POLITIK
Neues Stationskonzept: Prozesse innovativ überdenken


Interprofessionelles Arbeiten ist im Krankenhaus eigentlich nichts Neues. Drei Stationen in Heidelberg testen allerdings gerade ein neues Konzept bei dem Kommunikation auf Augenhöhe sowie Projektarbeit, in der jedes Problem konstruktiv angegangen wird, großgeschrieben wird.
Der Schlüssel zu zufriedenerem Personal und einer interprofessionelleren Arbeit im Krankenhaus sowie einer gleichzeitig effektiven Ressourcenallokation liegt vielleicht in einem klassischen Whiteboard. Um ein solches versammelt sich das Team der Stroke-Unit Neurologie 5 an der Kopfklinik des Universitätsklinikums Heidelberg zweimal wöchentlich, um sich über aktuell laufende Projektvorhaben der Station auszutauschen.
Die Neurologie 5 gehört seit Anfang des Jahres zu einem von drei sogenannten Innovationsräumen Pflege an der Uniklinik Heidelberg. Vor dem Hintergrund des weiter zunehmenden Fachkräftemangels, der anstehenden Krankenhausreform mit der geplanten Zentralisierung und Spezialisierung sowie der parallel laufenden Ambulantisierung und vermutlichen Etablierung von kleineren Gesundheitszentren, den sogenannten Level-Ii-Krankenhäusern ist diese Initiative zu betrachten (Kasten).
Alle beteiligen sich regelmäßig an der Projektarbeit
„Alle Berufsgruppen treffen sich physisch für jeweils 15 Minuten vor einem großen Whiteboard“, erklärt Prof. Dr. med. Jan Purrucker, Neurologe und Oberarzt der Stroke-Unit mit 20 monitorisierten Betten. Die 21 Berufsgruppen, die auf der Station arbeiten, darunter Reinigungskräfte, Therapeutinnen und Therapeuten, Pflegefachkräfte sowie ärztliches Personal, sind zu diesen Treffen eingeladen. Wer gerade Zeit hat und auf der Station ist, schaut vorbei. „Zwischen zehn bis 20 Personen nehmen immer an den Treffen teil“, so Purrucker.
Das Team der Stroke-Unit tauscht sich dabei seit Juli dieses Jahres über gewünschte und bereits laufende Projekte aus. Diese Projekte sollen den Arbeitsalltag erleichtern, Prozesse und Zeitabläufe optimieren sowie die Patientenversorgung verbessern. „Jeder, der eine Idee hat, darf diese direkt einbringen“, so Purrucker.
Ein Projekt kann beispielsweise die Anpassung der Besuchszeitenregelung sein. „Die Idee ist, diese zu liberalisieren, sodass wir eine besucherfreundlichere Station werden“, erklärt Purrucker. Allerdings könnten damit auch Angehörige künftig zu bislang unüblichen Zeiten aktiver eingebunden werden, um zum Beispiel die Patientinnen und Patienten zu beruhigen und so Pflegekräfte zu entlasten und medikamentöse Maßnahmen zur Delirbehandlung zu vermeiden.
Interkulturelle Arbeit ist Thema bei Personal und Patienten
Ein anderes Projekt soll die Visite interdisziplinärer machen, sodass die jeweiligen Erkenntnisse der verschiedenen Berufsgruppen noch stärker zusammengebracht und damit die Patientenversorgung verbessert werden kann, erläutert Purrucker. Zudem sollen weitere Berufsgruppen, beispielsweise Therapeuten, Telefone erhalten, sodass sie besser erreichbar sind und Laufwege eingespart werden können. Darüber hinaus laufen Vorhaben zur interkulturellen Arbeit, einerseits um die Kommunikation und Arbeit zwischen Berufsgruppen aus verschiedenen Ländern zu verbessern, aber auch um entsprechende Patientinnen und Patienten besser versorgen zu können.
Vorbild der Heidelberger Stroke-Unit ist die Normalstation Neurologie 6 für neurodegenerative Erkrankungen, ebenfalls an der Kopfklinik am Uniklinikum Heidelberg, die bereits seit drei Jahren als Innovationsraum läuft. Die Neurologie 6 steht unter pflegerischer Leitung und ist damit der ärztlichen Leitung gleichgestellt. Zudem gibt es derzeit noch eine dritte Station an der Kopfklinik, die Radioonkologie, die auch dieses Prinzip verfolgt. Darüber hinaus überlegt die Kinderklinik Tübingen derzeit ein ähnliches Konzept auf einer neuen Intermediate-Care-(IMC-)Station einzuführen.
Entstanden ist der erste Innovationsraum in Heidelberg, nachdem die Arbeitsgruppe „Neue Pflege“ für alle Pflegekräfte des Universitätsklinikums im September 2019 konstruktive Lösungsmöglichkeiten für aktuelle Herausforderungen sammelten. „Wir haben vor drei Jahren mit acht Betten eine neue Station aufgebaut, die direkt von Beginn an als Innovationsraum gestartet ist“, erklärt Silvia Gröger, die als Pflegefachkraft auf der Neurologie 6 gearbeitet hat und jetzt im Projektmanagement der Pflegedienstleitung der Kopfklinik tätig und für die Innovationsräume zuständig ist. Heute ist die Station auf 16 Betten angewachsen, bis Jahresende sollen weitere vier dazukommen.
Auch dort steht die interprofessionelle Arbeit im Fokus. „Jeden Morgen um 9.30 Uhr gibt es ein kurzes Treffen, das rund 20 bis 30 Minuten dauert. Alle Fachdisziplinen und Berufsgruppen der Station versammeln sich und besprechen jeden Patienten und jede Patientin“, erklärt Gröger. Ziel sei es, kurz vor der Visite um 10 Uhr alle auf der Station auf den gleichen Wissensstand zu bringen. Jeder dürfe seine fachliche Meinung einbringen. „Doppelte oder dreifache Übergaben gibt es nicht mehr, dadurch sparen alle Beteiligten Zeit ein“, erläutert Gröger.
Wichtig sind bei den Innovationsräumen vor allem zwei Aspekte: Alles, was auf der Station schiefläuft oder als Problem angesehen wird, soll direkt als Projekt verpackt werden. Mit dieser Projektarbeit soll eine bessere Lösung im Team gefunden werden. Zum anderen ist die Kommunikation auf Augenhöhe wichtig. Die Pflegedienstleitung ist der ärztlichen Leitung beispielsweise gleichgestellt. Bezeichnend sind zudem sehr flache Hierarchien. Gelernt hat das Team des ersten Innovationsraums Pflege das unter anderem durch eine Design-Thinking-Expertin, die anfangs insbesondere Input zum Thema Teambuilding und Kommunikation auf Augenhöhe gegeben hat, erklärt Gröger.
Wie das Prinzip tatsächlich zu Zeitersparnis und mehr Zufriedenheit beim Personal führen kann, zeigt das Beispiel der autonomen Dienstplangestaltung. Gröger hatte in ihrer Zeit als Pflegefachkraft auf der Neurologie 6 dieses Projekt entwickelt, da sie aufgrund familiärer Verpflichtungen oftmals nicht die Frühschichten übernehmen konnte. Die Stationsleitung hingegen musste viel Zeit für die einzelnen Wünsche des Personals bei der Dienstplanschreibung aufwenden. Es kam zu vielen Täuschen; die Unzufriedenheit über den Dienstplan wuchs unter dem Personal. „Da kam uns die Idee, dass jeder seinen eigenen Wunschdienstplan schreiben könnte“, so Gröger. Seit einiger Zeit trägt nun jede Pflegefachkraft auf der Station in eine Exceltabelle ein, welche Früh-, Spät- oder Nachtdienste übernommen werden können. Diese Dienstpläne können für das gesamte Kalenderjahr bereits im Voraus eingetragen werden.
Gestaltungsfreiheit sorgt für Zufriedenheit
Daraufhin werden die einzelnen Tabellen in eine Gesamtübersicht gefasst, um zu sehen, wo es Überschneidungen gibt und wo Belegungen fehlen. Zwei bis drei Herausforderungen gebe es jeden Monat. In diesen Fällen gehe die Stationsleitung auf die betroffenen Mitarbeiter zu und klärt dies bilateral, so Gröger. Die Folge: Die Stationsleitung spart enorm Zeit ein, die Pflegekräfte sind zufriedener und können ihren privaten Alltag wie beispielsweise Arzttermine oder familiäre Verpflichtungen mit ihrer Arbeitszeit besser in Einklang bringen. „Seitdem haben wir deutlich weniger Fluktuation und weniger Krankschreibungen“, beobachtet Gröger auch im Vergleich zu anderen Stationen in der Kopfklinik. Bislang läuft diese Form der Dienstplangestaltung auf der Neurologie 6 nur für die Pflegefachkräfte, allerdings wäre diese Idee auch für ärztliche Schichten denkbar.
Jeder Innovationsraum, der neu aufgemacht beziehungsweise umgewandelt wird, soll hingegen zunächst selbst prüfen, welche Probleme sie haben und welche Lösungen dafür gefunden werden können, so Gröger. Vorgefertigte Lösungen seien nicht angedacht.
Evaluierungen und Befragungen sind vorgesehen
Die engere Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen funktioniere Purrucker und Gröger zufolge von Anfang an gut. Ob das Projekt zu einem längerfristigen Mehrwert führt, soll durch regelmäßige Evaluierungen anhand von Mitarbeiterbefragungen an den beiden neu dazugewonnenen Stationen analysiert werden. „Patientinnen und Patienten melden uns zurück, dass das Personal mehr Zeit für sie hat“, so Gröger.
Problematisch seien vor allem Schnittstellenbereiche zu anderen Stationen oder Fachbereichen. Es knirscht, wenn etwa Pflegefachkräfte einer Innovationsraumstation Aufgaben und Verantwortungsbereiche hat, die sie in anderen Stationen nicht haben würde oder im Austausch mit anderen Stationen nicht auf Augenhöhe kommuniziert werde. Auch für Pflegefachkräfte, die aus dem Krankenhauspoolbereich nur temporär auf der Station eingesetzt werden, sei das oftmals eine Herausforderung. „Die Vorgehensweisen müssen deshalb standardisiert und klar vorgegeben werden“, so Purrucker.
