THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Dr. phil. Andrea Benecke, Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer: „Gute Weiterbildung bekommt man nicht zum Nulltarif“
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Die neue Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer über die psychotherapeutische Weiterbildung, Lösungen für das Wartezeitenproblem, zu wenig Therapie in psychiatrischen Kliniken, Qualitätssicherungsverfahren, den Schutz von Patientendaten und die Klimakrise.
Frau Benecke, Sie sind gerade als erste Frau in der Geschichte der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) an die Spitze gewählt worden. Was wird sich dadurch ändern?
Andrea Benecke: Ich weiß nicht, ob sich Amtsführung an weiblich oder männlich festmacht. Mir ist wichtig – und das wird Frauen wohl eher zugeschrieben –, dass wir vereint nach vorne gehen. Die Probleme sind groß und wir sind am stärksten, wenn wir alle mit einer Stimme sprechen.
Die BPtK fordert seit Langem eine ausreichende Finanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildung. Bislang gibt es keine gesetzliche Regelung. Was fordern Sie genau?
Seit dem Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz fordern wir Regelungen für eine ausreichende Förderung der Weiterbildung. Es gibt die Vorgabe über die Heilberufegesetze, dass die Weiterbildung im Angestelltenverhältnis hauptberuflich zu erfolgen hat. Im ambulanten Setting bedeutet das für die Weiterbildungsinstitute einen Aufschlag auf die Honorare. Die Ausbildungsinstitute, die heute die Hauptprotagonisten im ambulanten Bereich sind, sollen zu Weiterbildungsstätten werden. Dafür benötigen sie zurecht finanzielle Planungssicherheit. Weiterbildung besteht aus dem Üben und Lernen von Patientenbehandlung, Supervision, Selbsterfahrung und Theorie. Das alte System, in dem die Ausbildungsteilnehmer dafür selbst bezahlen müssen, wollen wir und auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) nicht mehr. Daher muss es gesetzliche Vorgaben geben, ansonsten befürchten wir, dass sich zu wenig Institute mit ihren Ambulanzen für die Weiterbildung anerkennen lassen. Dann werden uns Plätze fehlen, denn wir erwarten pro Jahr mindestens 2 500 Absolventen der Psychotherapiestudiengänge. Die Absolventen können dann zwar eine Approbation erwerben, bekommen aber keine Plätze für die ambulante Weiterbildung. Im stationären Bereich müssen neue Weiterbildungsstellen, zeitlich befristet, erst geschaffen werden. Daher brauchen wird dringend gesetzliche Regelungen zur Finanzierung.
Von welchen Summen sprechen wir bei der Finanzierung der Stellen in psychiatrischen Kliniken?
Man muss jetzt beginnen, in den Kliniken entsprechende Stellen zu finanzieren. Die Gewerkschaft Verdi fordert nach der Tarifverordnung öffentlicher Dienst E 14. Wer gutausgebildeten Nachwuchs haben will, dem muss die Weiterbildung auch etwas wert sein. Man bekommt sie nicht zum Nulltarif.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat gesagt, sein Ministerium sei sehr intensiv mit Regelungen zur neuen Weiterbildung und deren Finanzierung beschäftigt. Bekommen Sie davon etwas mit?
Nein. Es hat mich überrascht, das zu hören, weil es vorher sehr verhaltene Töne gab. Es war das erste Mal, dass der Bundesgesundheitsminister sich so deutlich geäußert hat, wir werden ihn beim Wort nehmen und nicht leiser werden.
Wie ist generell Ihr Kontakt zum BMG? Die Ärzteschaft beklagt, dass sie oft nicht in Reformvorhaben einbezogen werden. Außerdem gibt es den Vorwurf des „Lobbyismus“ von Lauterbach gegenüber den „Playern“ im Gesundheitswesen.
Wir wären gerne intensiver im Gespräch mit Herrn Lauterbach. Er muss die Probleme jetzt angehen. Ich verstehe mich dabei durchaus als Lobbyistin für unsere Berufsgruppe und für psychisch kranke Menschen, die berechtigte Ansprüche haben, therapeutisch gut versorgt zu werden.
Bis wann brauchen Sie eine Rückmeldung des Gesetzgebers zur Finanzierung der Weiterbildung?
