ArchivDeutsches Ärzteblatt PP6/2023Geschichte: Detaillierter Beitrag zur Psychoanalyse-Rezeption

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Geschichte: Detaillierter Beitrag zur Psychoanalyse-Rezeption

Golombek, Jürgen

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Viel ist schon über die Geschichte der Psychoanalyse geschrieben worden, aber noch nicht so umfänglich und tiefgreifend aus einer soziologischen Perspektive wie hier. Beginnend im Wien Sigmund Freuds wird als Präludium erzählt, wie außerakademisch in einer Privatpraxis die Psychoanalyse „geboren“ wurde. Sodann werden nachfolgend bis 1945 Organisationsentwicklung und Wirkungsgeschichte sowie die Rezeption der Psychoanalyse, vor allem in Deutschland und wesentlich bezogen auf die Fachwelt, dargestellt. Schwerpunkt ist dabei der soziale Kontext unter Zurücknahme von Theorie und klinisch-therapeutischer Praxis, wobei der Bezug immer erhalten bleibt und wechselseitige Einflussnahmen kenntlich werden. Der Autor und Soziologe beschreibt den Prozess der Institutionalisierung, die sich entwickelnde Wahrnehmung, Akzeptanz und Konsolidierung der Psychoanalyse, aber auch den Kampf mit Vorbehalten und kritischen Einwänden, und spart auch ihre Anteile an der eigenen Isolierung nicht aus. Ab 1919 setzt eine Hochphase ein, das Interesse an einer Ausbildung in Psychoanalyse steigt, eine psychoanalytische Poliklinik in Berlin wird gegründet, Institute entstehen und Ausbildungsrichtlinien werden erstellt. Die Psychoanalyse wird in Neurologie, Psychiatrie stärker rezipiert, Schröter spricht von einer „pénétration pacifique“ der Psychiatrie mit psychoanalytischem „Gedankengut“, wenngleich eine kritische Zurückhaltung bestehen blieb, Psychoanalytiker gleichsam wenig anderweitige Rezeptionsoffenheit zeigten. Das letzte Kapitel behandelt die Zeit des NS-Regimes mit den Auflösungs- und Überlebensprozessen, den Verwerfungen und Verwicklungen, wozu unter anderem die Ausgrenzung jüdischer Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker gehört. In einem Epilog wird der Verlauf nach dem 2. Weltkrieg bis 1960 skizziert, wo allmählich an die Freud’sche psychoanalytische Tradition angeknüpft werden konnte.

Das Buch taucht aus soziologischer Perspektive ein in die Geschichte psychoanalytischer Organisationen, wesentliche Vertreter werden in ihren Grundhaltungen dargestellt, es leistet einen in diesem Umfang und Detailliertheit noch nicht erfolgten Beitrag zur Psychoanalyse-Rezeption, vor allem in der wenig erforschten psychiatrisch-neurologischen Analyse nach 1918. Der Autor arbeitet mit der Intention, quellenbasiert verschiedene Blickwinkel ausgewogen und nicht wertend einzubeziehen und erschließt Unbekanntes. Jürgen Golombek

Michael Schröter: Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022, 856 Seiten, gebunden, 60,00 Euro

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