der BÄK fordert Ärztinnen und Ärzte auf, DiGA stärker als möglichen Bestandteil von Therapie und Diagnostik zu berücksichtigen: „Medizinische Apps und insbesondere DiGA sollten stärker in die ärztliche Therapie (Blended Therapy) integriert werden.“ Künftig sollen sie laut BÄK-Papier ein fester Bestandteil ärztlicher Arbeit werden. Auch in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung sollten die Möglichkeiten und Voraussetzungen für einen sinnvollen Einsatz von DiGA einen stärkeren Stellenwert einnehmen.
Auf das Fachgebiet schauen
Bodendieck verglich die Apps dabei mit Arzneimitteln: So wie man als Arzt nicht alle Medikamente auf dem Markt samt ihrer Wirkung kennen könne, werde man das auch bei digitalen Gesundheitsanwendungen nicht erwarten können. „Aber zumindest in Ihrem Fachgebiet sollten Sie schauen, welche Apps mittlerweile als Medizinprodukte dauerhaft oder vorübergehend zugelassen sind.“ Dabei sei es zugegebenermaßen etwas umständlich, dass man sich zu diesem Zweck mit dem DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auseinandersetzen muss. Das listet alle Apps auf, die nach § 33 a SGB V als „Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht“, zugelassen sind und zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnet werden können.
Im Moment enthält das Verzeichnis 47 DiGA, sechs weitere wurden bereits gestrichen. Das am häufigsten vertretene Indikationsgebiet sind psychiatrische und psychotherapeutische Erkrankungen, gefolgt von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems, des Nervensystems, onkologischen Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen.
Das Verzeichnis sei eine Entlastung für Ärztinnen und Ärzte, betonte Bodendieck: Denn auch wenn beim Prüfverfahren des BfArM noch Verbesserungsbedarf bestehe, habe es erstmals Transparenz bei wichtigen Fragen wie Datenschutz und Interoperabilität gebracht. Darauf könne man sich also nun verlassen, wenn man eine App von der BfArM-Liste verordnet. Und das taten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland von September 2020 bis September 2022 zusammen 164 000-mal. „Das ist für dieses neue Medium aus meiner Sicht eine beachtliche Zahl“, betonte Bodendieck ein. Allerdings verweist das Positionspapier auch auf den DiGA-Report der Techniker Krankenkasse, wonach erst vier Prozent aller Ärztinnen und Ärzte in Deutschland schon einmal eine App verschrieben haben.
Laut BÄK-Papier haben Krankenkassen etwa elf Prozent der verwendeten DiGA genehmigt, ohne dass ein Arzt eine Verordnung ausgesprochen hat. Bei den vorliegenden Zahlen lasse sich jedoch nicht unterscheiden, wie viele von den Krankenkassen mit oder ohne Rücksprache mit Ärzten verordnet wurden, erklärte Bodendieck. Patienten haben nach aktueller Gesetzeslage gegenüber ihrer Krankenkasse bei den Indikationen, die im DiGA-Verzeichnis gelistet sind, einen grundsätzlichen Anspruch auf die betreffende DiGA.
Mögliche Kostensteigerung
Was ihn auch erstaune, sei der durchschnittliche Preis von 500 Euro pro Quartal. Die Spanne ist dabei enorm und reicht von 119 Euro für eine Einmallizenz bis zu 952 Euro für 90 Tage Nutzung.
Mit den hohen Preisen, so kritisierte Bodendieck, sei die Verhältnismäßigkeit im Vergleich zu anderen medizinischen Leistungen nicht gewahrt. Das müsse sich zwingend ändern. Auch ärztliche Tätigkeiten im Zusammenhang mit digitalen Anwendungen sollten entsprechend honoriert werden, fordert die BÄK.