Schnellstmöglich. Die ersten Absolventen der Studiengänge haben gerade ihre Approbation erworben und suchen eine Weiterbildungsstelle. Nächstes Jahr kommen circa 1 000 hinzu. Ab 2025 erwarten wir 2 500 approbierte Absolventen jährlich. Wenn es keinen Regelung gibt, könnten die Absolventen als Notlösung versuchen, noch einmal in die alte Ausbildung hinein zu gehen. Das wäre ein Armutszeugnis. Gleichzeitig müssen sich jetzt die Ausbildungsinstitute und interessierte Praxen auf den Weg machen, um sich von den Psychotherapeutenkammern als Weiterbildungsstätten anerkennen zu lassen. Wir brauchen auch die Weiterbildungsbefugten, es müssen Kooperationsverträge abgeschlossen werden, weil nicht jede Praxis die Theorie anbieten kann. Das geht nicht alles von heute auf morgen.
Sind Sie mit den Krankenkassen im Gespräch? Diese könnten die Weiterbildung ja finanzieren.
Die Ausbildungsinstitute verhandeln mit den Krankenkassen auf Landesebene. Dabei wird auch über die Finanzierung der Weiterbildung geredet. Die Kassen sagen aber, dass ihnen die gesetzliche Grundlage für solche Gespräche fehlt. Ich erlebe auf Landesebene hohe Bereitschaft der Krankenkassen, die Weiterbildung möglich zu machen. Auf Spitzenverbandsebene wird das aber anders gesehen.
Wie unterscheidet sich die psychotherapeutische von der ärztlichen Weiterbildung?
Im Unterschied zu den meisten Facharztweiterbildungen muss die Weiterbildung bei uns mindestens ambulant und stationär erbracht werden, fakultativ auch im institutionellen Bereich. Da viele Ärztinnen und Ärzte ihre Weiterbildung ausschließlich im stationären Bereich absolvieren, sind sie in dieser Zeit im Krankenhaus angestellt. Die Psychotherapie kann man in Kliniken aber nicht nach der Psychotherapierichtlinie lernen. Daher spielt die ambulante Weiterbildung bei uns eine größere Rolle. Nachwuchsmangel, wie es beispielsweise bei den Hausärzten der Fall ist, für die die Finanzierung der ambulanten Weiterbildung geregelt wurde, haben wir nicht. Dennoch werden wir ohne eine Regelung ein eklatantes Versorgungsproblem bekommen.
Das Versorgungsproblem ist jetzt schon an vielen Stellen zu beobachten, beispielsweise bei den Wartezeiten, vor allem für Kinder und Jugendliche. Die vielen Krisen setzen den Menschen zu. Was müsste getan werden, um psychisch kranken Menschen schneller zu helfen?
Ich sehe nicht, wie wir das Problem ohne zusätzliche Kapazitäten in der Psychotherapie lösen sollen. Neue Praxissitze müssen an die Orte, an denen sie gebraucht werden. Unser Vorschlag ist seit Langem, die Verhältniszahlen um 20 Prozent zu senken. Damit würden rund 1 600 zusätzliche Psychotherapeutensitze in ländlichen und strukturschwachen Regionen entstehen. Minister Lauterbach hat nun die Idee, über Primärversorgungszentren die Versorgung zu verbessern. Wir finden diese Idee sehr gut. Aber man sollte solche Zentren dann auch mit einem Sitz für die psychotherapeutische Versorgung ausstatten. In so einem Zentrum könnte der Hausarzt direkt auf die Psychotherapeutin hinweisen, die dort säße und offene Sprechstunden anbietet. Zugangsbarrieren könnten so stark reduziert werden.
Die Bundesregierung hat ja bereits im Koalitionsvertrag festgelegt, eine Reform der Bedarfsplanung angehen zu wollen.
Für die Sicherstellung einer wohnortnahen Versorgung von Kindern und Jugendlichen sollte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in einer eigenen „Arztgruppe“ beplant werden. Die Bedarfe von Kindern sind anders als die von Erwachsenen. Beispielsweise müssen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wohnortnah für Kinder erreichbar sein, da diese keine langen Wege allein bewältigen können.
Das Thema Personalausstattung in psychiatrischen Kliniken wurde in den vergangenen Wochen im Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) entschieden. Demnach gelten 50 Minuten Psychotherapie pro Woche in psychiatrischen Einrichtungen als ausreichend. Findet die BPtK sich mit dieser Entscheidung ab?
Dass unsere Forderungen nach mehr Psychotherapie, die wir zusammen mit den Patientenvertretenden und der Bundesärztekammer vorgetragen haben, vom G-BA so abgebügelt wurden, war sehr enttäuschend. Es ist ein Unding, dass schwer psychisch kranke Patienten im stationären Setting nur so viel Psychotherapie erhalten, wie im ambulanten Bereich üblich. Patienten gehen ja in eine Klinik, weil sie in einer akuten Krise sind und entsprechend mehr Psychotherapie brauchen. Nach der Entscheidung hat sich der G-BA selbst auferlegt, das Ganze 2025 noch mal zur Überprüfung zu bringen. Wir werden in der Zwischenzeit sehr genau schauen, wie sich die Situation in den Kliniken entwickelt.
