ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2023Lokal erhöhtes Aufkommen von periorbital nekrotisierender Fasziitis
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Die Erkrankung der nekrotisierenden Fasziitis (NF) wurde bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. von Hippokrates beobachtet. Die Bezeichnung erhielt sie erstmals 1952 von Wilson (1). Ursächlich sind meist Keimeintritte durch Bagatelltraumata. Vornehmlich betroffen sind Extremitäten, aber auch Leistenregion und Abdomen; Gesicht und periorbitale Region sind dank ausgezeichneter Durchblutung seltener beteiligt (2). Die Mortalität ist bei periorbitaler NF (PNF) mit 10–14,4 % niedriger als an anderen Körperregionen (20 bis 35 %). Dennoch werden durch die systemische Toxizität schwerwiegende Verläufe mit Septikämie bis hin zum Multiorganversagen beobachtet (2). Durch rechtzeitige Diagnose und prompte adäquate Therapie können schwerwiegende Folgen (Visusverlust, Exitus) verhindert werden. Bislang galt die Erkrankung (Inzidenz 0,24/1 Mio/Jahr [3]) als sehr selten; auffällig ist die jüngst beobachtete Häufung von Fällen PNF an unserer Klinik.

Methoden

Berichtet wird über fünf Patienten, die zwischen Januar und März 2023 mit PNF in der Universitätsaugenklinik der LMU München vorstellig wurden.

Ergebnisse

Die klinischen Befunde sind in der Tabelle zusammengefasst. Alle Patienten waren männlichen Geschlechts. Symptome bestanden maximal seit drei Tagen. Klinisch zeigten sich in allen Fällen periorbitale Rötungen, sowie gangränose Hautbefunde mit Ursprung im nasalen Lidwinkel (2/5 bilateral). Hautverletzungen als mögliche Eintrittspforte waren anamnestisch nicht bekannt. Nur ein Patient war an Diabetes erkrankt. Die Bildgebung zeigte Lufteinschlüsse (3/5) sowie Polster- und Spiegelbildung der Nasennebenhöhlen (5/5), jedoch keine Abszessformationen. Bei allen Fällen kam es zu rapiden Befundverschlechterungen mit Septikämie (septischer Schock 4/5, Multiorganversagen 1/5). Mikrobiologisch wurden jeweils Gruppe-A-Streptokokken nachgewiesen, ohne Antibiotikaresistenzen. Alle Patienten erhielten systemische Antibiose und unverzügliches chirurgisches Debridement mit Resektion nekrotischen Gewebes, wobei vitales, noch perfundiertes Haut- und Muskelgewebe belassen wurde. Abstriche und Gewebeproben für mikrobiologische und histopathologische Untersuchung wurden gewonnen. Das betroffene subkutane Gewebe wurde intraoperativ mit Wasserstoffperoxid und Gentamicin-Lösung gespült, sterile Gummilaschen als Drainagen eingebracht. Bei Ausdehnung nach submandibular und occipital erfolgte die chirurgische Betreuung mit Kolleginnen und Kollgenen der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) interdisziplinär (2/5). Alle Patienten überlebten.

Fallserie periorbitaler nekrotisierender Fasziitis. Klinische, laborchemische und mikrobiologische Befunde, Therapie und Krankheitsverlauf der Patienten 1–5
Tabelle
Fallserie periorbitaler nekrotisierender Fasziitis. Klinische, laborchemische und mikrobiologische Befunde, Therapie und Krankheitsverlauf der Patienten 1–5

Diskussion

Das aktuell an unserer Klinik gehäuft beobachtete Auftreten von PNF scheint die in der Literatur beschriebene Inzidenz von 0,24/1 Mio/Jahr (3) zu überschreiten. Klinische Präsentation und Verlauf der PNF unseres Kollektivs gleicht den in einer umfassenden Übersichtsarbeit von Amrith et al. beschriebenen Fälle (2). Typisch sind rapid progrediente periorbitale Erytheme und Schwellungen, die sich innerhalb weniger Stunden livide verfärben, Blasen bilden und gangränös werden. Diese Alarmsignale fordern unverzügliche Abklärung. Bei Verdacht auf PNF sollte direkt in eine interdisziplinär (Ophthalmochirurgen, MKG-Chirurgen und Intensivmediziner) ausgestattete Klinik eingewiesen werden.

Mikrobiologisch wurden in allen Fällen Gruppe-A-Streptokokken nachgewiesen; diese sind bei der NF, vor Pseudomonas aeruginosa, die häufigsten identifizierten Erreger (1). Das therapeutische Vorgehen bestand – entsprechend der Literaturempfehlungen – aus hochdosierter intravenöser Antibiose und unverzüglichem chirurgischen Debridement. Zur Antibiose werden β-Lactam-Antibiotika (zum Beispiel Penicillin oder Cephalosporin) und additiv Clindamycin empfohlen, um die Produktion der Streptokokkentoxine zu hemmen. Die Resektion nekrotischen Gewebes ist erforderlich, um eine Minderperfusion durch Gefäßthrombosen zu verhindern und damit das Anfluten von Antibiotika zu erleichtern und durch Reduktion der Bakterienlast die damit verbundene Sekretion von Exotoxinen zu vermindern. Der Empfehlung von Wilson (1) folgend wurde möglichst viel noch perfundiertes (vitales) Gewebe erhalten, um unnötigen Gewebedefekten mit konsekutiven Lidfehlstellungen vorzubeugen (2). Bei ausbleibender Befundbesserung ist jedoch wiederholtes Debridement notwendig, wie auch in zwei unserer Fälle. Wir empfehlen Rekonstruktionen der periorbitalen Region erst nach vollständiger Abheilung und Stabilisierung des Allgemeinzustands, sofern nicht ein signifikanter Lagophthalmus eine akute Gefahr für die Augenoberfläche darstellt.