Zwar bleibe abzuwarten, inwieweit DiGA in den kommenden Jahren als neue GKV-Leistung zunehmende Anteile am Gesamtbudget der Krankenkassen einnehmen werden, wird im BÄK-Papier abgewogen. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes entsprachen die Verordnungen Leistungsausgaben von 55,5 Millionen Euro. Rein rechnerisch betrachtet wären aus Sicht der BÄK jedoch enorme Kostensteigerungen möglich, wenn alle Patienten, die aufgrund ihrer ICD-Diagnose eine DiGA erhalten könnten, diese auch erhielten. Zur Bewertung von Kosten-Nutzen-Aspekten und Versorgungsrelevanz von DiGA sollten deshalb neue Instrumente eingeführt werden, so die Forderung.
Fallende Preise
Allerdings dürften sich die Durchschnittspreise für DiGA künftig eher nach unten bewegen: Denn die Hersteller können ihre Preise – ebenfalls ähnlich wie bei Arzneimitteln – nur in den ersten zwölf Monaten nach Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis selbst festlegen. Seit vergangenem Jahr kommt es zu Verhandlungen zwischen verschiedenen Anbietern und dem GKV-Spitzenverband über künftige Erstattungssummen, die zuletzt zuungunsten einiger Unternehmen ausgingen: So meldete das Hamburger Unternehmen Aidhere jüngst Insolvenz an. Mit seiner Adipositas-App Zanadio, die nach Unternehmensangaben 30 000 Patienten nutzen, gehört es zu den wichtigsten DiGA-Anbietern.
Nachdem die Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband gescheitert waren, legte die zuständige Schiedsstelle kürzlich eine neue Erstattungssumme fest, die laut Aidhere weniger als die Hälfte des bisherigen Preises beträgt. Zanadio ist nun im DiGA-Verzeichnis mit einem Preis von 218 Euro geführt, bei Einführung der App waren es knapp unter 500 Euro gewesen.
Auf das Unternehmen kommen damit erhebliche Rückzahlungen zu, denn der neue Erstattungsbetrag gilt rückwirkend ab Oktober 2021. Sanierungsmaßnahmen und ein Investorenprozess sollen Aidhere noch retten, die App ist bisher weiter verfügbar und kann noch verordnet werden. Bereits im vergangen Herbst war der Anbieter Newsenselab, der die Migräne-App M-Sense anbietet, aus dem gleichen Grund in die Insolvenz gerutscht.
Mangelnde Evidenz
Doch nicht nur in der Preisgestaltung sieht die BÄK ein Problem. Zwar lägen mittlerweile erstmals Studienergebnisse vor, die eine Versorgungsverbesserung nachweisen. Allerdings entspreche die bei den DiGA erhobene wissenschaftliche Evidenz nicht dem Niveau, das andere Therapien oder Verfahren nachweisen müssen. Selbst bei DiGA, die eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) als vergleichende Studie vorgelegt haben, bestehe noch ein hohes Risiko der Verzerrung von Studienergebnissen in Bezug auf die real zu erwartenden Effekte. Demnach wäre es sinnvoll, wenn sich die Bewertung von DiGA dem Niveau der Bewertungen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrage des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) annähern würde.
Für die Weiterentwicklung von DiGA sei außerdem eine stärkere Integration in die ärztliche Arbeit notwendig. Ziel sei es, dass App, Arzt und Patient in einen gemeinsamen Austausch treten, da nur mit einem koordinierten reibungsfreien Zusammenspiel nachhaltige Effekte zu erwarten sind. Ein weiteres potenzielles Problem skizziert das Positionspapier der BÄK zusätzlich: Demnach können diagnostische oder therapeutische Empfehlungen einer DiGA gegenüber dem Patienten mit Feststellungen oder Empfehlungen des Arztes kollidieren. Das wiederum könne die Aufgabe des Arztes nach Vermittlung und Koordinierung eines Therapiekonzeptes deutlich erschweren.
