ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2023KBV-Krisensitzung: Der Geduldsfaden wird dünner

POLITIK

KBV-Krisensitzung: Der Geduldsfaden wird dünner

Beerheide, Rebecca; Lau, Tobias

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Mit sieben Forderungen an die Bundespolitik wollen die Mitglieder der Vertreterversammlungen von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und der Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern sich Gehör verschaffen. Sie fürchten einen baldigen Praxiskollaps und fordern Antworten vom Bundesgesundheitsminister binnen vier Wochen.

Gemeinsame Protestaktion: Rund 700 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten forderten in Berlin Reformen für eine bessere ambulante Versorgung. Fotos: Jürgen Gebhardt
Gemeinsame Protestaktion: Rund 700 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten forderten in Berlin Reformen für eine bessere ambulante Versorgung. Fotos: Jürgen Gebhardt

Es muss jetzt Schluss sein“, diese Einschätzung der Vorsitzenden der KV Mecklenburg-Vorpommern, Dipl.-Med. Angelika von Schütz, teilten viele der rund 700 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die Mitte August zur „Krisensitzung der Ärzteschaft“ nach Berlin gekommen waren.

Bei der gemeinsamen Sitzung der Mitglieder der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den Mitgliedern der Vertreterversammlungen der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) wollten sie ein Zeichen gegen den aktuellen Kurs der Gesundheitspolitik setzen. Sie fürchten, dass der Zusammenbruch der ambulanten Versorgung in heutiger Form drohe, sofern sich nicht zügig einige Dinge ändern.

„Es ist die Pflicht der Politik, diesen Zusammenbruch zu verhindern“, hatte die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Dr. med. Petra Reis-Berkowicz, zur Eröffnung der für die ärztliche Standespolitik ungewöhnlich hitzigen Sitzung erklärt. „Wir leben im Ausnahmezustand, nicht nur hier und heute, sondern jeden Tag in unseren Praxen“, sagte Reis-Berkowicz, immer wieder unterbrochen von langanhaltendem Applaus. „Wir müssen laut sein, denn Warnungen und Vorschläge allein verfangen offenbar nicht.“ Neben den wirtschaftlichen und operativen Grundproblemen – die von der „leistungs- und patientenfeindlichen Budgetierung“, wie Reis-Berkowicz sagte, bis zur Überbürokratisierung reichten – würden dabei durch „permanente politische Gängelung, wahlweise auch Diskreditierung oder sogar Verleumdung“ ergänzt.

Viele Versprechen gebrochen

„Es wird einem angst und bange, wenn man sieht, wie fahrlässig die Politik die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel setzt“, beklagte sie. Die Bundesregierung verschließe die Augen vor den tatsächlichen Problemen, kritisierte auch KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. med. Andreas Gassen. Lauterbach verspreche allen alles und halte nichts davon. Dazu zähle auch, dass es keine Leistungskürzungen geben werde. „Die Leistungskürzungen finden doch längst statt, und zwar jeden Tag“, betonte er. Die ambulante Versorgung sei im Vergleich zu den Krankenhäusern massiv unterfinanziert, auch das lasse sich belegen.

In der weiteren Sitzung diskutierten die Vertreterinnen und Vertreter entlang eines Sieben-Punkte-Forderungskatalogs (siehe folgende Seiten). Es sei gelungen, trotz aller Emotionalität und Frustration gemeinsam die Forderungen für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik herauszuarbeiten, erklärte KBV-Vorstandsmitglied Dr. med. Sibylle Steiner. Viele Mitglieder hätten der KBV schriftlich oder telefonisch ihre Sorgen und Forderungen mitgeteilt. „Auf dieses Engagement können wir alle stolz sein.“

Forderung 1: Eine tragfähige Finanzierung müsse die derzeitigen faktischen Minusrunden ersetzen. Der gesetzliche Rahmen sei derzeit zu eng gefasst, der Orientierungswert ist in den Jahren 2019 und 2022 kumuliert um sechs Prozent gestiegen, die Inflation in dem Zeitraum allerdings um 11,9 Prozent. Künftig müssten Kostensteigerungen jeder Art berücksichtigt und dürfe nicht durch den Grundsatz der Beitragsstabilität für die gesetzliche Krankenversicherung begrenzt werden. Was plant die Gesundheitspolitik: Eine grundlegende Reform des Honorarsystems steht derzeit nicht auf der politischen Tagesordnung.

