MEDIZIN: Aktuell
Serie: Diabetische Neuropathie – Blasenfunktionsstörungen und erektile Dysfunktion bei Diabetes mellitus Ätiologie, Diagnostik und Therapie
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Neben der diabetischen Nephropathie, Retinopathie und Angiopathie sind schon seit mehr als hundert Jahren
Blasenfunktionsstörungen als Folge des Diabetes mellitus bekannt. Diese Miktionsstörungen sind, insbesondere
zu Beginn, zumeist asymptomatisch (1, 6).
Im Gegensatz hierzu werden Sexualfunktionsstörungen schon im frühen Stadium bemerkt. Beim männlichen
Diabetiker treten diese häufig, bei der Diabetikerin selten auf. Obwohl erektile Dysfunktion, Anejakulation und
Infertilität für den betroffenen Patienten einen hohen Krankheitswert besitzen, zu schwerwiegenden
partnerschaftlichen Konflikten führen können und ihm sein Kranksein ständig vor Augen führen, werden diese
Probleme von Patienten oft aus Scham verschwiegen und vom Arzt aus Unkenntnis oder althergebrachter
falscher Tabuisierung nicht angesprochen (10).
So zeigte sich vor kurzem bei einer detaillierten Befragung von 428 männlichen Diabetikern einer
Allgemeinpraxis in England, daß 53 Pozent der Patienten an einer erektilen Dysfunktion litten, diese aber nur
bei acht Prozent der Patienten dokumentiert war und bei lediglich einem Prozent der Patienten therapeutische
Möglichkeiten angesprochen wurden.
Auf Grund der großen prognostischen und psychosozialen Bedeutung dieser diabetischen Komplikationen ist
offensichtlich, daß anläßlich der routinemäßigen Diabeteskontrollen eine gezielte Befragung des Patienten nach
diesen urologischen Komplikationen erfolgen sollte. Falls sich ein Verdacht diesbezüglich ergibt, sind gezielte
weitere diagnostische und entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten.
Pathophysiologie und Klinik
Als Reservoir kann die Blase etwa 300 bis 600 ml Urin speichern. Bei Erreichen der Kapazitätsgrenze wird
dies über afferente Impulse zum Bewußtsein gebracht. Efferente motorische Impulse im Tractus reticulospinalis
vom pontinen Miktionszentrum zu den Nuclei intermediolaterales der Rückenmarkssegmente T10-L2 und S2S4 leiten die Miktion ein. Die periphere Innervation erfolgt sympathisch über den Nervus hypogastricus aus
dem thorakolumbalen Grenzstrang und parasympathisch über präganglionäre Fasern des sakralen
Miktionszentrums. Diese Fasern werden im Plexus pelvicus auf postganglionäre cholinerge Fasern
umgeschaltet. Der Sphinkter externus wird somatisch durch den N. pudendus aus den Rückenmarkssegmenten
S2-S4 innerviert. In der Harnspeicherphase werden afferente Impulse teils intraspinal, teils zerebral
unterdrückt, der externe Sphinkter aktiviert. Die Miktion wird willkürlich eingeleitet, indem der quergestreifte
externe Schließmuskel relaxiert und sich die glatte Detrusormuskulatur kontrahiert. Bei fehlender anatomischer
infravesikaler Obstruktion (zum Beispiel benigne Prostatahyperplasie) wird mit relativ geringem intravesikalen
Druck die Harnblase vollständig – restharnfrei – entleert.
Die diabetische Blasenentleerungsstörung beginnt beim experimentell induzierten Diabetes mit degenerativen
Veränderungen der afferenten myelinisierten Fasern (8). Unter dem Begriff der "diabetischen Zystopathie"
versteht man ein herabgesetztes Blasenfüllungsgefühl, verbunden mit einer Zunahme der Blasenkapazität und
eine verminderte Detrusorkontraktilität (1). Der Verminderung der Blasensensibilität mit der Gefahr der
Überdehnung der glatten Muskelzellen folgt relativ rasch die Degeneration der unmyelinisierten efferenten
Fasern mit der entsprechenden Hypokontraktilität. Im Gegensatz zu diesen klassischen Symptomen der
diabetischen Zystopathie kann die autonome Neuropathie bei koexistenten urologischen Erkrankungen auch zu
irritativen Beschwerden mit Nykturie, Pollakisurie, imperativem Harndrang und Harninkontinenz führen.