Auch unter den Ärztinnen und Ärzten der Station gibt es kritische Stimmen. „Manche fragen sich, warum wir das eigentlich brauchen, denn die Arbeit auf der Station laufe doch bereits sehr gut“, so Purrucker. Diese Denkweise sei aber ein Fehler, findet der Neurologe. Die vielen Projekte zeigen, dass es Potenzial zur Optimierung gebe. „Zudem sind viele Ärztinnen und Ärzte, die durch das Rotationsverfahren eine Zeit lang auf der Stroke-Unit arbeiten, von der neuen Herangehensweise begeistert“, berichtet Purrucker. Er sei überrascht, wie viele Projekte bereits seit dem Projektstart auf der Stroke-Unit im Juli innerhalb des Teams angelaufen sind. „Der Innovationsraum kommt auch deshalb so gut an, weil jede Berufsgruppe Selbstwirksamkeit spürt und sich aktiv einbringen kann“, sagt er.
Anfänglich würde das Personal zwar etwas mehr Zeit aufgrund der Projektarbeit investieren. Langfristig sollen sich aber Synergien ergeben und eben Zeit eingespart werden. „Normalerweise gibt es eine Leitungsebene, die sich über Prozessoptimierung Gedanken macht. Aber oft geht das im Berufsalltag unter. Deswegen ist der Schritt, die Optimierungsprozesse zu institutionalisieren wichtig und sich jede Woche die Zeit dafür zu nehmen“, sagt Purrucker.
Prozesse überdenken und weiter optimieren
Die drei Stationen zeigen deshalb, wie die Zukunft in den Krankenhäusern aussehen könnte. „Wir können aufgrund des Fachkräftemangels nicht einfach immer weiter neues Personal einstellen, sondern müssen unsere eigenen Prozesse überdenken und überlegen, ob wir nicht sogar mit weniger Personal die gleiche Arbeit erbringen können“, sagt Purrucker. Insbesondere Redundanzen werden überprüft. Konkret können beispielsweise Optimierungen bei Transporten gesucht werden oder alternativ getestet, ob nicht manche Untersuchung direkt auf der Station durchgeführt werden kann. „Damit erzielt man freie Ressourcen, ohne dass weiteres Personal benötigt wird“, so Purrucker. Charlotte Kurz
Inspiration für kleine und große Kliniken
Der Innovationsraum Pflege kann als Inspiration für die geplanten sektorenübergreifenden Versorger, die sogenannten „Level-Ii-Krankenhäuser“, gelten. Diese Einrichtungen sollen Plankrankenhäuser sein, soweit sie stationäre Leistungen erbringen und eine wohnortnahe medizinische Versorgung durch interprofessionelle Leistungen bieten. Das sieht das Eckpunktepapier von Bund und Ländern zur geplanten Krankenhausreform vor. Vorgesehen ist, dass sich diese Level-Ii-Häuser vor allem aus kleineren Krankenhäusern heraus entwickeln. Zudem könne eine pflegerische Leitung vorgesehen werden. Für diese neue Form der Versorgung wird eine verstärkte Zusammenarbeit von Medizin und Pflege auf Augenhöhe zunehmend wichtig.
Laut dem Softwareentwickler Bindoc, der im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) begleitende Analysen und Berechnungen erstellt, könnten künftig rund 350 Kliniken der aktuell ungefähr 1 700 somatischen Standorte diesem Level zugeordnet werden.
Zwar rückt an diesen Standorten künftig die interprofessionelle Zusammenarbeit und Aufgabenteilung in den Vordergrund, allerdings ist das Prinzip des Innovationsraums Pflege Gröger zufolge nicht nur auf kleinere Krankenhäuser oder Langzeitpflegeeinrichtungen anwendbar. Auch für den Neurologen Purrucker ist die Herangehensweise unabhängig vom Kliniklevel möglich. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese Organisationsform auch in größeren Klinikbereichen oder beispielsweise auch im OP-Bereich gut funktionieren kann“, sagt er. Und bezüglich der Weiterentwicklung des Pflegeberufs können die Innovationsräume als Vorbild gelten. „Um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, müssen Pflegefachkräfte künftig mehr Kompetenzen erhalten. Diese Entwicklung setzen wir bereits in den Innovationsräumen um“, sagt Gröger.
„Der Fokus auf pflegerische Leistungen in den künftigen Level-Ii-Häusern kann insbesondere für eine wohnortnahe Weiterversorgung sinnvoll sein“, findet Purrucker. Diese werde in Zukunft hinsichtlich des weiter wachsenden Anteils alter Menschen, die eine pflegerische Versorgung benötigen sowie eines ebenfalls größeren Anteils an relativ gesund alternden Menschen, die kein stationäres pflegerisches Umfeld brauchen und eher in ambulanten Sektoren behandelt werden, an Bedeutung zunehmen.