ArchivDeutsches Ärzteblatt23/2023Notfallversorgung: Verbot oder kein Verbot

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Notfallversorgung: Verbot oder kein Verbot

Beerheide, Rebecca; Maybaum, Thorsten

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Der Bundestag hat mit der Pflegereform auch eine Änderung an der Notfallversorgung beschlossen. Der Gemeinsame Bundesausschuss bekommt die Vorgabe, wie die entsprechende Richtlinie zu überarbeiten ist. Über die Interpretation sind sich Ärzte, Krankenhäuser und Politik uneinig.

Die Notfallversorgung steht seit Jahren auf der Agenda für Reformen. Foto: picture alliance/Lars Klemmer
Die Notfallversorgung steht seit Jahren auf der Agenda für Reformen. Foto: picture alliance/Lars Klemmer

Vertragsarztpraxen und medizinische Versorgungszentren (MVZ) sollen künftig keine direkte Überweisungsstelle mehr für Patienten sein, die in die Notaufnahme eines Krankenhauses gegangen sind – und dort nicht als Notfall eingestuft werden. Eine Weiterleitung oder Verweisung wäre nur noch an Notdienstpraxen in oder am jeweiligen Krankenhaus möglich. Das hat der Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalitionen beschlossen. Umsetzen soll die Vorgaben der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinen Richtlinien. Bei der Interpretation der Regelung scheiden sich die Geister. Die Vertragsärzte sehen das als Verbot, die FDP bewertet das ganz anders.

Hintergrund ist, dass der Bundestag vergangene Woche das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) in 2./3. Lesung verabschiedet hat (siehe folgenden Beitrag). Darin enthalten war auch ein Änderungsantrag zur Notfallreform, den die Ampelkoalition sehr kurzfristig eingebracht hatte. Eine ausführliche Debatte dazu fand nicht statt. SPD, Grüne und FDP begründeten den Vorstoß in ihrem Antrag mit Vorschlägen der Regierungskommission Krankenhaus. Mit dem Vorhaben wolle die Ampel eine Inanspruchnahme der Notaufnahmen und eine Weiterleitung der Hilfesuchenden von dort in die Vertragsarztpraxen möglichst vermeiden, wie es heißt.

Gesetzestext und Begründung unterschiedlich ausgelegt

Der Aufwand solle dadurch sowohl für die Bürger als auch für das Personal im Gesundheitswesen verringert werden. Vor diesem Hintergrund sei eine Verweisung an die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte sowie medizinische Versorgungszentren „nicht mehr sachgerecht“, schreiben SPD, Grüne und FDP in dem Papier. In den Richtlinien des G-BA solle daher künftig eine solche Verweisung „nicht mehr vorgegeben werden“. Im Ergebnis sei im ambulanten Bereich nur noch eine Weiterleitung oder Verweisung an Notdienstpraxen in oder an dem jeweiligen Krankenhaus möglich, heißt es weiter in der Begründung. Krankenhäuser sollen Patienten ohne sofortigen Behandlungsbedarf darüber hinaus nur noch in der Notaufnahme versorgen dürfen, wenn keine Notdienstpraxis an oder in dem jeweiligen Krankenhaus bereitsteht. Das soll auch Auswirkungen auf die Vergütung der Kliniken haben. „Wird kein sofortiger Behandlungsbedarf festgestellt, erfolgt eine Vergütung der ambulanten Leistung eines Krankenhauses nur dann, wenn eine Notdienstpraxis in oder an dem jeweiligen Krankenhaus nicht verfügbar ist“, schreibt die Ampel.

Bislang sah die Reform der Notfallversorgung eine Intensivierung der Patientensteuerung vor. Nach einer qualifizierten Ersteinschätzung sollten Patienten je nach Schwere und Dringlichkeit ihrer Erkrankung in die Versorgungsebenen vermittelt werden: Vertragsarztpraxen, integrierte Notfallzentren oder stationäre Notaufnahmen. Eine Richtlinie für dieses Ersteinschätzungsverfahren hatte der damit beauftragte G-BA bereits erarbeitet und stand kurz vor der Beschlussfassung Ende Juni. Der G-BA will nun in einer Sondersitzung am 6. Juli über die Ersteinschätzungsrichtlinie beraten. Bis dahin will das Gremium die neue Rechtslage berücksichtigt haben. Man wolle auch den „durch den Gesetzgeber geänderten Auftrag kurzfristig umsetzen“, teilte der unparteiische G-BA-Vorsitzende Josef Hecken mit. Er sieht aber noch viele Fragen offen. Die Änderung des Auftrages an den G-BA werfe „rechtliche Fragestellungen“ auf und enthalte „gesetzliche Wertungswidersprüchlichkeiten“, sagte Hecken. „Es entsteht der Eindruck, dass Krankenhäuser künftig immer dann, wenn es am Krankenhaus oder in unmittelbarer Nähe keine vertragsärztliche Notdienstpraxis gibt, einen umfassenden Behandlungsauftrag gegenüber allen Hilfesuchenden hätten, die ihre Notaufnahmen aufsuchen – und dies auch, falls erkennbar kein sofortiger Behandlungsbedarf festgestellt wurde.“

