POLITIK: Tagungsberichte
Gesundheitstag 2000 in Berlin: Von Lebensfreude und unterbelichteten Themen


Die Wesen am Eingang zum Audimax der Technischen Universität Berlin wirken etwas außerirdisch. Sie tragen silberfarbene Jacken, halten silberfarbene Tabletts und bieten rote, etwas glibberige kleine Pyramiden an. Was das sei? „New food“, hauchen sie höflich. Hier soll es zur Eröffnung des alternativen „Gesundheitstag 2000“ gehen, der vom 31. Mai bis 4. Juni stattfindet? Beherzt die Pyramide in den Mund genommen, die nach Erdbeeren schmeckt, und eingetreten zur interaktiven Veranstaltung „Geld oder Leben“.
Statements und Performance im Wechsel
Der Saal ist mäßig voll, allseits bekannte Repräsentanten des Gesundheitswesens fehlen. Dafür sind viele Leute gekommen, die in Selbsthilfegruppen, Initiativen und Beratungsstellen einen Namen haben. Alle müssen wählen, an welchen von rund 500 Veranstaltungen sie in den nächsten Tagen teilnehmen wollen. „Die Themen reichen von einem Szenario zum geklonten Menschen über Patientenbeteiligungsmodelle in Europa, die Auswirkungen der Gesundheitstelematik, der Gesundheitsversorgung von MigrantInnen bis zu unkonventionellen Diagnose- und Therapieverfahren, Selbsthilfeförderung, der kritischen Reflexion des Gesundheitswesens und der Ausbildungsmisere in der Medizin“, stand in der Einladung.
Statements von Fachleuten auf dem Podium wechseln mit Performance-Einlagen von Studenten der Berliner Hochschule der Künste, die auch den Erdbeerglibber angeboten haben. Prof. Ilse Middendorf, Grande Dame der Atemtherapie, bittet alle aufzustehen und nach ihren Anleitungen zu atmen. Wie sie 90 geworden ist? „Einfach atmen“, sagt sie. Die Lachtrainerin Heidemarie Wahl gibt Proben ihres Könnens und fordert ebenfalls zum Mitmachen auf: „Achtmal am Tag Lachen würde schon genügen, um alle Ärzte arbeitslos zu machen.“
Wie viele Leute wohl kommen werden? So voll wie beim ersten Gesundheitstag in Berlin scheint es nicht mehr zu werden. Damals, 1980, reisten rund 12 000 Frauen und Männer an. Wichtige Programmpunkte waren „Medizin und Nationalsozialismus“, die neue „Selbsthilfe-Bewegung“ und „Das Elend der herrschenden Psychiatrie“. Bis 1987 fand jährlich in unterschiedlichen Städten ein Gesundheitstag statt, dann war Schluss. Nun hat eine Gruppe von Leuten den Gesundheitstag neu belebt, darunter viele Ehemalige des ersten Treffens. Zu ihnen gehört Dr. med. Ellis Huber, ehemals Präsident der Ärztekammer Berlin und heute Geschäftsführer der Krankenkasse Securvita. Einem Mitarbeiter der „taz“ sagte er, der Gesundheitstag 1980 sei eine „breite Suchbewegung, ein Jahrmarkt der Visionen“ gewesen. Heute gehe es darum, „eine Perspektive jenseits von Staat und Markt deutlich zu machen“.
