ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2023Untersuchung der räumlichen Erreichbarkeit von Gedächtnisambulanzen in Deutschland
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Die medizinische Versorgung von Betroffenen mit demenziellen Syndromen stellt die Gesellschaft vor dem Hintergrund der weiter alternden Bevölkerung vor zunehmende Herausforderungen. Weltweit rechnet man bis zum Jahr 2050 mit einem Anstieg von aktuell knapp 57 Millionen Demenzerkrankten auf über 150 Millionen Betroffene (1). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die medizinische Forschung auf potenziell präventive und kurative Ansätze fokussiert. Durch die bundesweite Gründung von Wissenschaftsstandorten wie den Deutschen Zentren für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) wurde bereits ein wichtiger Meilenstein gesetzt, um translationale Ansätze in Zusammenarbeit mit Universitätskliniken auf dem Gebiet der Demenzforschung weiter zu fördern. Zusätzlich sorgen etablierte Gedächtnissprechstunden für eine notwendige medizinische Betreuung einer Vielzahl von Betroffenen. Daher wird sich zukünftig die Frage stellen, wie bei einer wachsenden Anzahl von Patientinnen und Patienten einerseits die frühzeitige und multimodale flächendeckende Diagnostik gewährleistet werden soll und andererseits mögliche therapeutische Ansätze den Erkrankten zeitnah und effizient zur Verfügung gestellt werden können. Da Betroffene weiterhin aufgrund der typischen Altersstruktur sowie krankheitsbedingten Einschränkungen häufig auf Unterstützung aus ihrem Umfeld angewiesen sind, ist eine heimatnahe Betreuung durch spezialisierte Schwerpunktzentren sinnvoll.

Ziel dieser Untersuchung war es daher, mittels einer geografischen Analyse den Bedarf und die Erreichbarkeit für spezialisierte Strukturen zur Demenzbehandlung zu erkennen. Neben der geografischen Analyse der Erreichbarkeit der bisher bestehenden Gedächtnisambulanzen (Memory Clinics) wurde dabei auch herausgearbeitet, welche medizinischen Fachrichtungen in die spezifische Diagnostik und Therapie von Patientinnen und Patienten mit Gedächtnisstörungen eingebunden sind.

Methoden

Dazu wurde die geografische Distanz zu spezialisierten Strukturen im Demenzbereich berechnet. Daten für Standorte von Gedächtnisambulanzen und Memory Clinics wurden am 31.10.2022 von den jeweiligen Websites abgerufen (www.alzheimer-forschung.de/alzheimer/diagnose/gedaechtnisambulanz/; www.dzne.de/ueber-uns/standorte/, www.dga-netz.de/ambulanz/-ber-uns.html). Zum Zwecke geografischer Erreichbarkeitsanalysen wurden mittels einer lokalen Installation von openrouteservice sogenannte Isochrone berechnet. Dies sind Flächen beziehungsweise Gebiete, die von einem bestimmten Punkt aus mithilfe eines vordefinierten Verkehrsmittels in einer definierten Zeit erreichbar sind. Für zusammengefasste Personenkraftwagen-spezifische Isochrone der verschiedenen Netzwerkstrukturen wurde mithilfe des öffentlich verfügbaren Datensatzes Global Human Settlement Population Grid 2019 die abgedeckte Bevölkerung für das Jahr 2015 berechnet (aktuellstes verfügbares Jahr).

