ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2001Die unbestimmten Rechtsbegriffe im SGB V: Die Politik muss entscheiden

THEMEN DER ZEIT

Die unbestimmten Rechtsbegriffe im SGB V: Die Politik muss entscheiden

Hege, Hans

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS Die Analyse der begrifflichen Grundlagen in der
Gesetzlichen Krankenversicherung zeigt, dass aus ihnen eine
Leistungsbegrenzung nicht logisch entwickelt werden kann.


Seid genau mit den Begriffen, dann gedeihen Künste und Wissenschaften und der Bürger weiß, wohin seinen Fuß setzen“, mahnte Konfuzius vor 2 500 Jahren und war damit in China bei der Obrigkeit nicht sonderlich beliebt. 200 Jahre dauerte es, bis er vom ersten Kaiser der Han-Dynastie durch öffentliche Opferung an seinem Grab sozusagen kanonisiert wurde.
Der Arzt heute ist bescheidener und gäbe sich mit Vorgaben zufrieden, wenn sie nur einigermaßen genau seine Pflichten und Rechte umschrieben, die ihm im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zukommen. Im Sozialgesetzbuch V (SGB V) heißt es: Der Patient hat Anspruch auf Heilung von Krankheit, Linderung und Verhütung von Leiden, und in diesem Rahmen müssen die Leistungen des Arztes „ausreichend“, „zweckmäßig“, „wirtschaftlich“ und „notwendig“ sein.
Vertrauen in die Kassenärzte
Diese Begriffe finden sich schon in der Reichsversicherungsordnung der Kaiserzeit. Sie entstammen einer Zeit, in der niemand auf den Gedanken kam, ein anderer als der behandelnde Arzt könne über ihre rechte Anwendung im Einzelfall entscheiden. Damals war nicht strittig, dass die Kontrolle auf Missbrauch durch Ärzte zu geschehen hat und am Einzelfall oder jedenfalls an einer repräsentativen Zahl von Einzelfällen nachzuweisen ist. Unstrittig war auch, dass die GKV die Mittel für die anerkannten Leistungsforderungen aufzubringen hatte. Zwar wurde die GKV in den Nachkriegsjahren bis 1965 zunehmend zahlungsunfähig und konnte nur noch einen mehr oder weniger großen Prozentsatz der anerkannten Honorare auszahlen. Aber an der Richtigkeit der Forderungen selbst rüttelte niemand. Das sich hierin widerspiegelnde Vertrauen in die Kassenärzte war so wirksam, dass 1965 die Einzelleistungsbezahlung politisch durchgesetzt werden konnte.
23 Jahre später wurde die an den Ausgaben orientierte Beitragspolitik der Krankenkassen auf den Kopf gestellt und durch eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik ersetzt. Die Begriffe „notwendig, ausreichend, wirtschaftlich, zweckmäßig“ sind dennoch in der Sozialgesetzgebung weiterhin als formale Orientierungsmarken von grundsätzlichem Gewicht erhalten geblieben, obwohl sie ihrer systematischen Verankerung beraubt wurden und nur noch als Worthülsen zu beliebigem Gebrauch taugen.
Die Begriffe „notwendig“ und „ausreichend“ können als Synonyme angesehen werden. Der Arzt versteht unter einer notwendigen immer auch eine ausreichende Therapie; für ihn ist der Ausdruck „notwendig und ausreichend“ ein weißer Schimmel.
Im strengen Sinne lässt sich Notwendigkeit nur in der Logik und der Mathematik definieren. In der Medizin geht man besser auf den ursprünglichen Wortsinn zurück. Notwendig ist, was eine Not wendet. Not ist eine relative Angelegenheit. Auch wenn man akute Lebensgefahr allgemein als Not anerkennen dürfte, so denkt doch nicht einmal der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion daran, die Leistungen der GKV auf die Rettung vor akuter Lebensgefahr zu beschränken, und nicht einmal Asylbewerbern und Sozialhilfeempfängern mutet der Staat solche Beschränkungen zu. Not hat Schweregrade, aber aus ärztlichem Fachwissen lässt sich kein objektives Maß dafür ableiten, wann eine Not so gering ist, dass sie von der Gesetzlichen Krankenversicherung mithilfe des Arztes nicht mehr gewendet werden muss. Auch Schmerz ist eine skalare Größe und dehnt sich vom unerträglichen Vernichtungsschmerz bis zur harmlosen Schnittverletzung. Dem Arzt ist es gleichgültig, er lindert kleine und große Schmerzen, soweit er kann. Aber der Kassenarzt?
