ArchivDeutsches Ärzteblatt37/2023Nichttraumatische Bauchschmerzen
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In Notaufnahmen (ZNA) sind nichttraumatische Bauchschmerzen (NTBS) einer der häufigsten Vorstellungsgründe (1, 2, 3). Die Kenntnis demografischer und klinischer Charakteristika von Patientinnen und Patienten mit NTBS, der zugrunde liegenden Diagnosen und des klinischen Behandlungsverlaufs ist entscheidend für die zielgerichtete Diagnostik und Therapie dieser Erkrankung in der ZNA (1, 2).

Ziel dieser Studie ist es, die demografischen und klinischen Parameter sowie den klinischen Verlauf und das Outcome von unselektionierten Patientinnen und Patienten mit NTBS in zwei Berliner Notaufnahmen zu beschreiben.

Methode

Im Rahmen einer retrospektiven Auswertung wurden die Sekundärdaten zweier Erwachsenen-Notaufnahmen der Charité – Universitätsmedizin Berlin über einen Zeitraum von insgesamt 56 Monaten (01/2015–08/2019) analysiert.

Das Symptom NTBS wurde anhand folgender klinischer Charakteristika operationalisiert:

  • Leitsymptom „Bauchschmerz“ und/oder
  • Manchester-Triage-System-(MTS)-Indikator, „abdominelle Schmerzen bei Erwachsenen“ und/oder
  • ICD10-Diagnose R10 („Bauch- und Beckenschmerzen“) basierend auf der ersten in der ZNA dokumentierten Diagnose.

Ausgeschlossen wurden Personen, bei denen die Bauchschmerzen auf Basis der gestellten Diagnose oder des MTS-Präsentationsdiagramms einer traumatologischen Ursache zugerechnet werden konnten. Die statistische Auswertung erfolgte über die Software SPSS Version 27 (IBM). Gruppenunterschiede wurden mittels Chi-Quadrat-Test, t-Test und logistischer Regressionsanalyse untersucht. P-Werte wurden explorativ interpretiert.

Ergebnisse

Etwa 11,0 % (n = 49 430) aller 448 689 Patientinnen und Patienten der ZNA stellten sich im Beobachtungszeitraum mit NTBS vor (Tabelle 1). Im Vergleich der einzelnen Jahre (2015: 10,7 %, 2016: 11,1 %, 2017: 10,9 %, 2018: 11,3 %, 01–08/2019: 11,2 %) zeigten sich hierbei nur geringe Schwankungen. Der überwiegende Anteil der Patientinnen und Patienten der ZNA mit NTBS waren Frauen (62,1 %). Der Altersmedian lag bei Patientinnen und Patienten mit NTBS mit 38 Jahren (Frauen: 35 Jahre versus Männer: 45 Jahre, p < 0,001) niedriger als bei denen, die sich in der ZNA aus anderen Gründen vorstellten (44 Jahre).

NTBS- und sonstige Fälle aus den beiden ZNA (CVK, CCM) der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Zeitraum 01/2015–08/2019
Tabelle 1
NTBS- und sonstige Fälle aus den beiden ZNA (CVK, CCM) der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Zeitraum 01/2015–08/2019

Der Anteil der stationär aufgenommenen Personen mit NTBS betrug 25,8% (n = 12 769). Von den stationär aufgenommenen Personen mussten 12,1 % (n = 1 551) im Verlauf einmalig oder mehrfach auf einer Intensivstation behandelt werden und die intrahospitale Mortalität lag bei 3,3 % (n = 421). Deutliche Unterschiede zeigten sich zwischen Männern und Frauen hinsichtlich des Anteils stationärer Aufnahmen (Männer: 32,9 %; Frauen: 21,5%; Odds Ratio [OR] 1,79; 95-%-Konfidenzintervall: [1,72; 1,86]; p < 0,001), des Anteils intensivmedizinischer Behandlungen (Männer: 14,7 %; Frauen: 9,7 %; OR 2,38; [2,14; 2,63]; p < 0,001) sowie der intrahospitalen Mortalitätsrate (Männer: 4,0 %; Frauen: 2,6 %; OR 2,35; [1,93; 2,85]; p < 0,001).