John Afful, KV Hamburg
John Afful, KV Hamburg

Unter dem Eindruck der laufenden Honorarverhandlungen zwischen der KBV und dem GKV-Spitzenverband kritisierten die Vertreterinnen und Vertreter aus 17 KVen die derzeitige Lage, denn sie werden alle von ähnlichen Sorgen geplagt: „Das Angebot des GKV-Spitzenverbandes von 2,1 Prozent ist einfach nur frech“, so John Afful, Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg, mit Blick auf die Verhandlungen zum Orientierungswert für die Honorarerhöhungen. Die KBV fordert 10,2 Prozent. Insgesamt werde nicht einmal die anhaltende Inflation abgebildet. Bliebe es bei der aktuell angespannten Situation in der ambulanten Versorgung, müsse „Karl Lauterbach eine ganz andere Krankenhausreform planen, als die er derzeit vorhat“, so Afful. Denn die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte versorgen weitaus mehr Patientinnen und Patienten, als es deutschlandweit Krankenhausbetten gibt.

Es sei auch die Aufgabe der Gesundheitspolitik, eine ausreichende Finanzierung sicherzustellen. „Wenn die Krankenkassen es nicht leisten können, weil sie Milliarden für versicherungsfremde Leistungen ausgeben, dann muss die Politik halt Steuergeld in die Hand nehmen“, erklärte Gassen in seiner Rede. Die Krankenkassen beklagen seit Jahren, dass sie rund zehn Milliarden Euro für Leistungen aus den GKV-Mitteln zahlen, die als familienpolitische Leistung eigentlich eine Aufgabe für eine Finanzierung aus Steuern ist.

Monika Schliffke, KV Schleswig-Holstein
Monika Schliffke, KV Schleswig-Holstein

Daher müsse auch das „All-inclusive-Versprechen des Ministers“ weg, über das sich besonders Dr. med. Dipl.-Oec. med. Monika Schliffke, Vorsitzende der KV Schleswig-Holstein, ärgerte. Und nun werde in den aktuellen Honorarverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband die Honorare für die Coronaschutzimpfungen der vergangenen Jahre aufgerechnet, das sei ungerecht. Die Impfungen seien in der ambulanten Versorgung deutlich günstiger als in den Zentren, die Bund und Länder mit den Kommunen betrieben haben. „Man hat das Gefühl, dass BMG wird inzwischen vom GKV-Spitzenverband gesteuert“, so Schliffke.

Forderung 2: Die Budgetierung müsse abgeschafft werden, damit Praxen auch für die Leistungen bezahlt werden, die sie erbringen. Laut KBV würden jährlich den Praxen durch die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung zwei Milliarden Euro vorenthalten. Zudem werde die wirtschaftliche Eigenverantwortung der Praxen geraubt. Was plant die Gesundheitspolitik: Die Pädiatrie wurde im Frühjahr entbudgetiert, hausärztliche Leistungen sollen folgen. Allerdings ist das noch kein Teil eines aktuellen Gesetzesvorhabens. Für weitere Fachgruppen hat die Bundesregierung bisher keine Entbudgetierung vorgesehen.

Peter Heinz, KV Rheinland-Pfalz
Peter Heinz, KV Rheinland-Pfalz

Die unzureichende Finanzierungssituation beruht auf einer Regulierung für die niedergelassene Ärzteschaft, die seit mehr als 30 Jahren besteht: So erinnerte der Vorstandsvorsitzende der KV Rheinland-Pfalz, Dr. med. Peter Heinz, daran, wie 1992 der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) angesichts der damals herrschenden Überversorgung bei einer Klausur in Lahnstein die Bedarfsplanung mit Zulassungssperren konzipierte. „Das war die Geburtsstunde des Budgets. Man sagte damals, man wolle das mal drei Jahre ausprobieren, wie es geht.“ Doch dabei ist es nicht geblieben. „Heute haben wir völlig andere Rahmenbedingungen. Die Praxen sind am Limit, aber an der Bedarfsplanung wird festgehalten – weil das billig ist.“ Kritik an den nun über 30 Jahre alten Beschlüssen untermauerte auch San.-Rat Prof. Dr. med. Harry Derouet, Vorsitzender der KV Saarland. Mit dieser „Kostenstabilität ohne Patientensteuerung“ stünden die Praxen nun „kurz vor dem Kollaps“.