Damit würde sich auch die Überlastungssituation der Notaufnahmen verschlimmern und die längst etablierten Terminservicestellen würden „faktisch ad absurdum geführt“. Den Verweis der Ampelpolitiker, dass mit der geplanten Krankenhausreform auch eine Reform der Notfall- und Akutversorgung einhergehe, für die die Regierungskommission bereits Vorschläge vorgelegt habe, hält Hecken für nicht tragbar. „Es ist ein Irrglaube, dass mit den integrierten Leitstellen die zunehmend ausufernde Inanspruchnahme der Notaufnahmen und der Aufwand für das Personal im Gesundheitswesen verringert wird“, mahnte er. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeige vielmehr, dass viele Hilfesuchenden ohne eine vorherige telefonische oder vertragsärztliche Konsultation die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser aufsuchten. Auch benötige es Lösungen für die Steuerung von Patienten, bis die integrierten Leitstellen sowie die Integrierten Notfallzentren (INZ) aufgebaut seien. „Es wird einige Jahre dauern, bis die für die Krankenhausreform angedachten Strukturveränderungen reale Versorgungspraxis sind. Insofern braucht es auch für diese Übergangszeit praktikable und sachgerechte Lösungen“, betonte Hecken.

Tatsächlich ist ungeklärt, wie die neuen Vorgaben der Ampelkoalition richtig zu bewerten sind. Niedergelassene und Politiker interpretieren die Reform völlig unterschiedlich. Während die Vertragsärzte in den Vorgaben ein Überweisungsverbot der Notfallaufnahmen an den Krankenhäusern an die Vertragsärzte sehen, können Grüne und FDP das nicht erkennen. Im Bundestag hatte der Arzt und gesundheitspolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Andrew Ullmann, betont, dass auch weiterhin an die Vertragsarztpraxen verwiesen werden könne. Es sei weiterhin „auch ganz normal möglich, an eine normale KV-Praxis zu überweisen“, sagte er im Parlament. Man müsse zwischen Verboten und dem, was nicht in einer G-BA-Richtlinie stehe, unterscheiden. „Verboten ist hier gar nichts“, sagte Ullmann. Auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes wiederholte er: Sofern keine KV-Notdienstpraxis am Krankenhaus vorhanden ist, könne weiterhin an niedergelassene Ärzte verwiesen werden.

Erhebliche Auswirkungen befürchtet

Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, hatte die Initiative verteidigt. „An vielen Klinikstandorten in Deutschland bestehen bereits KV-Notdienst- beziehungsweise Bereitschaftspraxen“, sagte er. In einem ersten Schritt gehe es darum, eine Richtlinie für die Ersteinschätzung in den Kliniken einzuführen, um Patienten sicher und zuverlässig aus Notaufnahmen in Notdienstpraxen weiterzuleiten. „In Abhängigkeit von den Öffnungszeiten wird zukünftig dann dort, statt in der Notaufnahme, die ambulante Notdienstversorgung durch die KV erfolgen.“ Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beteuerte, dass die Krankenhäuser auch in Zukunft Patienten, die nicht unmittelbar behandlungsbedürftig seien, an die vertragsärztlichen Praxen verweisen würden. „Die Sorge, dass die Notdienstpraxen der KVen in Zukunft überlastet werden könnten, ist daher absolut unbegründet“, sagte der DKG-Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß.

Erhebliche Kritik kam von Haus- und Fachärzten, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen). „Während Bund und Länder noch über die Eckpunkte einer Krankenhausreform verhandeln, schafft die Bundesregierung klammheimlich Fakten“, sagte Dr. med. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Er sprach von einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“, die dazu führen werde, dass noch mehr Fälle als bisher im und am Krankenhaus versorgt werden müssten – selbst, wenn es sich nicht um einen Notfall handele. Wenn künftig jeder Fall, der im Krankenhaus aufschlage, ob dringlich oder nicht, in den Notdienstpraxen behandelt werden müsse, müssten diese massiv Personal aufbauen, sagte Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, erste stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes. „Wo sollen die Kolleginnen und Kollegen, die ohnehin schon Mangelware sind, herkommen?“

Der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Andreas Gassen bezeichnete das Verfahren um den kurzfristig eingebrachten Änderungsantrag als „fragwürdig“ und „von der Wirkung verheerend“. „Die Bundesregierung konterkariert damit ihre eigenen Pläne für eine gemeinsame Notdienstreform mit den Ländern. Das ist ein sehr fragwürdiges Politikverständnis“, sagte er. Zugleich belege das Vorgehen der Regierungskoalition zum wiederholten Male, dass sie kein Interesse habe, dass Know-how und die Erfahrungen der Niedergelassenen einzubinden, erklärte der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Stephan Hofmeister. Die Politik werfe mal eben im Vorbeigehen ihren eigenen Auftrag an den G-BA über den Haufen, bemängelte KBV-Vorstandsmitglied Dr. med. Sibylle Steiner.

Rebecca Beerheide, Thorsten Maybaum

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