Ergebnisse

166 Memory Clinics und Gedächtnisambulanzen waren zum Zeitpunkt der Analyse in Deutschland in den Quellen gelistet. Anhand der Isochronen-Karten (Grafik 1) wird ersichtlich, dass eine Fahrtzeit zu einer spezialisierten Einrichtung unter 30 Minuten in einigen Regionen nicht realisiert werden und daher nur für 63 % der Bevölkerung in der aktuellen Versorgungslandschaft angenommen werden kann. Innerhalb einer Stunde können jedoch fast flächendeckend in Deutschland entsprechende Zentren erreicht werden und somit mehr als 90 % der Bevölkerung somit abgedeckt werden. Ausnahmen stellen einzelne Regionen dar, welche sich vor allem im Nordosten Deutschlands finden. Hier müssen Betroffene teils 120 Minuten Fahrtzeit in Kauf nehmen. Der Fachbereich Psychiatrie deckt dabei einen Großteil der entsprechenden Einrichtungen fachärztlich ab, wohingegen rein neurologische und internistisch/geriatrisch geführte Einrichtungen die Minderheit darstellen.

Räumliche Abdeckung Deutschlands durch Memory Clinics und Gedächtnisambulanzen nach Fahrzeit
Grafik 1
Räumliche Abdeckung Deutschlands durch Memory Clinics und Gedächtnisambulanzen nach Fahrzeit
Gedächtnisambulanzen und Memory Clinics in Deutschland
Grafik 2
Gedächtnisambulanzen und Memory Clinics in Deutschland

Diskussion

Durch die vorliegenden Analysen konnte gezeigt werden, dass ein Großteil der Bevölkerung einen Zugang zu entsprechenden Einrichtungen in adäquater Fahrzeit hat. Dennoch muss vor dem Hintergrund des meist höheren Alters der Betroffenen sowie der krankheitsassoziierten kognitiven Einschränkungen ergänzt werden, dass für einige Regionen bereits eine relevante Fahrtdistanz überwunden werden muss, um Zugang zu spezialisierten Zentren zu erhalten. Darüber hinaus ist die aktuelle Anzahl dieser Einrichtungen wahrscheinlich nicht ausreichend, um den wachsenden Bedarf an spezialisierter Betreuung zu decken. Vergleicht man diese beispielsweise mit der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose, so stehen hier über 200 zertifizierte Einrichtungen für über 250 000 Patientinnen und Patienten zur Verfügung, welche neue Therapieansätze anbieten können (2). In Frankreich gibt es beispielsweise auf die Fläche des Landes bezogen weit mehr spezialisierte Einrichtungen für demenzielle Syndrome (3). Einschränkend sollte erwähnt werden, dass die vorliegenden Analysen demografische Verteilungen nicht miteinbeziehen, was für eine Bedarfsanalyse von Demenz-spezifischen Versorgungseinrichtungen sicherlich hilfreich wäre. Insbesondere unter Berücksichtigung der voraussichtlich in naher Zukunft auch in Europa verfügbaren Aymloidantikörpertherapie zur Behandlung der Alzheimererkrankung, könnte es zu einer Herausforderung in Bezug auf die Patientenversorgung kommen (4). Ab dem Zeitpunkt der Zulassung wird der Stellenwert der Diagnostik in frühen oder präklinischen Stadien der Erkrankung nochmals drastisch steigen. Zeitaufwendige neuropsychologische Untersuchungen und bislang obligate Liquor- oder PET-Untersuchungen zum Nachweis der Amyloidpathologie gehen mit einem deutlich höherem Ressourceneinsatz einher. In zukünftigen Analysen sollte daher auch die aktuelle Versorgungsstruktur im haus- und fachärztlichen Bereich analysiert werden, da hier spätestens nach Therapiezulassung eine breite Anwendung umgesetzt werden wird. Zur Sicherstellung einer spezialisierten Demenzbehandlung sind daher die Anpassung der Ressourcen an den gesteigerten Bedarf und der Ausbau von entsprechenden Zentren und Patientenpfaden erforderlich. Hierbei können telemedizinische Sprechstunden oder Demenzboards helfen. Digitale Anwendungen zur Detektion früher kognitiver Störungen könnten weiterhin eine frühzeitige und leicht zu implementierende Lösung bieten. Auch in klinischen Alzheimer-Studien zeigt sich bereits ein zunehmender Einsatz von digitalen Gesundheitstechnologien, beispielsweise um kognitive Veränderungen engmaschiger zu überwachen (5).