Jörg Böhme, KV Sachsen-Anhalt
Jörg Böhme, KV Sachsen-Anhalt

Dr. med. Jörg Böhme, Vorsitzender der KV Sachsen-Anhalt, zeigte ein regionales Beispiel auf: „75 Millionen Euro und damit 25 000 Euro pro Praxis und Jahr, das ist die Höhe der Leistung, die Ärzte und Psychotherapeuten in Sachsen-Anhalt 2022 aufgrund der Budgetierung nicht finanziert bekommen haben. Diese war aber zur Versorgung der älter werdenden Bevölkerung notwendig und wurde von engagierten Praxisteams erbracht, aber nicht bezahlt“, sagte er. „Wer die Budgetierung aufrechterhält, darf sich nicht über Fehlende Ärzte, lange Wartezeiten und weite Patientenwege beklagen.“ Die Budgetierung müsse für alle Fachgruppen beendet werden.

Annette Rommel, KV Thüringen
Annette Rommel, KV Thüringen

„Die leistungsfeindlichen Budgets müssen weg“, rief Dr. med. Annette Rommel, Vorsitzende der KV Thüringen in den Raum. Gerade in Bundesländern, in denen es eine alternde Bevölkerung gibt, seien diese Budgets nicht mehr zeitgemäß. „Wer kann schon auf Dauer 100 Prozent arbeiten und nur 75 Prozent davon vergütet bekommen? Da geht uns betriebswirtschaftlich die Puste aus“, so Rommel. Daher müsse das unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik beendet werden. Sie warnte, dass die angekündigte Entbudgetierung für Hausärzte eine „Mogelpackung“ werden könne, wenn diese „ebenso halbherzig angegangen wird wie das für die Kinder- und Jugendärzte“.

Forderung 3: Die seit Langem versprochene Ambulantisierung solle endlich umgesetzt werden. Mehr als derzeit vier Millionen stationär erbrachte Operationen pro Jahr könnten künftig ambulant erbracht werden. Damit gebe es gleiche „Spielregeln“ für Krankenhäuser und Praxen und es würde rund ein Viertel der jeweiligen Kosten für die Krankenkassen verursacht werden. Was plant die Gesundheitspolitik: Derzeit arbeitet das BMG an einem Schritt in diese Richtung: Eine Rechtsverordnung zur sektorengleichen Vergütung mittels sogenannter Hybrid-DRG soll noch dieses Jahr kommen.

Kerstin Zeise, KV Berlin
Kerstin Zeise, KV Berlin

Dr. med. Kerstin Zeise, die stellvertretende Vorsitzende der Vertreterversammlung (VV) der KV Berlin, erinnerte an den Protest der HNO-Ärzte Anfang des Jahres gegen die Honorare für ambulante OPs. „Eine Ambulantisierung in der Medizin funktioniert nicht, ohne dass die Niedergelassenen einbezogen werden“, so Zeise. Sie mahnte die Ärzteschaft in den anstehenden Diskussionen, zusammenzustehen und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen.

Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender DPtV
Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender DPtV

An der Belastungsgrenze arbeiten auch die Praxen der Psychotherapeuten, betonte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV). „Auch in der Psychotherapie besteht ein deutlicher Trend zur Ambulantisierung“, sagte er. Allein während der Coronapandemie sei ein Anstieg der Nachfrage in den Praxen um 40 Prozent verzeichnet worden, für die kommenden Jahre prognostiziere das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung einen weiteren Anstieg um 25 Prozent. „Diese können wir in den bestehenden Versorgungsstrukturen nicht bewältigen“, unterstrich er. Es müssten mehr Versorgungskapazitäten geschaffen und Vertragspsychotherapeutinnen zugelassen werden.