Diagnostik von Blasenfunktionsstörungen
Bei diabetischen Patienten, die von sich aus nicht über Blasenfunktionsstörungen klagten, fanden sich in 40 bis
80 Prozent pathologische urodynamische Befunde (6, 11); erst bei gezielter Befragung gaben viele dieser
Patienten Symptome einer Blasenentleerungsstörung an. Auf Grund dieser häufig asymptomatischen
Funktionsstörung und ihrer möglichen diletären Wirkungen auf den oberen Harntrakt sollte bei jedem
Diabetiker regelmäßig (mindestens jährlich) gezielt nach Miktionsstörungen gefragt werden. Miktionsfrequenz,
Restharngefühl, Harnwegsinfekte, Inkontinenz, Harnstrahlabschwächung und Notwendigkeit der Bauchpresse
bei der Miktion sollten erfaßt werden. Gegebenenfalls ist das Führen eines Miktionstagebuches über drei
aufeinanderfolgende Tage hilfreich. Eine semiquantitative Stix- und Sediment-Untersuchung des Urins ist
obligat.
Sollte sich durch die Anamnese der Verdacht auf eine Blasenentleerungsstörung ergeben, ist eine urologische
Diagnostik mit Uroflowmetrie und sonographischer Restharnbestimmung indiziert. Pathologische Befunde
dieser "Screening-Untersuchungen" oder Angaben der Patienten über rezidivierende Harninkontinenz sollten
Anlaß für eine komplette urodynamische Untersuchung mit Zystomanometrie, Druck-Fluß-Evaluation zur
Differenzierung einer funktionellen und/oder anatomischen Blasenauslaßobstruktion und bei Harninkontinenz
einer Urethradruckprofilaufzeichnung in Ruhe und unter Streß sein. Die Indikation zu weiteren urologischradiologischen beziehungsweise endoskopischen Untersuchungen ist von dem Ergebnis des urodynamischen
Befundes abhängig. Neben einer verminderten Detrusorkontraktilität oder einer Detrusorareflexie finden sich
bei der Zystomanometrie in etwa 50 Prozent der Fälle eine Detrusorhyperreflexie (6) als mögliche Ursache
eines imperativen Harndranges, eventuell mit Drang-Inkontinenz. Bei männlichen Diabetikern ist die
Detrusorhypokontraktilität oder Hyperreflexie häufig mit einer Blasenauslaßobstruktion durch ein Prostata
Adenom kombiniert. Die Druck-Fluß-Aufzeichnung mittels eines urodynamischen Meßplatzes erlaubt eine
differenzierte Beurteilung, ob es sich um eine funktionelle oder eine anatomische Obstruktion handelt.
Therapie bei Störungen der Blasenentleerung
Behandlungsbedürftigkeit und Therapieform werden von Schweregrad und Ätiologie der
Blasenentleerungsstörung, der sekundären Beeinträchtigung der Funktion des oberen Harntraktes, weiteren
Begleiterkrankungen sowie den psychischen und physischen Voraussetzungen des Patienten bestimmt. Generell
können diese Störungen auch beim Diabetiker eine multifaktorielle Genese besitzen, zum Beispiel neben der
vesikalen autonomen Neuropathie eine mechanische Blasenauslaßobstruktion (6, 10). Die Hyperreflexie in
Verbindung mit einer mechanischen infravesikalen Obstruktion ist selbstverständlich anders zu therapieren als
eine Entleerungsstörung bei insuffizienter Detrusorkontraktilität.
Etwa 60 Prozent der Harnspeicherstörungen sind medikamentös und durch Blasen- und Beckenbodentraining
zu heilen, oder zu bessern.