Zur Eröffnung des „Gesundheitstag 2000“ ist auch Prof. Dr. med. Ilona Kickbusch gekommen, die den ersten vor 20 Jahren miterlebt hat. Sie war zwischenzeitlich als Public Health-Beauftragte bei der WHO tätig und lehrt derzeit an der Yale-Universität in den USA. Sie habe sich damals nicht vorstellen können, sagt Kickbusch, dass die wichtigen Themen 20 Jahre später immer noch so dringlich sein würden. Beispiele? „Armut und Gesundheit, Infektionskrankheiten.“ Kickbusch appelliert an die Zuhörer, über die Diskussion des eigenen Gesundheitswesens die Probleme in anderen Ländern nicht zu vergessen und nicht die notwendige internationale Solidarität. Das sei vor zwanzig Jahren ausgeprägter gewesen. Ihre Botschaft? „Gesundheit wird im Alltag hergestellt, und wir alle stellen sie zusammen her.“
Viel Zustimmung, doch die Frage bleibt: welche Veranstaltungen besuchen? Manches Angebot klingt ziemlich abseitig und erscheint damit typisch alternativ, beispielsweise „Zur Geschichte der Psychiatrie in Afrika“. Doch viele Foren und Vorträge befassen sich mit Fragestellungen, die längst auch in der etablierten Medizin aufgegriffen werden – wenngleich die Antworten oft anders ausfallen. Manches, was vor 20 Jahren neu und alternativ war, ist heute etablierter Bestandteil des Gesundheitswesens.
Was früher alternativ war, ist heute etabliert
Die Selbsthilfegruppen beispielsweise mögen nach eigenem Verständnis noch nicht machtvoll genug sein. Doch sie haben sich als wichtige Zusammenschlüsse etabliert. Sogar ihre Berücksichtigung bei der Arbeit des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen wird derzeit diskutiert. In Deutschland seien drei Millionen Menschen in 70 000 Selbsthilfegruppen organisiert, berichtet Klaus Balke in Berlin. „Es wächst etwas, auch wenn es sich hier nicht zeigt.“
Wer sich zeigt, ist die Bundesgesundheitsministerin. Andrea Fischer hat die Schirmherrschaft über den Gesundheitstag übernommen und kommt zur Abschlussveranstaltung. Zudem bietet ihr Ministerium eine gut besuchte Diskussionsveranstaltung zum Thema „Integrierte Versorgung“ an, bei der sie ebenfalls mitdebattiert. Dort berichten Initiatoren des Ärztenetzes Rhein-Main, der Praxisnetze Nürnberg und Berlin sowie der Medizinischen Qualitätsgemeinschaft Modell Herdecke (Zusammenschluss von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Herdecke sowie des Gemeinschaftskrankenhauses dort) von ihrer Arbeit und ihren Erwartungen.*
Fischer betont, sie habe mit der neuen gesetzlichen Regelung zur Integrationsversorgung Türen öffnen wollen. Nun müssten diejenigen durchgehen, die es wünschten. Ein Erziehungsprogramm sei die integrierte Versorgung nicht. Die anwesenden „Netzärzte“ versprechen sich durchweg ein Verbesserung der Qualität und der kollegialen Zusammenarbeit. Wer länger dabei ist, hat manchen Anspruch offenbar schon relativiert. Dr. med. Rüdiger Dreykluft vom Praxisnetz Berlin sagt, manche Kollegen hätten sich zuweilen aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen heraus für etwas entschieden, hielten dies aber inzwischen auch qualitativ für sinnvoll. Sie von etwas anderem zu überzeugen, sei schwierig. Zudem sei die Frage, was eine bessere Qualität oder ein höherer Nutzen für den Patienten konkret sei, oft nur schwer zu beantworten. Dreyfuss berichtet auch, dass man vielen Patienten kaum vermitteln könne, was für sie der Vorteil eines Netzes sei.
Nachbesserungen bei den Patientenrechten
Der Gesundheitstag endete mit Arbeitsergebnissen und Forderungen. Christoph Krannich von der Hamburger Verbraucherzentrale, bekannt als Verfechter ausgedehnterer Patientenrechte, mahnt: „Es wäre eine fatale Gefahr, wenn Patientenunterstützung von der Definitionsmacht der Krankenkassen abhängig bliebe.“ Er verlangt, die Politik solle die entsprechenden gesetzlichen Regelungen zur Patientenberatung nachbessern. Anbieter von Patientenberatung müss-
ten unabhängig sein von Leistungserbringern und Kostenträgern.
