ArchivDeutsches ÄrzteblattOnlineFirst/2023Beweggründe für den Wunsch nach Suizidassistenz
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Die Debatte um die Suizidassistenz ist in Deutschland aktueller denn je. Seit das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 § 217 StGB für nichtig erklärt hat, ist unklar, ob eine und gegebenenfalls welche gesetzliche Regulierung getroffen wird. Terminologisch ist zwischen assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen zu unterscheiden. Häufig wird vom ärztlich assistierten Suizid gesprochen, wobei jedoch jeder beim Suizid assistieren kann.

Die Gründe für die Inanspruchnahme einer Suizidassistenz sind vielfältig. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland nach Angaben des „Vereins Sterbehilfe“ in Deutschland 139 Suizidassistenzen, davon 132 aus körperlichen und vier aus psychischen Gründen durchgeführt (1). Auch soziale Faktoren, die Erfahrung mangelnder Fürsorge oder die Sorge um das Leben im Alter spielen eine Rolle (2, 3, 4). Um über die rechtliche Situation zu informieren und Empfehlungen für den Umgang mit Menschen mit Sterbewunsch zu geben, hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) entsprechende Handlungsempfehlungen herausgegeben (5). Todeswünsche sollten offen thematisiert werden. Suizidpräventive Maßnahmen spielen eine besondere Rolle.

Ziel der vorliegenden Studie war es, Motive für den Wunsch nach Suizidassistenz sowie die Auswirkungen einer suizidpräventiven Beratung zu erfassen.

Methode

Alle telefonischen Anfragen an die Geschäftsstelle der DGP zur Suizidassistenz eines Jahres (11/2020–10/2021) wurden retrospektiv ausgewertet. Dabei handelte es sich um Anfragen, die die Möglichkeit einer Suizidassistenz ausloten wollten, oder es wurde ein akuter Sterbewunsch formuliert. Die Kontaktaufnahme erfolgte aufgrund von publizierten Artikeln, Vorträgen, Medienberichten oder Internetrecherchen. Die Telefonnummer der DGP ist auf der Homepage prominent platziert. Alle Anfragenden wurden über die anonymisierte Dokumentation der Beratung aufgeklärt und waren damit einverstanden.

Um die Anfragen strukturiert zu erfassen, wurde eine Dokumentationshilfe entwickelt (5). Diese enthielt Fragen zu Alter, Geschlecht, Erkrankung, Lebenssituation, Kommunikation des Sterbewunsches mit Angehörigen, Kontakt zu Hilfsangeboten, Gründe, Wissensdefizite und Gesprächsergebnis. Fragen vonseiten der Anrufenden zu Beginn der Telefonate waren unter anderem: „Wer kann mir beim Sterben helfen?“, „Sterbehilfe ist jetzt erlaubt, oder?“.

Die gesammelten Daten wurden anonymisiert mit IBM SPSS Statistic Version 28.0.1.1 und Microsoft Excel 2020 Version 16.42 ausgewertet. Für die kontinuierliche Variable Alter wurde ein Test auf Normalverteilung durchgeführt. Mittelwert, Median und Standardabweichung wurden bestimmt. Kategorielle Variablen wurden in absoluten Zahlen erfasst und relative Häufigkeiten berechnet. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf positiv votiert (Studiennummer 2022-2266).