Da kein Medikament ausschließlich die Blasensymptomatik beeinflußt, muß immer eine Abwägung mit
möglichen Nebenwirkungen erfolgen. So können die bei Hyperreflexie indizierten Anticholinergika zu
Mundtrockenheit, Tachykardie und Erhöhung des Augeninnendruckes führen. Bei einer gleichzeitigen
Blasenauslaßobstruktion können hohe Restharnmengen oder sogar eine Harnverhaltung auftreten. Eine zu
große Blasenkapazität kann durch regelmäßige Miktionsintervalle ("Miktion nach der Uhr", zum Beispiel alle
drei Stunden) und bei herabgesetzter Detrusorkontraktilität durch eine medikamentöse Therapie mit
Parasympathomimetika behandelt werden. Bei funktioneller Blasenauslaßobstruktion oder mäßiger Obstruktion
durch eine benigne Prostatahyperplasie ist eine Therapie mit einem selektiven alpha-1c-Rezeptorblocker
möglich (2). Liegt die Restharnmenge trotzdem über 15 Prozent der Blasenkapazität und treten
Harnwegsinfekte auf, kann eine Dauerableitung mittels suprapubischer Zystostomie erfolgen oder vom
Patienten nach entsprechender Unterrichtung ein sauberer intermittierender (vier- bis fünfmal täglich)
Einmalkatheterismus durchgeführt werden. Die Ergebnisse einer operativen Reduktionsplastik des Detrusors
eventuell mit Detrusordoppelung waren bisher unbefriedigend.
Harninkontinenzbeschwerden bei weiblichen Diabetikern durch Senkung des Beckenbodens mit
Schließmuskelschwäche werden je nach Schweregrad durch funktionelle Übungen (Beckenbodengymnastik mit
Vaginalkonen), vaginale Elektrostimulation, Östrogensubstitution bei nachgewiesenem Mangel oder operative
Maßnahmen behandelt.
Die Erfolgsraten einer operativen Anhebung des Blasenhalses (Suspensionsplastik) werden mit etwa 80 Prozent
angegeben. Die Implantation eines künstlichen Sphinkters mit Druckmanschette um den Blasenhals sollte
streng gestellt werden, da bei Diabetikern mit einer erhöhten Infektionsgefahr zu rechnen ist. Durch eine
regelmäßige tägliche Anwendung einer vaginalen Elektrostimulation afferenter Pudendusfasern ist eine
deutliche Besserung einer Sphinkter-externus-Insuffizienz zu erzielen. Durch gleichzeitige Aktivitätssteigerung
des Nervus hypogastricus und Aktivitätshemmung des Nervus pelvicus kann auch eine Detrusorhyperreflexie
unterdrückt werden. Ein gravierender Nachteil der vaginalen Stimulation besteht aber darin, daß die
Stimulationsprothese täglich neu einzuführen ist und die Dauer des therapeutischen Effektes im
stimulationsfreien Intervall nicht sicher einzuschätzen ist. Für die elektrische Therapie der Hyperreflexie
stehen heute bei einem selektionierten Patientengut implantierbare Impulsgeneratoren mit telemetrischer
Programmierbarkeit und implantierbaren Elektroden zur Verfügung.
Physiologie der Erektion und Pathophysiologie der erektilen Dysfunktion
Grundsätzlich muß man zwischen psychogenen, reflexogenen und nächtlichen Erektionen differenzieren. Sie
unterscheiden sich durch eine unterschiedliche autonome Innervation: Während psychogene Erektionen vom
parasympathischen Erektionszentrum im Sakralmark S2-4 induziert werden, ist das sympathische
Erektionszentrum T11-L2 für nächtliche und morgendliche Erektionen verantwortlich. Reflexogene Erektionen
werden afferent über den Nervus pudendus und efferent über das sakrale Erektionszentrum induziert (3). Auf
Grund der unterschiedlichen Vulnerabilität dieser peripheren autonomen Innervationsstränge berichten manche
Patienten über nächtliche Erektionen, verneinen aber ausreichende psychogene Erektionen. Die früher oft
benutzte Folgerung "nächtliche Erektionen bei erektiler Dysfunktion gleich psychogene erektile Dysfunktion"
ist demzufolge nicht mehr haltbar.
Die peripheren parasympathischen Nervenendigungen induzieren eine Erektion durch Freisetzung von
Stickoxid (NO) (4). Die hierdurch hervorgerufene Relaxation der kavernösen glatten Muskelzellen führt über
eine Weitstellung der kavernösen Sinus zu einer Verminderung des peripheren kavernösen Widerstandes und,
im Verein mit einer arteriellen Dilatation, zu einer deutlichen Erhöhung des arteriellen Einstroms. Klinisch
korrespondiert hierzu die Tumeszenzzunahme. Die fast vollständige venöse Restriktion resultiert dann in einer
intrakavernösen Druckerhöhung, der Rigidität.