In den Veranstaltungen des Bereichs „Gesundheit und Ethik“ war der Umgang mit alten, älteren und sterbenden Menschen wichtiges Thema. Nun fordern die beiden Teilnehmer, die darüber berichten, eine stärkere Kontrolle von Alten- und Pflegeheimen und keine weitere Absenkung des Fachpersonalschlüssels. Im Umgang mit Sterbenden solle man den Stellenwert von Patientenverfügungen stärker juristisch fixieren. Ein weiteres Anliegen ist es, die Öffentlichkeit weniger einseitig über das Thema Transplantationen zu informieren. Aspekte der Belastung und der eingeschränkten Lebensqualität von Transplantierten kämen noch viel zu kurz.
Ganz am Ende wird dann ein Podium dazu befragt, was es aus den Veranstaltungen beziehungsweise den Arbeitsergebnissen der Themengruppen mitnehme. Andrea Fischer sagt, es sei ein großes Verdienst des Gesundheitstags, den Blick erneut auf „unterbelichtete“ Themen gelegt zu haben. Als Beispiel nennt sie „Armut und Gesundheit“, damit befasse sich seit kurzem ein Arbeitskreis im Ministerium. Großen Handlungsbedarf gebe es auch zum Thema Migration und Gesundheit.
Dr. med. Andreas Crusius, Präsident der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, bezieht sich auf die Forderung nach einer stärkeren Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen. Hierzu müssten erst einmal gesetzliche Grundlagen geändert werden, sagte er, und es sei zu klären, wer denn überhaupt ein legitimierter Patientenvertreter sei. Dr. med. Michael Späth, Vorsitzender der Hamburger Kassenärztlichen Vereinigung, lobt die Arbeit von Krannich in der Verbraucherzentrale. Er ist dennoch der Auffassung, dass die eigentliche medizinische und wissenschaftliche Beratung von Patienten in den Händen von Ärzten liegen solle.
Die beiden ernten für ihre Äußerungen Gemurre und Kritik – und werden von Fischer in Schutz genommen. Wer genau hingehört habe, könne schon erkennen, dass sich auch bei der Ärzteschaft inzwischen etwas verändert habe, meint sie. Aber Veränderung funktioniere im Gesundheitswesen eben nicht nach dem Motto „Schalter umlegen“. Sabine Rieser
Zehn Gebote für Kongressteilnehmer
Drei Organisatoren des Themenbereichs „Soziale Verantwortung und professionelles Handeln“ stimmten Interessenten mit folgendem Text ein:
- Du bist der Herr/die Frau deines Lebens, der dich in Gesundheit und Krankheit geführt hat. Du sollst keine anderen Götter neben dir haben – auch keine Götter in Weiß.
- Du sollst dir ein Bild von dir selbst machen und Gesundheit leben lernen und dein Arzt soll dich lieben wie sich selbst.
- Du sollst dir vorstellen, dass Ärzte auch nur Menschen und ohne Therapeuten verloren sind.
- Du sollst deine Welt nicht unbedingt verstehen, sondern sie verändern.
- Du sollst lernen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und du in einer Gemeinschaft lebst =
T – ogether
E – veryone
A – chieves
M – ore
- Du sollst wissen, dass Gesundheit unbezahlbar ist und ein guter Freund, der hilft, den Arzt in vielen Fällen zu ersetzen.
- Du sollst wissen, dass Ausbildung mehr ist als Einbildung und Weiterbildung weniger als Erfahrenwerden.
- Du sollst wissen, dass Liebsein nicht genügt und das Gegenteil von gut nicht gut gemeint ist.
- Du sollst Gesundheit statt Aktien zeichnen, und dein Kurs steigt.
- Du sollst die Veranstaltungen des Themenbereichs 10 besuchen.
*Das Deutsche Ärzteblatt hat in Heft 21/2000 über eine Studie berichtet, die die Ansätze, Hoffnungen und Hürden von Ärzten in Versorgungsnetzen analysiert.
(Ricki Nusser-Müller-Busch, Kai Schnabel, Wilhelm Rimpau)
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