BRIEFE
Anatomie: Um kein Haar kürzen
Zu dem Beitrag „Reform des Medizinstudiums: Anatomie in der Zange: Gefährdung von zwei Seiten“ von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Welsch in Heft 31–32/2000:


Kaum ein Unterrichtsfach war für mich als Medizinstudent so wichtig wie gerade der Anatomieunterricht/Präparierkurs. Prof. Welsch ist voll beizupflichten: Wenn es ein vorklinisches Fach gibt, das dem angehenden Arzt gleichsam als hermeneutische Klammer der diffusen Einzelbeobachtungen zu einer wirklichen Humanwissenschaft dienen kann, dann ist es gerade die Anatomie. Noch lebhaft im Ohr ist mir die Mahnung meines Anatomieprofessors, der gern und oft den berühmten Anatomen Friedrich Tiedemann zitierte: „Ärzte ohne anatomische Kenntnisse sind wie Maulwürfe: Sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hände Tagewerk sind Erdhügel!“ Als Assistent der Frauenheilkunde habe ich mich an diese Mahnung oft erinnert und meine gute anatomische Ausbildung als äußerst hilfreich erlebt.
Ja, selbst als verantwortlichem Medizinredakteur einer großen Publikumszeitung kommen mir meine anatomischen Kenntnisse zugute: Denn die exakte Beschreibung von Stefan Effenbergs Achillessehne, Steffi Grafs Wirbelsäulenbeschwerden oder gar Goethes Schädel sind ohne exakte anatomische Kenntnisse gar nicht machbar. Im Lichte meiner ganz persönlichen Erfahrungen kann ich nur raten, den Anatomieunterricht eher zu intensivieren, keinesfalls aber auch nur um ein Haar zu kürzen!
A propos Goethe: der hat den Begriff „Morphologie“ erfunden (1796), eifrigst Anatomie studiert und zeitlebens eine ausführliche wissenschaftliche Korrespondenz zu den großen Anatomen seiner Zeit unterhalten. Ein Vorbild, auf das wir Ärzte stolz sein können.
Dr. med. Christoph Fischer, Redaktion Medizin, BILD-Zeitung, Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg