MEDIZINREPORT
Semaglutid in der Adipositastherapie: Viel Diskussionsstoff
;


Um die Präparate Wegovy und Ozempic wird zurzeit viel Wirbel gemacht. Der mit dem Wirkstoff Semaglutid zu erreichende Gewichtsverlust hat sich herumgesprochen. Nun geht es darum, ob oder wie das Medikament die Adipositastherapie ergänzen kann. Hierfür fehlen aber noch Daten.
Seit bekannt wurde, dass der Glucagon-like-Peptide-1-(GLP-1-)Agonist Semaglutid in der Dosierung von 2,4 mg (Handelsname Wegovy) das Gewicht bei stark übergewichtigen Menschen deutlich reduzieren kann, ist die Nachfrage nach der Abnehmspritze hoch (1). Nicht zuletzt trugen prominente Anwender – vor allem aus den USA – dazu bei, die berichteten, mit diesem Medikament einige Kilos verloren zu haben. Doch dafür ist das Medikament nicht zugelassen, sondern zur Gewichtsreduktion für Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 oder 27 kg/m², wenn mindestens eine gewichts assoziierte Begleiterkrankung besteht.
Die große Nachfrage führte zu einem Lieferengpass von Wegovy, das zum Beispiel in Europa bis vor Kurzem kaum verfügbar war. Daher griffen viele auf das Präparat Ozempic zurück, das Semaglutid in einer geringeren Dosierung (0,5–2 mg) für die Therapie des Typ-2-Diabetes enthält. Das wiederum hatte für viele Menschen mit Typ-2-Diabetes ernste Folgen. Für sie stand das dringend benötigte Medikament oft nicht zur Verfügung, betont Prof. Dr. med. Baptist Gallwitz, Internist, Diabetologe und Endokrinologe sowie Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). Das bestätigt auch Dr. med. Andreas Klinge, niedergelassener Diabetologe in Hamburg: „Wir haben sogar Patienten, die mehrere Wochen mit der Therapie pausieren mussten.“
Nebenwirkungen beachten
Frei von Nebenwirkungen ist Wegovy auch nicht. Dazu gehörten laut Fachinformation vor allem gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö und Obstipation (2). Demnach treten diese häufig auf, seien aber meist leicht bis moderat und von kurzer Dauer (durchschnittlich 2–8 Tage). Lediglich die Obstipation könne länger anhalten (im Mittel 47 Tage). Ähnliche Nebenwirkungen sind auch für Ozempic bekannt (3). In der Nutzen-Risiko-Abwägung bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes schlägt das Pendel in der Regel in Richtung Nutzen aus. Aber gilt das auch für Menschen, die Semaglutid anwenden möchten, um überflüssige Pfunde nach dem Urlaub oder Feiertagen loszuwerden? „Ich bin erstaunt, wie schnell einige Menschen bereit sind, so ein Medikament einzunehmen. Ich hätte damit Schwierigkeiten und ich kenne das Medikament gut“, wundert sich Klinge, der auch Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) ist.
Daneben untersucht der Sicherheitsausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) aktuell das Suizidrisiko unter einer Therapie mit Semaglutid sowie Liraglutid, einem weiteren GLP-1-RezeptorAgonisten (4). Letzteres ist als Saxenda mit dem gleichen Anwendungsgebiet wie Wegovy für die Therapie der Adipositas zugelassen. Veranlasst wurde die Analyse durch vermehrt eingehende Berichte zu Selbstmordgedanken und Selbstverletzungen unter der Therapie mit Semaglutid und Liraglutid bei der isländischen Arzneimittelbehörde. Laut EMA gibt es bislang 150 Meldungen zu möglichen Fällen. Es sei aber noch nicht klar, ob die gemeldeten Fälle mit den Arzneimitteln selbst oder mit den Grunderkrankungen der Betroffenen oder anderen Faktoren zusammenhängen. Die Überprüfung wird voraussichtlich im November dieses Jahres abgeschlossen sein. Ein erhöhtes Risiko für Suizid und selbstschädigendes Verhalten ist allerdings auch nach bariatrischen Eingriffen bekannt (5).
Um erfolgreich Gewicht zu reduzieren, wird ein Medikament allein nicht ausreichen. Eine Adipositastherapie besteht aus mehreren Bausteinen und umfasst Maßnahmen wie Ernährungsanpassung, Bewegung und Verhaltenstherapie (6). In den Studien zu Semaglutid hatten die Betroffenen zusätzlich zu dem Medikament eine kalorienreduzierte Diät mit erhöhter körperlicher Aktivität oder eine intensive Verhaltenstherapie inklusive sehr strenger Diät, vermehrter körperlicher Aktivität und verhaltensbezogener Beratung erhalten.
Gallwitz warnt vor falschen Erwartungen an das Medikament, die durch die Berichterstattung in die Bevölkerung und von da an die behandelnden Ärzte herangetragen werden. Nach einigen Monaten Therapie pegele sich das Gewicht ein. „Wir wissen auch aus Studien, dass, wenn man das Medikament absetzt, das Gewicht relativ schnell wieder zunimmt.“
Nur Gewichtsverlust reicht nicht
Ähnliches sagt Klinge und betont: „Um eine Adipositas zu behandeln, müssen GLP-1-Analoga lebenslang eingenommen werden.“ Dafür sollten die Medikamente aber mehr Effekte zeigen als nur den reinen Gewichtsverlust, etwa in Bezug auf kardiovaskuläre Folgen. Vor Kurzem hat Novo Nordisk – der Hersteller von Semaglutid und Liraglutid – berichtet, dass Wegovy das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren kann (7). „Diese Daten müssen erst als wissenschaftliche Publikation vorliegen, bevor ich überlegen würde, ob wir uns zu so einer sehr breit angelegten pharmakologischen Therapie entschließen wollen“, so Klinge.
Ein wichtiger Aspekt ist auch die Prävention. „Adipositas ist ein zunehmendes Problem und hat große Auswirkungen auf die wachsende Verbreitung von Typ-2-Diabetes“, sagt Gallwitz. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft fordere deshalb schon seit Langem, dass die Politik Maßnahmen wie Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel für Kinder, höhere Standards bei Schul- und Kita-Essen oder täglich mindestens eine Stunde Bewegung im Schulprogramm ergreift.
Das seien Maßnahmen, die wenig kosten, aber eine große Wirkung entfalten können, da mittlerweile Konsens sei, dass Verhaltens- und Konsummuster, die bereits in der Kindheit und Jugend erworben werden, einen entscheidenden Einfluss haben, erklärt Gallwitz: „Ich hoffe sehr, dass sich die gesellschaftlichen Maßnahmen durchsetzen und nicht die Dauermedikation. Prävention ist günstiger als Therapie.“ Tobias Lau,
Dr. med. Anne-Kristin Schulze
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3323
oder über QR-Code.
3 Fragen an . . .
Dr. med. Andreas Klinge, niedergelassener Facharzt für Innere Medizin – Diabetologie in Hamburg und Mitglied im Vorstand der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
Wie schätzen Sie die Daten zu Semaglutid in der Adipositastherapie ein?
Im Mittel zeigt sich ein relevanter Gewichtsverlust. Aber sowie die Therapie beendet wird, nehmen die Betroffenen wieder zu. Aus therapeutischer Sicht ist das keine ideale Situation. Daher stellt sich die Frage: Ist Adipositas eine Krankheit, die wir mit einer chronischen pharmakologischen Therapie behandeln wollen oder nicht? Ich persönlich bin da sehr zurückhaltend. Insbesondere weil ich finde, dass die Medikamente mehr Effekte zeigen müssen als nur den Gewichtsverlust. Aktuell läuft eine große Endpunktstudie mit Semaglutid, zu der der Hersteller kürzlich erste Ergebnisse berichtet hat. Demnach scheint Semaglutid bei adipösen Personen mit einer vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankung das Risiko für erneute schwere kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren. Diese Daten müssen erst als wissenschaftliche Publikation vorliegen, bevor ich überlegen würde, ob wir uns zu so einer sehr breit angelegten pharmakologischen Therapie entschließen wollen. Dann lassen sich auch erst die Patientengruppen definieren, die möglicherweise von der Therapie profitieren.
Wie erhalten Personen Wegovy?
Das für die Therapie der Adipositas seit wenigen Wochen verfügbare Wegovy wird von den gesetzlichen Krankenkassen nicht erstattet. Das Privatrezept ist hier der derzeit einzig mögliche Weg einer Verordnung im Rahmen der Zulassung. Die Verordnung von Ozempic oder Trulicity zur Behandlung der Adipositas ist nicht von der Zulassung der Medikamente gedeckt. Daher und aufgrund der massiven, anhaltenden Lieferengpässe für diese Substanzen hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor Kurzem erklärt, dass die GLP-1-Agonisten Ozempic und Trulicity auf Privatrezepten nur noch mit Angabe der Diagnose Typ-2-Diabetes verordnet werden sollen. Zudem sollen sie selbst nach Vorlage des Arztausweises nicht mehr zu erwerben sein. Juristisch ist das sicherlich schwierig umzusetzen, aber ich fand das Signal vom BfArM schon sehr eindrucksvoll.
Allerdings werden auch Privatrezepte für Ozempic gefälscht. Wir wissen von diversen Fälle, ich schätze etwa 20 bis 25, vermutlich mehr, mit unseren teilweise fehlerhaften Praxisdaten und Angaben von Patientinnen und Patienten, die wir nicht kannten.
Sollte Wegovy durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erstattet werden?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es aus meiner Sicht keine Daten, die die Kostenerstattung durch die GKV rechtfertigen würden. Wichtig sind die Studienergebnisse hinsichtlich der harten Endpunkte, etwa der Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität. Gibt es etwa in einem oder zwei Jahren Ergebnisse, die zeigen, dass Menschen mit starkem Übergewicht unter dieser Therapie zum Beispiel weniger Herzinfarkte haben, dann muss die Frage der Kostenerstattung neu diskutiert werden. Dann überlegen wir eher, wie wir das praktisch organisieren und wie wir den Missbrauch verhindern.
1. | Befürchteter Ansturm auf Semaglutid bei Adipositas bisher ausgeblieben. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/144957 (last accessed 10 August 2023). |
2. | Fachinformation Wegovy, Stand April 2023. |
3. | Fachinformation Ozempic, Stand März 2023. |
4. | EMA statement on ongoing review of GLP-1 receptor agonists, 11. Juli 2023. https://www.ema.europa.eu/en/news/ema-statement-ongoing-review-glp-1-receptor-agonists (last accessed 10 August 2023). |
5. | S3-Leitlinie Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen. Stand 01.02.2018, aktuell in Überarbeitung, Registernummer 088-001. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/088-001 (last accessed 10 August 2023). |
6. | Schulze, AK: Adipositastherapie: Meilenstein erreicht. Dtsch Arztebl 2023; 120 (17): A-774 / B-661 VOLLTEXT |
7. | Pressemitteilung – Novo Nordisk A/S: Semaglutide 2.4 mg reduces the risk of major adverse cardiovascular events by 20% in adults with overweight or obesity in the SELECT trial. https://www.novonordisk.com/news-and-media/news-and-ir-materials/news-details.html?id=166301 (last accessed 10 August 2023). |