Eine Übersicht über die häufigsten Diagnosen sowie die häufigsten Todesursachen liefert Tabelle 2. Bei ambulanten Patientinnen und Patienten mit NTBS bildeten symptombeschreibende R-10-Diagnosen den höchsten Anteil aller Diagnosen. Bei stationären Fällen bildeten akute Appendizitis (6,8 %) und Pankreatitis (4,5 %) die häufigsten Diagnosen. Die häufigste Krankenhaushauptdiagnose der stationär verstorbenen Fälle war Sepsis mit 14,3 %.

Häufigste ambulante und stationäre Diagnosen sowie häufigste Todesursachen von 49 090 Patientinnen und Patienten mit NTBS
Tabelle 2
Häufigste ambulante und stationäre Diagnosen sowie häufigste Todesursachen von 49 090 Patientinnen und Patienten mit NTBS

Diskussion

Etwa jede Neunte aller Personen, die sich im Untersuchungszeitraum in der ZNA vorstellten, kam wegen NTBS (11,2 %). Dies deckt sich mit anderen Studien, in denen Anteile zwischen 10–12 % gezeigt wurden (1, 2). Das Alter der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Studienpopulation ist jedoch niedriger als bisher für Deutschland beschrieben (1, 2). Unterschiede im Einzugsgebiet der Notaufnahmen zwischen dieser und anderen Untersuchungen sind als Ursache denkbar. Weiterhin ergaben sich Unterschiede hinsichtlich der stationären Aufnahmerate, die in der vorliegenden Arbeit mit 25,8 % vergleichsweise niedriger ist. Die Abweichungen hinsichtlich des Alters könnten hierfür ursächlich sein. Die intrahospitale Mortalität der Patientinnen und Patienten mit NTBS erwies sich mit 3,3 % deutlich höher als beispielsweise die intrahospitale Mortalität von Patientinnen und Patienten mit Thoraxschmerzen (0,9 %) in vergleichbaren Untersuchungen (1). In diesem Zusammenhang spielt die Sepsis als häufigste Todesursache bei NTBS (14,3 %) eine bedeutende Rolle. Angesichts der „goldenen Stunde der Sepsis“ (4) ist eine frühe Erkennung und adäquate Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf Sepsis bei NTBS entscheidend. Männer stellten sich zwar insgesamt seltener mit NTBS vor, hatten dann jedoch eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen schwerwiegenden klinischen Verlauf mit einem höheren Anteil stationärer Aufnahmen und intensivmedizinischer Behandlungen sowie einer erhöhten intrahospitalen Mortalität. Mögliche Ursachen sind sowohl das bei Männern höhere Alter als auch Unterschiede in den häufigsten Diagnosen. So lagen bei Frauen häufiger Diagnosen mit in der Regel unkompliziertem Verlauf vor, wie beispielsweise eine Zystitis (Frauen: 5,1% versus Männer: 0,7% aller ambulanten Fälle, p < 0,001), und bei Männern häufiger akut bedrohliche Diagnosen wie eine Pankreatitis (Männer: 5,6% versus Frauen: 3,4% aller stationären Fälle, p < 0,001). Symptombeschreibende Diagnosen („R-Diagnosen“) bildeten, im Einklang mit entsprechenden Angaben in der Literatur (1, 2), einen Großteil der kodierten Diagnosen bei ambulant versorgten Patientinnen und Patienten mit NTBS. Hinsichtlich der stationären Diagnosen fanden sich sowohl in der vorliegenden Arbeit als auch in der Literatur, die akute Appendizitis, die Pankreatitis und die Cholelithiasis unter den „Top 5“ der häufigsten Diagnosen für stationär versorgte Patientinnen und Patienten mit NTBS (1, 2).

Resümee

Es zeigte sich, dass Patientinnen und Patienten mit NTBS ein geringeres Alter und einen höheren Anteil an Frauen aufwiesen als andere Patientinnen und Patienten der ZNA. Dabei hatten Männer mit NTBS einen größeren Anteil an stationären Aufnahmen und intensivmedizinischer Behandlung sowie eine größere Letalität als Frauen mit NTBS. Die häufigste ambulante Diagnose lautete Bauch- und Beckenschmerzen, die häufigste stationäre Diagnose war eine akute Appendizitis. Eine Sepsis war die mit Abstand häufigste Todesursache. NTBS sollten im klinischen Alltag nicht unterschätzt und beispielsweise Fälle von Sepsis nicht als unklarer Bauchschmerz verkannt, sondern frühzeitig identifiziert werden. Initiativen zur Etablierung einer konsistenten Versorgungsstruktur wie die „Abdominal Pain Unit“ (5) können hierzu einen Beitrag leisten (http://apu.charite.de).

Lukas Helbig, Martin Möckel, Antje Fischer-Rosinsky, Anna Slagman

Akut- und Notfallmedizin (CVK, CCM), Charité, Universitätsmedizin Berlin
(Helbig, Möckel, Fischer-Rosinsky, Slagman), lukas.helbig@charite.de

Interessenkonflikt
Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 02.01.2023, revidierte Fassung angenommen: 28.06.2023

Zitierweise
Helbig L, Möckel M, Fischer-Rosinsky A, Slagman A: Non-traumatic abdominal pain—a retrospective analysis of secondary data from 448 689 cases treated in two emergency rooms in Berlin. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 613–4. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0163

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Mockel M, Searle J, Muller R, et al.: Chief complaints in medical emergencies: do they relate to underlying disease and outcome? The Charite Emergency Medicine Study (CHARITEM). Eur J Emerg Med 2013; 20: 103–8 CrossRef MEDLINE
2.
Pemmerl S, Hüfner A: Epidemiologie, Initialdiagnostik und -therapie des akuten und unklaren Bauchschmerzes in der Notaufnahme. Med Klin Intensivmed Notfmed 2021; 116: 578–85 CrossRef MEDLINE
3.
Cervellin G, Mora R, Ticinesi A, et al.: Epidemiology and outcomes of acute abdominal pain in a large urban emergency department: retrospective analysis of 5,340 cases. Ann Transl Med 2016; 4: 362 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Chaudhary T, Hohenstein C, Bayer O: [The golden hour of sepsis: initial therapy should start in the prehospital setting]. Med Klin Intensivmed Notfmed 2014; 109: 104–8 CrossRef MEDLINE
5.
Helbig L, Stier B, Römer C, et al.: [The abdominal pain unit as a treatment pathway: structured care of patients with atraumatic abdominal pain in the emergency department]. Med Klin Intensivmed Notfmed 2023;118: 132–40 CrossRef MEDLINE PubMed Central
NTBS- und sonstige Fälle aus den beiden ZNA (CVK, CCM) der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Zeitraum 01/2015–08/2019
Tabelle 1
NTBS- und sonstige Fälle aus den beiden ZNA (CVK, CCM) der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Zeitraum 01/2015–08/2019
Häufigste ambulante und stationäre Diagnosen sowie häufigste Todesursachen von 49 090 Patientinnen und Patienten mit NTBS
Tabelle 2
Häufigste ambulante und stationäre Diagnosen sowie häufigste Todesursachen von 49 090 Patientinnen und Patienten mit NTBS
1. Mockel M, Searle J, Muller R, et al.: Chief complaints in medical emergencies: do they relate to underlying disease and outcome? The Charite Emergency Medicine Study (CHARITEM). Eur J Emerg Med 2013; 20: 103–8 CrossRef MEDLINE
2. Pemmerl S, Hüfner A: Epidemiologie, Initialdiagnostik und -therapie des akuten und unklaren Bauchschmerzes in der Notaufnahme. Med Klin Intensivmed Notfmed 2021; 116: 578–85 CrossRef MEDLINE
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4.Chaudhary T, Hohenstein C, Bayer O: [The golden hour of sepsis: initial therapy should start in the prehospital setting]. Med Klin Intensivmed Notfmed 2014; 109: 104–8 CrossRef MEDLINE
5.Helbig L, Stier B, Römer C, et al.: [The abdominal pain unit as a treatment pathway: structured care of patients with atraumatic abdominal pain in the emergency department]. Med Klin Intensivmed Notfmed 2023;118: 132–40 CrossRef MEDLINE PubMed Central

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