„Konvention der Gesellschaft“
Auch Behinderung kann man eine Not nennen. Und auch sie hat Grade, reicht von der hohen Querschnittslähmung bis zum versteiften Kleinfingerendgelenk. Hier gilt das Gleiche wie für den Schmerz: Aus ärztlichem Fachwissen lässt sich keine Begrenzung der Leistungspflicht der GKV ableiten, soweit Therapie möglich ist. Selbst wenn es eine solche Messlatte gäbe, kann aus ärztlichem Wissen nicht der Grenzpunkt markiert werden, an dem die Solidargemeinschaft der Versicherten von ihrer Leistungspflicht freizustellen ist. Aus ärztlichem Wissen kann nur abgeleitet werden, wo Therapie nicht möglich ist.
Nun steht der Begriff des Notwendigen im SGB V nicht im luftleeren Raum. Die Leistungen des Arztes müssen notwendig sein für die Heilung und Früherkennung von Krankheiten, für die Linderung von Leiden und für die Verhütung von Krankheiten. Die Hoffnung, jetzt endlich in Bezug auf genaue Begriffe fündig geworden zu sein, zerrinnt bei näherer Betrachtung. Viel weiter, als Karl Jaspers bereits 1913 war, sind wir auch heute nicht: „Was aber Krankheit sei, ist letztlich eine Konvention der Gesellschaft.“ Sind Unfruchtbarkeit, Lebenskrisen, Neurosen, Schwangerschaft, die verbogene Nasenscheidewand oder abstehende Ohren von der Gesellschaft als Krankheit konsentiert, dann muss die GKV auch für ihre Behandlung aufkommen. Aber solche Definition ist keine ärztliche Entscheidung. Das Gleiche gilt für die Definition dessen, was Leiden zu nennen sei. Die ärztliche Entscheidung betrifft nur die Frage, ob Krankheit und Leiden oder Beschwernisse mit den Mitteln des Arztes behandelbar sind.
Damit sind wir beim nächsten begrifflichen Anker: Was ist Heilung? Auch hier treffen wir wieder auf unterschiedliche Grade. Von der perfekten Heilung (restitutio ad integrum) über Dauersubstitution, Defektheilung bis zur Unheilbarkeit reicht das Panorama. Wie viel man erreicht, hängt dabei vielfach vom Mitteleinsatz ab. Die Zahnärzte demonstrieren das gerade am Gebiss und tun sich verhältnismäßig leicht, zwischen „funktionsgerecht ausreichend“ und „Luxus“ zu unterscheiden. Als es noch keine Gelenkendoprothesen gab, hieß das Rezept für unerträgliche Gelenkschmerzen „operative Versteifung“: also Schmerzfreiheit gegen anatomischen Defekt.
Die Entscheidung darüber, wann ein Leiden so gering ist, dass der Solidargemeinschaft die Kosten seiner Linderung nicht zuzumuten sind, ist aus dem berufsspezifischen Wissen des Arztes nicht ableitbar. Die Säulen, auf denen die Begriffe „notwendig und ausreichend“ im SGB V ruhen, bilden kein geeignetes Fundament, um die Dienstleistungspflicht der GKV so zu definieren, dass Arzt und Patient sich im Einzelfall in gegenseitiger Offenheit daran orientieren können. Es gibt keinen objektiven Maßstab für den Grad des Leidens oder den Grad an Heilung, der die Markierung der Grenze der Leistungspflicht der GKV bereits enthielte.