Interessenkonflikt
UW erhielt Beraterhonorare von Roche und Biogen. Er ist Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen und Präsident des Spitzenverbandes ZNS SPiZ.

Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 15.03.2023, revidierte Fassung angenommen: 07.06.2023

Zitierweise
Masanneck L, Butryn M, Nelke C, Repple J, Meier U, Düzel E, Meuth SG, Pawlitzki M: A study of the geographic accessibility of outpatient memory clinics in Germany. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 597–8. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0149

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
GBD 2019 Dementia Forecasting Collaborators: Estimation of the global prevalence of dementia in 2019 and forecasted prevalence in 2050: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet Public Health 2022; 7: e105–25 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.
Masanneck L, Räuber S, Schroeter CB, et al.: Driving time-based identification of gaps in specialised care coverage: an example of neuroinflammatory diseases in Germany. Digit Health 2023; 9: 20552076231152988 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Dubois B, Bombois S, Villain N, et al.: Pour une prise en charge préventive de la maladie d’Alzheimer. Bull Acad Natl Med 2020; 204: 583–8 CrossRef CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
van Dyck CH, Swanson CJ, Aisen P, et al.: Lecanemab in early Alzheimer’s disease. N Engl J Med 2023; 388: 9–21 CrossRef MEDLINE
5.
Masanneck L, Gieseler P, Gordon WJ, Meuth SG, Stern AD: Evidence from ClinicalTrials.gov on the growth of digital health technologies in neurology trials. NPJ Digit Med 2023; 6: 1–5 CrossRef MEDLINE PubMed Central
Lars Masanneck, Michaela Butryn, Christopher Nelke, Jonathan Repple, Uwe Meier, Emrah Düzel, Sven G. Meuth, Marc Pawlitzki
Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Düsseldorf (Masanneck, Nelke, Meuth, Pawlitzki) marcguenter.pawlitzki@med.uni-duesseldorf.de
Hasso-Plattner-Institut, Potsdam (Masanneck)
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankung (DZNE), Standort Magdeburg (Butryn, Düzel)
Institut für kognitive Neurologie und Demenzforschung, Otto von Guericke Universität, Magdeburg (Butryn, Düzel)
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Frankfurt, Frankfurt am Main (Repple)
Neuro-Centrum Grevenbroich/Dormagen (Meier)
Räumliche Abdeckung Deutschlands durch Memory Clinics und Gedächtnisambulanzen nach Fahrzeit
Grafik 1
Räumliche Abdeckung Deutschlands durch Memory Clinics und Gedächtnisambulanzen nach Fahrzeit
Gedächtnisambulanzen und Memory Clinics in Deutschland
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Gedächtnisambulanzen und Memory Clinics in Deutschland
1.GBD 2019 Dementia Forecasting Collaborators: Estimation of the global prevalence of dementia in 2019 and forecasted prevalence in 2050: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet Public Health 2022; 7: e105–25 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.Masanneck L, Räuber S, Schroeter CB, et al.: Driving time-based identification of gaps in specialised care coverage: an example of neuroinflammatory diseases in Germany. Digit Health 2023; 9: 20552076231152988 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Dubois B, Bombois S, Villain N, et al.: Pour une prise en charge préventive de la maladie d’Alzheimer. Bull Acad Natl Med 2020; 204: 583–8 CrossRef CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.van Dyck CH, Swanson CJ, Aisen P, et al.: Lecanemab in early Alzheimer’s disease. N Engl J Med 2023; 388: 9–21 CrossRef MEDLINE
5.Masanneck L, Gieseler P, Gordon WJ, Meuth SG, Stern AD: Evidence from ClinicalTrials.gov on the growth of digital health technologies in neurology trials. NPJ Digit Med 2023; 6: 1–5 CrossRef MEDLINE PubMed Central

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