Stefan Trapp, KV Bremen
Stefan Trapp, KV Bremen

Dr. med. Stefan Trapp, VV-Vorsitzender der KV Bremen, macht auf die Situation der Medizinischen Fachkräfte (MFA) aufmerksam: Bei den derzeit laufenden Honorarverhandlungen mit den Krankenkassen auf Bundesebene geht es auch um die Finanzierung der MFA in den Praxen. Denn diese sind auf dem Arbeitsmarkt heftig umworben, gerade Krankenhäuser locken mit deutlich höheren Gehältern. „Der Minister muss nun Farbe bekennen, was für eine Art der Versorgung er denn gerne haben will“, so Pädiater Trapp. Der Mangel an Personal in den Praxen könne nicht mit künftigen Community Health Nurses ausgeglichen werden. Die MFAs seien die Stütze in der Praxis, auch sie seien „nah an den Menschen dran“, wie es die Politik gerne für sich beanspruche.

Forderung 4: Die Digitalisierung soll der Verbesserung der Versorgung dienen. Dazu müsse der Fokus auf nutzerfreundlicher und funktionstüchtiger Technik liegen statt wie bisher auf der Durchsetzung fehlerhafter Anwendungen mittels wirtschaftlicher Sanktionen. Was die Gesundheitspolitik plant: Die Digitalisierung will das BMG mit mehreren Gesetzentwürfen voranbringen. Ende August beschließt das Bundeskabinett das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Das BMG hält aber an Sanktionen fest und macht den IT-Anbietern keine festen Vorgaben zu Funktionsfähigkeit und Nutzerfreundlichkeit.

Stefan Spieren, KV Westfalen-Lippe
Stefan Spieren, KV Westfalen-Lippe

Unter großem Applaus griff Dr. med. Stefan Spieren von der KV Westfalen-Lippe die nach der Meinung der Vertragsärzte leidigsten Themen auf, die die staatliche Digitalisierungspolitik in den Praxen verursacht. „Wir Ärzte brennen für innovative, versorgungsverbessernde digitale Anwendungen“, versicherte er. Die unausgereifte Technik, die unter Androhung von Sanktionen in den Praxisbetrieb gedrückt werde, sei jedoch das genaue Gegenteil. „Es entsteht der Eindruck, dass wir Praxen als Beta-Tester für unausgereifte Anwendungen fungieren, ohne dass uns vorher jemand gefragt hätte, was wir eigentlich brauchen“, sagte er und forderte Lauterbach auf, die Ärzteschaft viel stärker als bisher in die Entwicklung neuer Anwendungen einzubinden. Neue Arbeitsaufwände für die Einführung und Nutzung dieser Anwendungen treffen dabei auf ohnehin überlastete Praxen. Die Vorsitzende der KV Schleswig-Holstein, Schliffke, forderte mehr Ehrlichkeit von Bundesgesundheitsministerium: „Hier wird mit gezinkten Karten gespielt. Es werden mediale Bilder produziert, die nicht passen“, so Schliffke mit Blick auf die Digitalisierung. Man sei nicht der IT-Berater der Patienten oder die Befüllungsgehilfen für eine Patientenakte. Dies sei eine „Respektlosigkeit, denn wir haben weitaus besseres zu tun, als uns mit dieser Sache auseinanderzusetzen.“

Sibylle Steiner, KBV-Vorstandsmitglied
Sibylle Steiner, KBV-Vorstandsmitglied

Auch KBV-Vorstandsmitglied Sibylle Steiner betonte, dass die Ärzteschaft die Treiber der Digitalisierung und nicht deren Bremser sind. Daher dürfe in den aktuellen Gesetzesentwürfen keine weiteren Sanktionen angedroht werden.

Forderung 5: Die ärztliche und psychotherapeutische Weiterbildung müsse schwerpunktmäßig ambulant stattfinden, um medizinisch und technisch auf dem aktuellen Stand zu sein. Dazu müssten auf Bundes- und Landesebene regulative Voraussetzungen für eine tragfähige Finanzierung geschaffen werden, die den Aufwand für Praxen deckt. Was die Gesundheitspolitik plant: Im Rahmen der derzeit vorbereiteten Krankenhausstrukturreform ist in einem Eckpunktepapier vorgesehen, dass Weiterbildungen hauptsächlich in Krankenhäusern der geplanten Level 1i stattfinden sollen – also genau das Gegenteil der KBV-Forderung.

Armin Beck, KV Hessen
Armin Beck, KV Hessen

Armin Beck, stellvertretender Vorsitzender der KV Hessen, mahnte die Gesundheitspolitiker, die ambulante Weiterbildung nicht zu vergessen. Viele Praxisinhaber suchten derzeit Nachfolger. „Ambulante Medizin kann man aber im Krankenhaus nicht erlernen“, so Beck. Er forderte eine bessere Finanzierung der Weiterbildung, nicht mehr aus den ärztlichen Honorartöpfen. Diese „gesamtgesellschaftliche Aufgabe muss nicht auch noch von uns bezahlt werden“, so Beck.

Frank Bergmann, KV Nordrhein
Frank Bergmann, KV Nordrhein

Dem stimmte auch Dr. med. Frank Bergmann, Vorsitzender der KV Nordrhein, zu: Viele ärztliche Prozeduren könnten in Krankenhäusern nicht mehr gelehrt werden. „Praxen und das KV-System leisten hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir aber nicht mehr in dem Umfang aus unseren eigenen Mitteln bestreiten können.“ Der Bedarf werde in den nächsten Jahren wachsen.

Forderung 6: Die ausufernde Bürokratie müsse endlich verringert werden, fordert die KBV. Insgesamt 55,8 Millionen Nettoarbeitsstunden würden jährlich allein durch Informationspflichten – das sind pro Praxis 61 Arbeitstage oder ein ganzes Quartal – im Jahr nur für Formulare, Berichte oder Krankenkassenanfragen anfallen. Was die Gesundheitspolitik plant: Das BMG hat ein Bürokratieabbaupaket angekündigt, das aber immer noch auf sich warten lässt. Laut SGB V muss das BMG bis zum 30. September dieses Jahres Empfehlungen zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen vorlegen.

Eckart Lummert, KV Niedersachsen.
Eckart Lummert, KV Niedersachsen.

60 Tage im Jahr bringe ein/e durchschnittliche/r Ärztin, Arzt oder Psychotherapeutin oder -therapeut in Deutschland nur für den „Papierkram“ auf, erklärte Dr. med. Eckart Lummert, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Niedersachsen. „Das ist für uns Mediziner und Psychotherapeuten ein Quartal reine Verwaltungstätigkeit, damit wir den Krankenkassen, den Behörden und all denen, die von uns was wollen, gerecht werden“, sagte er. „Junge Leute, die zu uns in die Praxis kommen, um Famulaturen oder Weiterbildungen zu machen, können überhaupt nicht nachvollziehen, was da alles ausgefüllt wird und warum wir das tun.“ Die Folge sei nicht zuletzt die Abwanderung junger Leute in Länder wie Schweden, wo sie nicht unbedingt mehr verdienen würden, aber schlicht bessere Arbeitsbedingungen hätten.

Forderung 7: Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen und mit ihnen die Arzneimittelregresse müssen abgeschafft werden, fordert die KBV. Nichts, was medizinisch veranlasst und begründet ist, dürfe finanzielle Forderungen der Krankenkassen nach sich ziehen. Was die Gesundheitspolitik plant: Bei den Apotheken hat der Gesetzgeber die Vorgaben für Retaxationen – das Pendant zu den Regressen – jüngst mit dem Arzneimittelengpassgesetz verschärft, um ihnen mehr Beinfreiheit zu geben. Für den ärztlichen Bereich sind solche Pläne nicht bekannt.