Leistungspflicht der Kassen
Zurzeit herrscht Einvernehmen darüber, dass die Leistungspflicht der GKV eingeschränkt werden muss. Sätze wie „nicht alles Machbare ist bezahlbar“, „Solidarität nur für die Belastungen, die der Einzelne nicht selbst schultern kann“ finden bereitwillige Zustimmung. Man schlägt eine solidarische Grundsicherung vor, die der Einzelne auf eigene Kosten erweitern kann. Aber über solche allgemeinen Absichten hinaus sucht man vergeblich nach konkreten Aussagen, welche kurativen Leistungen aus der Basisversicherung herausgenommen werden sollen. Die Analyse der begrifflichen Grundlagen des Leistungsrechts der GKV ergibt, dass aus ihnen eine Begrenzung diagnostischer und therapeutischer Handlungen nicht logisch entwickelt werden kann. Nicht einmal die Einschränkung auf wissenschaftlich anerkannte Verfahren ist möglich, weil der Gesetzestext zwar das Ziel – Heilung von Krankheit, Linderung von Leiden, Verhütung der Verschlimmerung – definiert, aber nicht die Methoden, mit denen das Ziel verfolgt werden darf. Nur bei neu angebotenen Leistungen kann der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen entscheiden, ob sie wissenschaftlich genügend abgesichert sind.
Dieser Ansatz scheint nicht sonderlich tragfähig: Zum einen, weil er die Bedeutung ärztlicher Erfahrung und den prozesshaften Charakter der wissenschaftlichen Entwicklung nicht berücksichtigt; zum anderen, weil die Kostenausweitung ja überwiegend die Folge des fortschreitenden wissenschaftlichen Wissens und Könnens ist.
Indizierte Leistungen lassen sich solange nicht aus einer Basisversorgung ausgliedern, wie die Begriffe Krankheit, Heilung, Leiden das Fundament des Versichertenanspruchs sind. Will man eine rechtlich tragfähige Basis für die Begrenzung der Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft schaffen, so müssen diese Begriffe aus dem Eingangsparagraphen des SGB V gestrichen werden. Stünde dort: „Der Versicherte hat Anspruch auf Heilbehandlung durch Vertragspartner der Krankenkassen im durch Vertrag und Gesetz festgelegten Umfang“, würde nicht jede Krankheit zwingend die Leistungspflicht der Krankenkassen auslösen. In der Formulierung der Grundversorgung könnten dann bestimmte Krankheiten ausgenommen werden, was bei der gegenwärtigen Gesetzeslage nicht möglich ist (zum Beispiel Impotenz, Unfruchtbarkeit oder andere regelwidrige Körper- oder Geisteszustände mit Bagatellcharakter). Die Diagnose einer neurotischen Störung würde nicht automatisch – weil unter dem Begriff Krankheit subsumiert – eine Leistung der Krankenkassen verursachen, sondern diese könnte vom Schweregrad abhängig gemacht werden.
Dimension der Unschärfe
Es ist eine Vielzahl anderer Selektionskriterien denkbar. Aber in jedem Fall gewönnen dann auch die Begriffe
„notwendig“, „ausreichend“, „zweckmäßig“ einen pragmatischen und konkreten Bezug und wären nicht länger als dialektischer Joker verwendbar.
Der Begriff der Notwendigkeit hat aber in der Medizin, bezieht er sich nun auf Heilung von Krankheit, Linderung von Leiden oder Verhütung von Krankheit, noch eine weitere Dimension der Unschärfe. Diese entspringt nicht der – übrigens unaufhebbaren – Unbestimmtheit der hier zur Debatte stehenden Begriffe, die durch ihre gesetzliche Verankerung zu Verwaltungsbegriffen gemacht werden. Sie ist vielmehr durch die Natur des ärztlichen Wissens bedingt, soweit es über das bloße Konstatieren von Fakten (also die Befunderhebung) hinausgeht. Jede therapeutische ärztliche Entscheidung dient ja dem im SGB V formulierten Heilungszweck. In Bezug auf diesen Zweck muss sie zweckmäßig sein, also geeignet sein, der Erreichung dieses Zieles zu dienen. Wo sie andere Zwecke verfolgt – etwa die Einkommenssteigerung oder eine Täuschung des Patienten –, wird nicht nur das
SGB V, sondern auch die ärztliche Berufsordnung verletzt. Da aber jede ärztliche Leistung auf einer Handlungsentscheidung beruht, die ihrerseits auf einen Zweck gerichtet ist, rechtfertigt sie sich notwendigerweise durch eine in die Zukunft gerichtete Erwartung, nämlich die, den Zweck auch zu erreichen. Diese Erwartung ist aber in der Medizin mit einer unaufhebbaren Ungewissheit behaftet.