Bis vor kurzem wurde davon ausgegangen, daß etwa 40 Prozent der organogenen Erektionsstörungen durch
arterielle Faktoren bedingt seien; heute muß dieser Prozentsatz auf Grund neuer Studien deutlich reduziert
werden. Die verbesserte Diagnostik erlaubt bei einem signifikanten Anteil der Patienten zwischen einer
kavernösen myozytären Degeneration (bis zu 40 Prozent) (Abbildung 1a und b) und einer kavernös-autonomneurogenen Schädigung (20 bis 40 Prozent) zu differenzieren. Bei Diabetikern stehen myozytäre und
neurogene Degenerationen im Vordergrund.
Diagnostik der erektilen Dysfunktion
Zwar kommt beim Diabetiker der organischen Genese der erektilen Dysfunktion die entscheidende Bedeutung
zu, doch können psychogene oder psychoreaktive Komponenten nicht a priori ausgeschlossen werden.
Bezüglich der organischen Genese überwiegen zwar myogene und neurogene Faktoren (7, 10), doch sind auch
andere organische Ursachen möglich. Aus diesem Grunde sollte die diagnostische Abklärung des Diabetikers
mit erektiler Dysfunktion nach denselben Regeln wie beim Nicht-Diabetiker erfolgen. In der praktischen
Durchführung hat sich eine Dreiteilung des diagnostischen Ablaufs bewährt (Textkasten): Die
Basisuntersuchungen werden vom einweisenden Arzt durchgeführt (Stufe 1). Die wesentlichen Elemente dieser
diagnostischen Stufe sind Anamnese, psychologische Evaluierung, körperliche Untersuchung und
Labordiagnostik. Dann erfolgt die Durchführung des andrologischen nicht- beziehungsweise gering-invasiven
diagnostischen Programms (Stufe 2) durch den andrologisch geschulten Urologen. Ziel dieser nicht-
beziehungsweise wenig-invasiven diagnostischen Stufe ist die Beurteilung der kavernösen Kompetenz, das
heißt des Zustandes und der funktionellen Kapazität der kavernösen Muskulatur. Die Methoden SKAT(Schwellkörper-Autoinjektionstherapie-)Testung und Corpus- cavernosum-EMG (CC-EMG) ermöglichen eine
Beurteilung der (funktionellen) penilen Hämodynamik, der penilen autonomen Innervation sowie Rückschlüsse
auf den Zustand der kavernösen glatten Muskulatur.
SKAT-Testung
Die SKAT-Testung ist eine wenig aufwendige Methode zur globalen Beurteilung der kavernösen
Funktionsfähigkeit. Die Erektionsantwort auf die wiederholte, standardisierte intrakavernöse Injektion erlaubt
Rückschlüsse auf die penile arterielle Versorgung, den Zustand der glatten kavernösen Muskulatur und der
kavernös-venösen Verschlußmechanismen (12). Da diese Untersuchung die Gefahr gravierender
Nebenwirkungen (prolongierte Erektion, Schmerz) beinhaltet, muß der Patient vor dieser Untersuchung
ausführlich aufgeklärt werden. Als geeignete intrakavernöse Injektion haben sich Prostaglandin E1 (PGE1)
oder die Kombination aus Papaverin (15 mg/ml) und Phentolamin (0,5 mg/ml) bewährt.
Corpus cavernosum-EMG
Die Ableitung des Corpus-cavernosum-EMG erlaubt eine Beurteilung der glatten kavernösen Muskulatur und
der autonomen Innervation (13). Normalerweise läßt diese im flakziden Zustand bestimmte Muster erkennen:
Phasen ausgeprägter elektrischer Aktivität, sogenannte "Potentiale" von 12 bis 18 Sekunden Dauer, einer
Amplitude von 200 bis 700 µV und einer Frequenz von etwa 0,4 bis 2,5 Potentialen/Minute, werden von
Phasen elektrischer Ruhe gefolgt. Bei Patienten mit neurologisch definierten Läsionen oder einer kavernösen
Myopathie zeigen sich spezifische Änderungen dieser Erregungsmuster. Die Ergebnisse des CC-EMG können
von entscheidender Bedeutung für die Wahl der Therapie sein; diese diagnostische Methode wird auf Grund
ihrer Komplexität zur Zeit fast nur in spezialisierten Zentren durchgeführt.
