ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2023Gesundheitspolitik: Der politische Elfenbeinturm

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Gesundheitspolitik: Der politische Elfenbeinturm

Schmedt, Michael

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Michael Schmedt, Chefredakteur
Michael Schmedt, Chefredakteur

Die Proteste von Akteuren im Gesundheitswesen nehmen zu. Die Medizinischen Fachangestellten demonstrierten im Frühsommer vor dem Brandenburger Tor, die Krankenhausvertreter vor dem Berliner Hauptbahnhof. Nachfolgetermine im September haben beide bereits angekündigt. Auch die Apotheker zogen kürzlich durch das Regierungsviertel.

Am 18. August trafen sich die Vertragsärzte- und die Vertragspsychotherapeutenschaft zur Krisensitzung. Ein Novum war die Besetzung: Aus allen 17 Kassenärztlichen Vereinigungen waren Mitglieder der Vertreterversammlungen (VV) gekommen. So ließen rund 700 Vertreter der KVen in einem Berliner Hotel ihrem Ärger über die Gesundheitspolitik von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) freien Lauf.

Der Frust darüber, beim Chef des Bundesgesundheitsministeriums nur die zweite Geige zu spielen, sitzt tief. Keine Coronaprämie für Medizinische Fachangestellte (MFA), keine schnelle Entbudgetierung der Hausärzte, keine anwendungsfreundliche Digitalisierung, kein Fortschritt bei der Ambulantisierung, keine Unterstützung bei Energiekosten und kein Inflationsausgleich. Die Liste der Kritikpunkte und Redner war lang. Es war eine emotionale Veranstaltung, die deutlich machte, wie sehr die Wertschätzung für die tägliche Arbeit der Teams in den Praxen fehlt (Seite 1403).

Strukturell führt diese Gemengelage zu einem grundsätzlichen Problem: Die Freude am „eigentlich so schönen Beruf“ nimmt ab und „wir finden keinen Nachfolger“, hörte man auf der Krisensitzung immer wieder. Das zeigt zum Beispiel die Situation im sächsischen Weißwasser. Dort sollten eigentlich 19 Allgemeinmediziner tätig sein, zehn Stellen sind derzeit aber nicht besetzt. Zudem ist der Fachkräftemangel ein großes Problem. Selbst in der Hauptstadt Berlin können mehr als die Hälfte der Praxen MFA-Stellen nicht nachbesetzen. Und Medizinstudierende sehen die Niederlassung längst nicht mehr als einzige Option, wie eine Umfrage der Apotheker- und Ärztebank ergab.

Man gewinnt bei Lauterbachs Strukturplanungen den Eindruck, die Selbstverwaltung solle geschwächt und der staatliche Einfluss gestärkt werden. Ein Krankenhaussektor, der auf Zentren setzt und in dem Level-1i-Kliniken ohne ärztliche Leitung ländliche Regionen versorgen sollen. Zusätzlich Gesundheitskioske mit Community Health Nurses, die es aber noch nicht gibt – ebenfalls ohne ärztliche Führung. Der Bundesminister will das Heft in der Hand behalten und das nicht nur im ambulanten Sektor, wie das Krankenhaustransparenzgesetz jetzt deutlich macht, mit dem er die von den Ländern abgelehnte Level-Einteilung durchsetzt. Dass Krankenkassen künftig Versicherte warnen können, sollten sie an schweren Erkrankungen leiden und die gematik mit einem eigenen Gesetz eine 100-prozentige Bundeseinrichtung werden soll, passt ins Bild.

Allerdings sieht sich Lauterbach nicht immer einer geschlossenen Protestfront gegenüber, das Gesundheitswesen ist vielfältig. Man kann dem Präsidenten der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. med. Hans-Albert Gehle, nur zustimmen, wenn er für gemeinsame Protestaktionen aus dem ambulanten und stationären Bereich wirbt. Man erinnere sich an das „Bündnis Gesundheit 2000“, bestehend aus 38 Verbänden und Organisationen des Gesundheitswesens, das vor mehr als 20 Jahren gegen die damalige Reform protestierte und selbst Vorschläge machte, sozusagen aus der Versorgung für die Versorgung. Man warf der Politik mangelnde Dialogbereitschaft vor und warnte, wie gefährlich eine „rein theoretische, expertokratische Gesundheitspolitik“ sei. Wie sehr sich doch vieles im Gesundheitswesen wiederholt, auch Entscheidungen im politischen Elfenbeinturm.

Michael Schmedt
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