Ergebnisse

Im Untersuchungszeitraum von 12 Monaten gingen bei der Geschäftsstelle der DGP 53 telefonische Anfragen zum assistierten Suizid ein. Das mittlere Alter lag bei 69 Jahren (Median 71 Jahre, 20–89 Jahre, SD 17,4 Jahre), das Alter folgte keiner Normalverteilung. Insgesamt wurden mehr Anfragen von Männern als von Frauen gestellt (62,3 versus 37,7 %). Fünf Anfragende (9,4 %) äußerten einen akuten Sterbewunsch, alle anderen wollten rechtliche Informationen einholen und Optionen im Umgang mit Autonomieverlust und unkontrollierbarem Leiden ausloten. Tabelle 1 fasst die vorliegenden Erkrankungen zusammen, Tabelle 2 die Gründe für den Wunsch nach assistiertem Suizid. Nur etwa ein Viertel hat mit Nahestehenden über diese Gedanken gesprochen (n = 13, 24,5 %). Von 21 Anfragenden konnten Angaben zu früheren Suizidversuchen erhoben werden, wobei die meisten keinen Suizidversuch unternommen hatten (n = 17, 81 %). Alle Anfragenden gingen davon aus, dass Palliativmedizin nur für Krebskranke zur Verfügung stehe. Über die Möglichkeiten des freiwilligen Verzichts auf Essen und Trinken oder der gezielten Sedierung zur Symptomlinderung war keine/r der Ratsuchenden aufgeklärt. 69,8 % (37/53) der Anruferinnen und Anrufer sahen Hospize nur als Möglichkeit der Unterbringung von Krebserkrankten an. Ambulante Hospiz- und Palliativdienste waren unbekannt. Nach der Aufklärung wollten nur 3,8 % (2/53) den Wunsch nach assistiertem Suizid weiterverfolgen. Diese Personen stammten aus der Gruppe der Anfragenden mit akutem Sterbewunsch. Sie erhielten Kontaktdaten von Selbsthilfegruppen, Suizidpräventionsstellen sowie wohnortnaher Palliativteams. Die anderen Anfragenden dieser Gruppe wollten mit ihren Primärbehandlern über Möglichkeiten der Symptomkontrolle sprechen.

Von den Anfragenden angegebene Erkrankungen (n = 53)
Tabelle 1
Von den Anfragenden angegebene Erkrankungen (n = 53)
Gründe für die Anfrage nach Suizidassistenz (Mehrfachantworten möglich, n = 69)
Tabelle 2
Gründe für die Anfrage nach Suizidassistenz (Mehrfachantworten möglich, n = 69)

Diskussion

Wir konnten zeigen, dass das Darlegen von Handlungsspielräumen und Versorgungsstrukturen (zum Beispiel die spezialisierte ambulante Palliativversorgung [SAPV]) sowie Möglichkeiten der Symptomlinderung dazu führte, dass der Suizidwunsch bei den meisten Anfragenden zunächst nicht weiter verfolgt wurde. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, Anfragen zu Sterbewünschen ernst zu nehmen und Hintergründe zu erforschen. Dazu ist es notwendig, Gesundheitspersonal im Umgang mit Sterbewünschen zu schulen.

Die meisten Anfragenden waren alleinlebend. Studien haben gezeigt, dass pflegebedürftige Menschen, die alleine leben, eher den assistierten Suizid für sich in Betracht ziehen (4). Solche Personen sollten intensiv begleitet und beraten werden. In unserer Kohorte ging es bei über 90 % nicht um einen akuten Sterbewunsch. Vielmehr stand primär das Ausloten verschiedener Optionen im Vordergrund. Dies macht deutlich, wie wichtig Aufklärung und die Intensivierung suizidpräventiver Maßnahmen sind. Hierzu gehört ausdrücklich auch die Hospiz- und Palliativversorgung. Palliativmedizin war vielen Fragenden ein Begriff, aber nur im Zusammenhang mit Krebserkrankungen am Lebensende. Zudem sind die Möglichkeiten der Symptomkontrolle im ambulanten Bereich durch die SAPV kaum bekannt.

Als Limitation der Studie ist aufzuführen, dass sie nur einen kleinen Teil der Menschen mit Sterbewünschen abbildet, die sich telefonisch an die DGP gewandt haben, was zu einem Stichprobenfehler führen kann. Bei Anfragen an andere Organisationen könnte sich ein anderes Bild ergeben.

Bei anhaltenden Sterbewünschen sollten alle Möglichkeiten der Gestaltung des Sterbens im Mittelpunkt stehen. Der Wunsch nach assistiertem Suizid sollte nicht als Sackgasse, sondern als Wendepunkt verstanden werden, um Versorgungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen aufzuzeigen sowie Autonomie und Selbstwirksamkeit zu fördern.

Yann-Nicolas Batzler, Heiner Melching, Manuela Schallenburger, Jacqueline Schwartz, Martin Neukirchen*, Claudia Bausewein*

*Die Autorin und der Autor teilen sich die Letztautorenschaft.

Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Batzler, Schallenburger, Schwartz, Neukirchen) yann-nicolas.batzler@med.uni-duesseldorf.de

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Berlin (Melching)

Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Neukirchen)

Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin, LMU Klinikum, Ludwig-Maximilians-Universität, München (Bausewein)

Interessenkonflikt
HM erklärt, dass die Gespräche im Rahmen seiner Arbeit als Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) erfolgten.

CB hat Honorare für Vorträge vor Deutschem Ethikrat, Caritas Ethikrat München, Schoberstiftung, Universitäten Halle und TU München, Kath. Akademie München, Ev. Akademie Tutzing, Hospiz- und Palliativeinrichtungen, Akademisches Forum der Diözese Augsburg erhalten.

Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 22.05.2023, revidierte Fassung angenommen: 13.07.2023

Zitierweise
Batzler YN, Melching H, Schallenburger M, Schwartz J, Neukirchen M, Bausewein C: Reasons for wanting assisted suicide—a retrospective evaluation of telephone inquiries. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: online first. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0178

Dieser Beitrag erschien online am 18.08.2023 (online first) unter: www.aerzteblatt.de

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Verein Sterbehilfe: Jahresrückblick 2022 in Zahlen. www.sterbehilfe.de/jahresrueckblick-2022-in-zahlen/ (last accessed on 6 April 2023).
2.
Vilpert S, Bolliger E, Borrat-Besson C, Borasio GD, Maurer J: Social, cultural and experiential patterning of attitudes and behaviour towards assisted suicide in Switzerland: evidence from a national population-based study. Swiss Med Wkly 2020; 150: w20275 CrossRef MEDLINE
3.
Borovecki A, Curkovic M, Nikodem K, et al.: Attitudes about withholding or withdrawing life-prolonging treatment, euthanasia, assisted suicide, and physician assisted suicide: a cross-sectional survey among the general public in Croatia. BMC Med Ethics 2022; 23: 13 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Stolz E, Mayerl H, Gasser-Steiner P, Freidl W: Attitudes towards assisted suicide and euthanasia among care-dependent older adults (50+) in Austria: the role of socio-demographics, religiosity, physical illness, psychological distress, and social isolation. BMC Med Ethics 2017; 18: 71 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: Zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in der Hospizarbeit und Palliativversorgung. 2021. www.dgpalliativmedizin.de/images/230509_Broschu%CC%88re_Suizidassistenz_v2.pdf (last accessed on 7 August 2023).
Von den Anfragenden angegebene Erkrankungen (n = 53)
Tabelle 1
Von den Anfragenden angegebene Erkrankungen (n = 53)
Gründe für die Anfrage nach Suizidassistenz (Mehrfachantworten möglich, n = 69)
Tabelle 2
Gründe für die Anfrage nach Suizidassistenz (Mehrfachantworten möglich, n = 69)
1.Verein Sterbehilfe: Jahresrückblick 2022 in Zahlen. www.sterbehilfe.de/jahresrueckblick-2022-in-zahlen/ (last accessed on 6 April 2023).
2.Vilpert S, Bolliger E, Borrat-Besson C, Borasio GD, Maurer J: Social, cultural and experiential patterning of attitudes and behaviour towards assisted suicide in Switzerland: evidence from a national population-based study. Swiss Med Wkly 2020; 150: w20275 CrossRef MEDLINE
3.Borovecki A, Curkovic M, Nikodem K, et al.: Attitudes about withholding or withdrawing life-prolonging treatment, euthanasia, assisted suicide, and physician assisted suicide: a cross-sectional survey among the general public in Croatia. BMC Med Ethics 2022; 23: 13 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Stolz E, Mayerl H, Gasser-Steiner P, Freidl W: Attitudes towards assisted suicide and euthanasia among care-dependent older adults (50+) in Austria: the role of socio-demographics, religiosity, physical illness, psychological distress, and social isolation. BMC Med Ethics 2017; 18: 71 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: Zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in der Hospizarbeit und Palliativversorgung. 2021. www.dgpalliativmedizin.de/images/230509_Broschu%CC%88re_Suizidassistenz_v2.pdf (last accessed on 7 August 2023).

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