Doppler-Duplex-/ Sonographie
Die Doppler-(Farb-)/Duplex-Sonographie dient der Beurteilung der funktionellen Kapazität der penilen
Arterien (5). Im flakziden Zustand wird ein großer Teil des arteriellen Blutes an den Schwellkörperkavernen
vorbeigeleitet. Nur nach kavernöser Relaxation (Stadium der Tumeszenz) kommt es zu einem maximalen
Einstrom in die kavernösen Sinus. Aus diesem Grunde ist die Doppler-Untersuchung der penilen Gefäße nach
intrakavernöser Injektion von vasoaktiven Substanzen und subsequenter kavernöser Relaxation nicht nur
wesentlich vereinfacht, sondern überhaupt erst aussagekräftig. Wie bei der SKAT-Testung besteht die
Problematik, daß die wissenschaftlich begründete Diagnostik der erektilen Dysfunktion der intrakavernösen
Injektion vasoaktiver Substanzen bedarf, diese aber seit Jahren nicht vom Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM) zugelassen wurden.
Nach Abschluß der zweiten diagnostischen Stufe ist eine therapierelevante Zuordnung des überwiegenden Teils
(ungefähr 60 bis 80 Prozent) der Patienten möglich. Sollten weitere Untersuchungen notwendig sein, so sollte
der Patient an eine spezialisierte Institution zur aufwendigeren invasiven andrologischen Diagnostik (Stufe III)
überwiesen werden. Die invasive andrologische Diagnostik besteht aus der selektiven PharmakoPhalloarteriographie (radiologische Darstellung des penilen Einstromes) sowie der Pharmako-Kavernosometrie
und -Kavernosographie (Quantifizierung und Darstellung des kavernösen Abstroms). Diese
Untersuchungsverfahren dienen der Vorbereitung operativ rekonstruktiver Maßnahmen (penile
Revaskularisation, venöse Sperroperationen).
Therapie der erektilen Dysfunktion
Bei Patienten mit rein oder überwiegend psychogener Verursachung sollte die Therapie von einem geeigneten
Psychologen oder Psychiater geleitet und überwacht werden. Neben den klassischen Optionen wie Gesprächs-
oder Paartherapie kann insbesondere bei Versagens- und/oder Erwartungsangst ein Therapieversuch mit oraler
Medikation, wie zum Beispiel Yohimbin, dreimal 5 mg für drei Tage, dann dreimal 10 mg, unternommen
werden. Vor einer endgültigen Bewertung eines möglichen Therapieerfolges sollte eine Mindesteinnahmedauer
von acht Wochen abgewartet werden. Standardtherapie bei Patienten mit organogener erektiler Dysfunktion,
bei denen eine rekonstruktive Operation nicht aussichtsreich erscheint oder nicht gewünscht wird, ist die
Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT). Hierbei wird mit einer "Insulinnadel" der Schwellkörper
einseitig von lateral punktiert und das Substanzgemisch, ohne vorherige Aspiration, appliziert. Unbedingte
Voraussetzungen zur SKAT sind ein sorgfältig ausgewählter, kooperationsfähiger Patient und ein ständig
erreichbarer Therapeut, der die Behandlung von eventuell auftretenden Nebenwirkungen beherrscht.
Nach Erlernen der Autoinjektionstechnik und Adaptation der Dosis (angestrebte Dauer der Erektion etwa 30
bis 60 Minuten) wird der Patient in die häusliche Selbstinjektion entlassen. Der Patient sollte höchstens zwei
bis drei Injektionen pro Woche durchführen; zur Vermeidung prolongierter Erektionen ist, auch im Falle eines
Nicht-Erfolges, von einer Nachinjektion am gleichen Tage abzusehen. Beim Auftreten einer prolongierten
Erektion (Dauer über vier Stunden) mit der Gefahr einer irreversiblen kavernösen Schädigung muß sich der
Patient zur Einleitung von geeigneten Maßnahmen sofort bei einem in der Behandlung dieser Nebenwirkung
erfahrenen Arzt einfinden. Zur frühzeitigen Erkennung lokaler oder systemischer Nebenwirkungen ist eine
engmaschige Nachkontrolle erforderlich.