Peter Heinz, KV Bayern
Peter Heinz, KV Bayern

Zu dieser ohnehin schon betriebswirtschaftlich unzureichenden Situation komme dann noch die Regressbedrohung durch die Krankenkassen, betonte auch Dr. med. Peter Heinz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Bayerns. Die Anzahl der Prüfanträge im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen nehme stetig zu. „Dabei geht es in der Regel nur um kleine Rückforderungssummen, die aber einen massiven organisatorischen und administrativen Aufwand für die Praxen verursachen“, erklärte er unter Applaus. „Kosten und Nutzen stehen hier in keinem vernünftigen Verhältnis.“ Die KV Bayerns habe berechnet, dass, die Anzahl der Rückforderungsbescheide um 50 Prozent sinken würde, wenn man die Geringfügigkeitsgrenze von 30 auf 50 Euro erhöhen würde, während sich das Gesamtvolumen der Rückforderungssummen um gerade einmal vier Prozent verringern würde. „Man sieht hier, was da für Arbeit produziert und aufgebauscht wird für nichts“, kritisierte er. Appelle an die Krankenkassen hätten nichts genützt, es brauche deshalb auf Bundesebene eine angemessene Geringfügigkeitsgrenze. „Und wir brauchen endlich eine Gebühr für die Krankenkassen, wenn sich die Prüfanträge als unsinnig und ungerechtfertigt herausstellen.“

Karsten Braun, KV Baden-Württemberg
Karsten Braun, KV Baden-Württemberg

Auch für den Vorsitzenden der KV Baden-Württemberg, Dr. med. Karsten Braun, sind die Arzneimittelregresse eins der größten Ärgernisse. Nach seinen Schilderungen werden viele Praxen mit Einzelfallprüfungen überzogen, die letztendlich Bagatellbeträge zurückfordern. „Es gibt auch Krankenkassen, die das professionell betreiben, um ihre Finanzsituation zu verbessern“, so Braun. An den Bundesminister gerichtet, erklärte er: „Beenden Sie die Schikane! Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen haben nichts mehr mit Wirtschaftlichkeit zu tun.“

Beschluss der Forderungen

Tosender Applaus für die KBV-Spitze: Der Vorstand der KBV, Stefan Hofmeister (links), Sibylle Steiner (2. von links), Andras Gassen (2. von rechts), sowie die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Petra Reis-Berkowicz (rechts)
Tosender Applaus für die KBV-Spitze: Der Vorstand der KBV, Stefan Hofmeister (links), Sibylle Steiner (2. von links), Andras Gassen (2. von rechts), sowie die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Petra Reis-Berkowicz (rechts)

Das intensiv diskutierte Forderungspapier beschlossen die Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung mit absoluter Mehrheit und ohne Gegenstimmen. Der stellvertretende KBV-Vorsitzende Dr. med. Stephan Hofmeister forderte Minister Lauterbach im Namen der KBV und der KVen auf, bis zum 13. September – also zwei Tage vor der nächsten regulären KBV-Vertreterversammlung – zu den Forderungen Stellung zu nehmen. „In einer Frist von vier Wochen können wir das auch erwarten.“ Hofmeister stellte klar, wenn der Bundesgesundheitsminister nichts ändere, dann müssten die Reaktionen der Vertragsärzteschaft auch in der Bevölkerung spürbar sein. Schließlich stünden bei Schließungen von Krankenhäusern die Bürgerinitiativen parat und gingen auf die Straße. Dann seien die KBV, die KVen, die Berufsverbände, „aber auch Sie in den Praxen gefragt“, auf die Probleme aufmerksam zu machen.

„Wir haben einen Vertrag mit der Politik“, sagte Hofmeister Bezug nehmend auf den Sicherstellungsauftrag, den die KVen für die ambulante Versorgung innehaben. Für diesen Vertrag erhalte man ein auskömmliches Einkommen, gleichzeitig gebe es ein Streikverbot. „Das ist der Urvertrag und der ist gebrochen!“, kritisierte Hofmeister unter lautem Beifall. „Wer heute nicht verstanden hat, was wir geschrieben haben, ist unwillig oder unfähig“, so der KBV-Vize weiter.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach verwies in einer ersten Reaktion auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) darauf, dass im Bereich der Hausärzte eine Aufhebung der Budgets „durchaus denkbar“ sei. Nach seiner Einschätzung gefährde aber nicht das Einkommen der Ärzte und Psychotherapeuten die Versorgung. „In den Praxen brauchen wir weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung, die funktioniert“, so Lauterbach.

Rebecca Beerheide, Tobias Lau

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