Systemische Komplikationen als Folge der Septikämie wurden bei vier von fünf unserer Patienten beobachtet. Diese begründen die in der Literatur beobachtete Mortalität der PNF von 8,5–14,4 % (2).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete am 15.12.2022 über erhöhte Inzidenzen von Scharlach und invasiven Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen in den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Schweden und Irland (4). In Deutschland besteht aufgrund fehlender Meldepflicht für Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen eine eingeschränkte Datenlage. Dennoch wurden laut Robert Koch-Institut (RKI) auch in Deutschland eine Zunahme sowohl invasiver als auch nichtinvasiver Gruppe-A-Streptokokken-Nachweise beobachtet (5). Eine erhöhte Exposition bei reduzierter Immunabwehr nach Jahren der COVID-19 bedingten Isolationsmaßnahmen wird vermutet. Strukturveränderungen der Gruppe-A-Streptokokken, die mittels Analysen zu spezifischen Oberflächenantigenen (M-Protein, emm-typing) im Nationalen Referenzzentrum für Streptokokken der Universitätsklinik Aachen durchgeführt werden, wurden bislang nicht festgestellt. Auch die bei unseren Patienten nachgewiesenen Gruppe-A-Streptokokken ließen sich den bekannten Stämmen zuordnen.

Dies ist eine monozentrische Fallserie. Analysen auf nationaler Ebene sind notwendig, um eventuelle bundesweite Fallzunahmen festzustellen und weiterführende mikrobiologische Untersuchungen zur Ursachenklärung und Beurteilung hinsichtlich Veränderung der Virulenz der Gruppe-A-Streptokokken.

Das beobachtete lokal erhöhte Aufkommen gibt Anlass, das Bewusstsein für die PFN unter der Ärzteschaft zu schärfen. Frühe Diagnose und prompter Start einer adäquaten hoch dosierten antibiotischen Therapie kombiniert mit chirurgischem Debridement senken das Risiko für Mortalität und Morbidität. Für die Bestätigung eines Inzidenzanstiegs und die Klärung möglicher Ursachen bedarf es jedoch weiterer Analysen.

Anna Schuh, Leonie Keidel, Birte Siegmund, Sven Otto, Siegfried Priglinger, Christoph Hintschich

Interessenkonflikt
Die Autorinnen und die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 11.05.2023, revidierte Fassung angenommen: 29.06.2023

Zitierweise
Schuh A, Keidel L, Siegmund B, Otto S, Priglinger S, Hintschich C: Locally increased incidence of periorbital necrotizing fasciitis—a case series.

Dtsch Arztebl Int 2023; 120. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0164

Dieser Beitrag erschien online am 19.07.2023 (online first) unter: www.aerzteblatt.de

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Wilson B: Necrotizing fasciitis. Am Surg 1952; 18: 416–31.
2.
Amrith S, Hosdurga Pai V, Ling WW: Periorbital necrotizing fasciitis—a review. Acta Ophthalmol 2013; 91: 596–603 CrossRef MEDLINE
3.
Flavahan PW, Cauchi P, Gregory ME, Foot B, Drummond SR: Incidence of periorbital necrotising fasciitis in the UK population: a BOSU study. Br J Ophthalmol 2014; 98: 1177–80 CrossRef MEDLINE
4.
World Health Organization (15 December 2022). Disease Outbreak News; Increased incidence of scarlet fever and invasive Group A Streptococcus infection – multi-country. Available at: www.who.int/emergencies/disease-outbreak-news/item/2022-DON429 (last accessed on 11 July 2023).
5.
Robert Koch Institut (22 December 2022). Infektionskrankheiten A-Z; Inzidenzanstieg von Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen (z.B. Scharlach). Available at: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/S/Scharlach/invasive_Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen.html (last accessed on 11 July 2023).
Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde, München (Schuh, Keidel, Priglinger, Hintschich) anna.schuh@med.uni-muenchen.de
Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinik und Poliklinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, München (Siegmund, Otto)
Fallserie periorbitaler nekrotisierender Fasziitis. Klinische, laborchemische und mikrobiologische Befunde, Therapie und Krankheitsverlauf der Patienten 1–5
Tabelle
Fallserie periorbitaler nekrotisierender Fasziitis. Klinische, laborchemische und mikrobiologische Befunde, Therapie und Krankheitsverlauf der Patienten 1–5
1.Wilson B: Necrotizing fasciitis. Am Surg 1952; 18: 416–31.
2.Amrith S, Hosdurga Pai V, Ling WW: Periorbital necrotizing fasciitis—a review. Acta Ophthalmol 2013; 91: 596–603 CrossRef MEDLINE
3.Flavahan PW, Cauchi P, Gregory ME, Foot B, Drummond SR: Incidence of periorbital necrotising fasciitis in the UK population: a BOSU study. Br J Ophthalmol 2014; 98: 1177–80 CrossRef MEDLINE
4.World Health Organization (15 December 2022). Disease Outbreak News; Increased incidence of scarlet fever and invasive Group A Streptococcus infection – multi-country. Available at: www.who.int/emergencies/disease-outbreak-news/item/2022-DON429 (last accessed on 11 July 2023).
5.Robert Koch Institut (22 December 2022). Infektionskrankheiten A-Z; Inzidenzanstieg von Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen (z.B. Scharlach). Available at: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/S/Scharlach/invasive_Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen.html (last accessed on 11 July 2023).

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