Zur Zeit ist beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte noch keine Substanz zur
intrakavernösen Applikation mit dieser Indikationsstellung zugelassen. Aus diesem Grund stellt diese Therapie
einen Heilversuch dar. Jeder Patient muß besonders ausführlich über Risiken und mögliche Nebenwirkungen
(insbesondere Nicht-Zulassung der Substanz, prolongierte Erektion, Fibrose, vollständige Impotenz,
Kreislaufversagen, Schock, Krebsentstehung) aufgeklärt werden; diese Aufklärung ist zu dokumentieren und
vom Patienten zu unterschreiben. Auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen und klinischer Erfahrungen
ist momentan von der intrakavernösen Injektion von Papaverin als Monosubstanz abzuraten. Eher zu
empfehlen ist eine Mischung von Papaverin (15 mg/ml) und Phentolamin (0,5 mg/ml) in einer Dosierung von
0,2 ml bis zu 2 ml dieses Gemisches oder die Applikation von Prostaglandin E1 bis zu einer Dosierung von 5
bis 20 µg. Neuere Erkenntnisse legen nahe, daß der Stickoxid(NO)-Donor SIN-1 (Linsidomin) eine weitere
Standardsubstanz der SKAT werden könnte (14).
Treten bei der Kombination von Papaverin und Phentolamin im Vergleich zu PGE1 in einem höheren Maße
prolongierte Erektionen auf, so ist bei der Verwendung von PGE1 bei etwa zehn (bis zu 30 Prozent) der
Patienten mit zum Teil sehr ausgeprägten Schmerzen bei der Erektion zu rechnen. SIN-1 scheint keine dieser
gravierenden Nebenwirkungen zu besitzen, ist aber insgesamt weniger stark wirksam als die beiden
vorgenannten Substanzen/-kombinationen. Jüngeren Patienten mit rein arterieller Genese der erektilen
Dysfunktion (eventuell mit gering ausgeprägtem venösen Leck) kann eine arterielle Revaskularisation
angeboten werden. Hierbei wird mit mikrochirurgischen Techniken eine Anastomose zwischen A. epigastrica
inferior und A. dorsalis penis (eventuell mit gleichzeitigem Shunt zur V. dorsalis penis) angelegt. Noch vor
wenigen Jahren wurde dieses Verfahren häufig empfohlen und durchgeführt. Inzwischen mahnen die
postoperativen Ergebnisse, insbesondere beim Diabetiker, doch zu großer Zurückhaltung gegenüber dieser
Therapieoption. Patienten mit rein venöser Genese (etwa 10 bis 15 Prozent der Population mit erektiler
Dysfunktion) kann zur Reduktion des pathologischen kavernös-venösen Abstroms eine penile Venenligatur
vorgeschlagen werden. Bei diesem Verfahren herrscht über die Indikationsstellung keine allgemeine
Übereinstimmung, und die Langzeitergebnisse sind eher entmutigend. Die Anwendung von VakuumErektionshilfen ist wenig aufwendig und nur von wenigen lokalen Nebenwirkungen (Hämatom, Schmerz)
begleitet. Apparative Verbesserungen der jüngsten Zeit haben zu einer deutlich höheren Akzeptanz dieser
Behandlungsform bei Ärzten und Patienten geführt. Etwa 10 bis 25 Prozent des Gesamtkollektivs erscheinen
für diese Therapieoption geeignet. Die störende Kosmetik und die mangelnde Rigidität im Basisbereich spielen
eine wichtige Rolle bei einer Ablehnung durch den Patienten. Wird diese Therapieform einmal akzeptiert, sind
Langzeit-Zufriedenheit und -Erfolg jedoch gut. Insbesondere bei Patienten mit schwer einschätzbarer kardialer
Situation (zum Beispiel nach Herztransplantation) oder auch bei unzuverlässigen Patienten ist diese nichtinvasive Therapieform ohne systemische Nebenwirkungen anzuraten.
Die zeitlich am längsten verfügbare therapeutische Option bei organischen Erektionsstörungen, die
prothetische Versorgung, steht heute am Ende des therapeutischen Spektrums. Bei richtiger Indikationsstellung
sowie Aufklärung von Patient und Partnerin über die Vor- und Nachteile dieser Therapieform ist die
alloplastische Versorgung mit einer hohen Akzeptanz und Zufriedenheit der Patienten und ihrer Partnerinnen
verbunden. Grundsätzlich stehen eine Vielzahl von semirigiden und aufblasbaren Prothesen zur Verfügung,
wobei das bessere kosmetische Ergebnis der aufblasbaren Modelle im Vergleich zu den semirigiden, auch nach
wesentlichen Verbesserungen der letzten Jahre, durch eine erhebliche Reparaturanfälligkeit erkauft wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-2082–2086
[Heft 33]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Christian Stief
Urologische Klinik
Medizinische Hochschule Hannover
30623 Hannover
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