Könnte die anstehende Krankenhausreform eventuell für Veränderungen sorgen?
Wir müssen zunächst sehen, ob die Krankenhausreform für die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken überhaupt zur Anwendung kommt.
Ein weiteres Aufregerthema ist der Plan des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), das ein Qualitätssicherungsverfahren für die ambulante Psychotherapie auf den Weg bringen will. Das soll das aktuelle Gutachterverfahren ersetzen. Dies kritisieren Sie, warum?
Eine qualitativ hochwertige Behandlung ist unbedingt sicherzustellen. Die Frage ist, wie man Qualität messen will. Hier soll ein Qualitätssicherungsverfahren übernommen werden, das für die Qualitätssicherung im Krankenhaus entwickelt wurde. Man kann aber den Erfolg einer Knie- oder die Blinddarmoperation nicht mit unseren Therapieverläufen vergleichen. Allein zeitlich verlaufen die ganz anders. Wenn etwa ein Patient gefragt wird, ob er am Anfang der Behandlung aufgeklärt wurde oder nicht, dann kann er sich zwei oder drei Jahre später möglicherweise nicht mehr an die erste Stunde erinnern. Sinnvoll wäre es, wenn wir in diesem längeren Prozess zeitnah eine Rückmeldung bekommen, sodass wir zusammen mit dem Patienten umsteuern können. Mit dem QS-System werden Datenfriedhöfe aufgebaut, mit denen am Ende keiner etwas anfangen kann und dazu noch viel kosten. Daher laufen wir Sturm gegen dieses geplante QS-System.
Welche Form der Qualitätssicherung wäre denn besser geeignet für die psychotherapeutische Praxis?
Wir machen jetzt schon freiwillig sehr viel Supervision, Intervision und Qualitätszirkel. Diese sehr sinnvollen Instrumente könnte man regelhaft vorschreiben. Wir erarbeiten zudem ein Konzept, wie wir uns die Qualitätssicherung für die Psychotherapie vorstellen. Wir haben sehr heterogene Patienten, unterschiedliche Erkrankungen und Therapieziele. Die einzelnen Psychotherapieverfahren funktionieren alle recht unterschiedlich. Datenfriedhöfe brauchen wir grundsätzlich nicht.
Stichwort Daten: Sie fordern bei der Einführung der Elektronischen Patientenakte (ePA), den Schutz von hochsensiblen Patientendaten aus psychotherapeutischen Behandlungen zu gewährleisten.
Grundsätzlich ist die ePA eine gute Idee und sehr nützlich für Patienten. Die Frage ist, welche Daten sollen automatisch in die Akte rein. Da haben wir Bedenken. Ein psychisches Problem ist vielleicht behandelt und trotzdem steht es ein Leben lang in der Akte. Unsere Idee ist es, zusammen mit unseren Patienten zu überlegen, was sinnvoll ist, in die ePA aufgenommen zu werden. Medikamentenpläne sind sinnvoll, selbst wenn sie Rückschlüsse zulassen. Aber die psychische Diagnose muss vielleicht nicht unbedingt in die Akte. Sinnvoll wäre daher eine Opt-in-Lösung für therapeutische Daten.
Viele Menschen bewegt auch die Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben. Inwiefern kommt dieses Problem auch in den Praxen der Psychotherapeuten an?
Wir haben 2021 im Ahrtal erlebt, welche Auswirkungen der Klimawandel haben kann. Psychische Belastung und Störungen haben bei den Menschen dort zugenommen durch das, was sie erlebt haben. Nicht nur durch die ursprüngliche Katastrophe, sondern auch dadurch, wie damit umgegangen wird. Wir sind dort weit von der Normalität entfernt. Generell begegnen uns bei Jugendlichen Angst und Sorgen in Bezug auf die Zukunft zunehmend. Wir müssen zusammen mit den Betroffenen überlegen, ob das eine psychische Störung ist. In der Regel ist es eine reale Angst. Diese als solche zu benennen, ist etwas sehr Wichtiges. Die meisten machen die Erfahrung, dass ihre Ängste gar nicht gehört werden. Dann entstehen Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Wir haben gute Evidenz dafür, dass Klimaveränderungen wie zunehmende Hitze psychisch kranke Menschen mehr belasten als Gesunde und auch zum Beispiel aggressives Verhalten fördern können. Es wird sich noch mehr psychotherapeutischer Bedarf entwickeln und deshalb brauchen wir Präventionskonzepte. Wir müssen die Gesellschaft und das Individuum resilient machen.
Das Interview führten Petra Bühring und Rebecca Beerheide.