Für eine ganzheitliche Behandlung eines Patienten sei es deshalb nicht sinnvoll, die Vorgaben und Empfehlungen einer App vom ärztlichen Versorgungskontext zu trennen. Auch das spreche für eine stärkere Integration in die ärztliche Therapie. Die BÄK warnt, DiGA dürften nicht zu einem eigenen Versorgungsbereich parallel zu anderen Bereichen werden. Es sollten demnach Anreize dafür geschaffen, werden, dass Hersteller versorgungsorientierte medizinische Apps entwickeln. Hier stellt das BÄK-Papier Forderungen an die Politik: Das Zulassungsverfahren der DiGA müsse deren Integration in das ärztliche Behandlungskonzept stärker berücksichtigen.
Arzt muss im Bilde sein
Es dürfe nicht passieren, dass DiGA „außerhalb unseres Therapiekonzepts von Krankenkassen oder wem auch immer verordnet werden und wir erfahren nichts davon“, betonte Bodendieck und erklärte, worauf es sonst hinauslaufen würde: „Wir könnten mit dem Patienten dann vielleicht darüber sprechen, wenn er es uns überhaupt sagt, oder irgendwann haben wir dann irgendwelche Daten vorliegen, die wir dann bewerten sollen, ohne dass wir etwas von ihrer Erhebung wussten.“ Insbesondere bei DiGA im Bereich psychischer Erkrankungen könne das dem Patienten auch Schaden zufügen. Die Politik müsse entsprechend nachsteuern. „Es sollte in unserem Interesse liegen, die gesamte Therapiehoheit in unseren Händen zu behalten“, fasste Bodendieck zusammen.
Aufgabe des Arztes bleibe dabei außerdem auch der Abgleich von externer Evidenz und der Beurteilung einer Therapie für einen einzelnen Patienten auf Grundlage der eigenen ärztlichen Erfahrungen, also interner Evidenz. Die BÄK fordert deshalb die Politik auf, die Rolle des Arztes bei der Beurteilung von digitalen Anwendungen in der Medizin für seinen Patienten zu stärken. „Zur Evidenz gehört auch die eigene ärztliche Erfahrung“, unterstrich Bodendieck.
André Haserück, Tobias Lau
Die Kernpunkte auf einen Blick
- Ärztliche Tätigkeiten im Zusammenhang mit digitalen Anwendungen sollten entsprechend honoriert werden.
- DiGA müssten stärker in die ärztliche Therapie integriert werden – ein eigener Versorgungsbereich parallel zu anderen medizinischen Bereichen dürfe nicht entstehen. Es sollten Anreize dafür gesetzt werden, dass Hersteller versorgungsorientierte medizinische Apps entwickeln.
- Aufgabe des Arztes bleibe der Abgleich von externer Evidenz und der Beurteilung einer Therapie für einen Patienten auf Grundlage der ärztlichen Erfahrungen. Die Politik sei aufgefordert, die Rolle des Arztes bei der Beurteilung von digitalen Anwendungen zu stärken.
- Eine Genehmigung der Anwendung von DiGA allein durch Krankenkassen wird von der Ärzteschaft abgelehnt. Die Politik sei aufgefordert, entsprechend nachzusteuern.
- Studien zu DiGA müssten stärker am Outcome orientiert sein – eine Orientierung an Strukturverbesserungen müsse hinterfragt werden. Um mögliche Verzerrungen von Studienergebnissen bei der Aufnahme in ein Verzeichnis auszuschließen, sei eine intensivere Untersuchung der Studien erforderlich.
- Bezüglich der Markt- und Versorgungsrelevanz müssten DiGA kontinuierlich analysiert und im realen Versorgungskontext bewertet werden.
- Die BÄK fordert den Aufbau eines eigenständigen Beobachtungs- und Meldesystems (Vigilanz-System) zu DiGA.
- Bei den Preisen für DiGA müsse die Verhältnismäßigkeit zu anderen Leistungen im Gesundheitswesen gewahrt bleiben. Um Kosten-Nutzen-Aspekte und die Versorgungsrelevanz von DiGA zu bewerten, seien entsprechende Instrumente erforderlich.