ArchivDeutsches Ärzteblatt48/2000Soziale Marktwirtschaft: Mehr Wettbewerb, weniger Umverteilung

POLITIK

Soziale Marktwirtschaft: Mehr Wettbewerb, weniger Umverteilung

Flintrop, Jens

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LNSLNS Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel will den staatlichen
Einfluss – auch auf das Gesundheitswesen – reduzieren,
um marktwirtschaftlichen Kräften mehr Freiraum zu geben.

Auf das angekündigte Streitgespräch zwischen Dr. rer. nat. Angela Merkel und Hans-Olaf Henkel warteten die mehr als 400 Gäste im Kölner Gürzenich vergebens. Zu nah beieinander lagen die Standpunkte der CDU-Vorsitzenden und des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI) zum Thema „Globalisierung – Bedrohung oder Chance für die Soziale Marktwirtschaft“, als dass sich ein offener Schlagabtausch hätte entwickeln können. „Mehr Marktpolitik und weniger Sozialpolitik“ oder „mehr Wettbewerb und weniger Umverteilung“ forderten die beiden Diskutanten und wollen so die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhöhen. Vor Mitgliedern der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU und des BDI plädierten Merkel und Henkel für einen Rückzug des Staates in vielen gesellschaftlichen Bereichen; sie sprachen sich auch für weniger staatliche Regulierung in der Gesundheitspolitik aus. „Wir müssen uns von allem planwirtschaftlichen Denken verabschieden, damit sich der Wettbewerb wieder frei entfalten kann“, sagte Angela Merkel. „Zu sozial ist unsozial“, ergänzte Henkel.
Lob für den „späten“ Seehofer
Die von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack in dem von ihnen entwickelten Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ angestrebte Balance zwischen Marktwirtschaft und sozialer Absicherung ist nach Angela Merkels Meinung in Deutschland nicht mehr intakt. „Deutschland lebt bereits seit Ende der Siebzigerjahre nur noch von seiner Substanz“, sagte die CDU-Vorsitzende. Es gebe derzeit einfach „verdammt wenig Umverteilungsmasse“. Um wieder an die internationale Spitze zu gelangen, müsse der Wettbewerb und mit ihm die Eigenverantwortung der Bürger gefördert werden. „Hier ein bisschen verteilen und dort ein bisschen verteilen – das funktioniert nicht mehr“, sagte Merkel. „Nur wenn ich ein wenig Dampf bekomme, bewege ich mich auch.“
Die CDU-Chefin betonte, dass sie die gesundheitspolitischen Reformen, die der ehemalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) zum Ende seiner Amtszeit (1997/98) auf den Weg bringen wollte, für einen Schritt in die richtige Richtung gehalten hätte. Zur Erinnerung: Der „späte“ Seehofer hatte offenbar erkannt, dass Budgets im Gesundheitswesen nicht zum Erfolg führen können. Zudem sprach sich Seehofer kurz vor seiner Abwahl für Grund- und Wahlleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus und wollte die Selbstbeteiligung der GKV-Versicherten erhöhen. Merkel bezeichnete es als Fehler der Union, dass sie es vor der letzten Bundestagswahl versäumt habe, den Bürgern ihre langfristigen gesundheitspolitischen Absichten zu erläutern: „Die Leute hatten den Eindruck, in den Keller zu gehen, ohne zu wissen, wie sie dort wieder rauskommen.“ Dies sei ein entscheidender Grund für die Wahlniederlage ihrer Partei gewesen.
Angela Merkel forderte eine „neue“ Soziale Marktwirtschaft. „Mit dem Übergang von der Industrie- zur Informations- und Wissensgesellschaft findet der Wettbewerb auf internationaler Ebene statt“, sagte Merkel. Nationale Regelungen, die die Kosten der Produkte, besonders den Faktor Arbeit, beeinflussen, müssten deshalb im Hinblick auf ihre Wettbewerbsfähigkeit überprüft werden. Weil die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland nahezu ausschließlich an die Lohnbasis gekoppelt seien, ergebe sich die Notwendigkeit, sowohl innovativer und produktiver als andere Länder zu sein und auch die Systeme der sozialen Sicherung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Merkel forderte deutlich höhere Investitionen in das Bildungssystem. Zudem müsse ein Wettbewerb zwischen den Universitäten geschaffen werden.
Auch Hans-Olaf Henkel, der am 1. Januar 2001 von Michael Rogowski an der Spitze des BDI abgelöst wird, weil er nach der Satzung nicht mehr wiedergewählt werden kann, plädierte für mehr Wettbewerb an Schulen und Hochschulen. Das Problem der Politiker mit der Bildungspolitik sei, dass sich der politische Erfolg einer guten Bildungspolitik erst sehr langfristig einstelle. Sein Vorschlag: Eltern sollten für jedes ihrer Kinder eine Wahlstimme erhalten. „Dann wird es Politikrezepte geben, die auch auf die zukünftigen Wähler zugeschnitten sind.“ Jens Flintrop


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