ArchivDeutsches Ärzteblatt25/2000Vergangenheit: Ein weiteres dunkles Kapitel

SPEKTRUM: Leserbriefe

Vergangenheit: Ein weiteres dunkles Kapitel

Zu dem Beitrag „Ein Denkmal wankt” von Dr. Thomas Gerst in Heft 14/2000:
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LNSLNS Auch an der Leipziger Universitäts-Kinderklinik wurde im Dritten Reich Kindereuthanasie betrieben. Als ehemaliger Assistenzarzt an der Universitäts-Kinderklinik Leipzig habe ich 1969 von einer Stationsschwester der Außenstelle Dösen erfahren, dass die ersten Kindereuthanasiefälle im Dritten Reich höchstwahrscheinlich in dieser Außenstelle praktiziert wurden. Erschreckend ist, dass die damaligen Kinderärzte Dr. Hempel und Dr. Catell vom Naziregime nicht gezwungen wurden, behinderte Kinder zu töten, sondern dass höchstwahrscheinlich deren Profilierungssucht die Triebfeder ihres abscheulichen Handelns war. Dr. Hempel wurde später in der damaligen DDR für seine Verdienste bei der Einführung des Impfkalenders für Kinder mit dem Titel „Verdienter Arzt des Volkes“ ausgezeichnet, währenddessen Herrn Prof. Liebe, der diese Auszeichnung am ehesten verdient hätte, diese Ehre vorenthalten wurde.
Nach Angaben der damaligen Stationsschwester wurde zu Beginn der 40er-Jahre den behinderten Kindern in dieser Leipziger Außenstelle der Universitäts-Kinderklinik Leipzig eine tödliche Dosis eines Barbiturat-Präparates intravenös verabreicht. Danach wurden die Kinder im Bett auf den Balkon der Kinderstation gestellt. Später wurde dann vom diensthabenden Arzt der Tod des Kindes festgestellt und als Todesursache meist Pneumonie angegeben.
Aber auch nach 1945 hat es in der DDR offenbar eine besondere Form der Kindereuthanasie gegeben. Mir selbst ist ein Fall bekannt, wo Hebammen selbstständig, ohne Wissen der Ärzte, Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht bis circa 1 000 Gramm aussonderten und für nicht lebensfähig erklärten. Während eines Dienstes auf der im Frühjahr 1968 in der Universitäts-Frauenklinik Leipzig neu eingerichteten Früh- und Neugeborenen-Intensivstation zeigte mir die diensthabende Kinderkrankenschwester ein wimmerndes Wesen im Kühlschrank, in Zellstoff eingewickelt. Die diensthabende Hebamme hatte der Mutter mitgeteilt, ihr Kind sei nicht lebensfähig. Dank sofort eingeleiteter intensiv-medizinischer Maßnahmen konnte das kleine Mädchen (Geburtsgewicht circa 1 000 Gramm) gerettet werden. Während des Amtsarztkurses 1990 berichtete ich von diesem Ereignis. Dabei stellte sich heraus, dass offensichtlich auch auf anderen Geburtsstationen in der damaligen DDR solche Fälle praktiziert wurden. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsmedizin in der ehemaligen DDR.
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