Ob Therapie ihr Ziel erreicht, ist im Augenblick der therapeutischen Entscheidung ungewiss. Ob die Leistungen notwendig und ausreichend gewesen sind, lässt sich erst hinterher beurteilen, und selbst dann nicht immer. In dem Moment, in dem der Arzt sich für eine Leistung entscheidet und damit auch ein Honorar nach der Gebührenordnung fällig wird, stützt er sich selten auf Gewissheit, sondern in aller Regel nur auf Wahrscheinlichkeit. Berücksichtigt er im konkreten Fall Unwahrscheinliches nicht und hofft, dass es schon nicht vorliegen oder eintreten werde, riskiert er den Vorwurf, das Notwendige und Ausreichende versäumt zu haben. Bemüht er sich durch umfangreichen Aufwand, die Wahrscheinlichkeit einer richtigen therapeutischen Entscheidung zu maximieren, sieht er sich leicht dem Vorwurf der Überdiagnostik oder Übertherapie ausgesetzt.
Das nach zeitgenössischem Stand der wissenschaftlichen Forschung Verfügbare bietet zwar einen wichtigen Anhalt zum Abgreifen von Handlungsoptionen, beschreibt aber immer noch nicht das im Einzelfall Ausreichende und Zweckmäßige, weil das Sein des Kranken durch eine Diagnose nicht vollständig beschreibbar ist.
Der Arzt strebt ebenso wie sein Patient danach, die Sicherheit seiner Voraussagen so weit wie möglich zu steigern. Beide sind außerdem daran interessiert, alle Chancen zu nutzen, bei denen das Verhältnis Nutzen–Risiko dies nicht verbietet. Aber auch hier handelt es sich oft um ein Abwägen von Wahrscheinlichkeiten unter den im Einzelfall gegebenen Bedingungen. Soweit dies der Fall ist, geben die Begriffe „notwendig und ausreichend“ keinen Sinn her, sind also im wahrsten Sinne des Wortes „leer“ (Kant).
Freiheit ärztlichen Handelns
Die richtige Diagnose und die richtige Therapie sind keine unmittelbaren Wahrnehmungen, sondern das Resultat eines kritischen Prozesses, der von Symptomen ausgeht und sie durch das Zusammentragen von Beweisen zu erhärten sucht. In jedem Stadium dieses Prozesses können durch den Arzt Entscheidungen getroffen werden, die sich hinterher als falsch oder unnötig erweisen, im jeweiligen Stadium des differenzialdiagnostischen und differenzialtherapeutischen Prozesses aber ärztlich begründbar waren.
Die ärztliche Leistungspflicht gesetzlich auf das Notwendige und Ausreichende zu beschränken, ignoriert diese Dimension der Unbestimmtheit und ist darum utopisch. Der Arzt kann nur verpflichtet werden, das zu unterlassen, was er selbst in der aktuellen Situation für überflüssig hält. Dieser unaufhebbare Einschlag von Ungewiss-heit in der Situation aktuellen therapeutischen Handelns erfordert Freiheit der Entscheidung. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese wie jede Freiheit auch missbraucht werden kann. Solcher Missbrauch ist besonders schwer nachzuweisen. Denn er setzt voraus, dass der Arzt bewusst überflüssige Leistungen erbringt. Das nennt man Betrug. Wenn er aber diese Leistungen selbst für nötig hält, ist es kein Betrug, und auch kein Freiheitsmissbrauch, sondern eben ein Irrtum. Unter Umständen freilich einer, für den er haftbar gemacht werden kann.
Im GKV-System tritt die kollektive Kostenerwägung hinzu. Sie ist unabweislich, sobald die Solidargemeinschaft an die Grenzen der ihr verfügbaren Mittel stößt. Es ist unvermeidlich, dass sie früher oder später an eine solche Grenze kommt, wenn sie ihren Versicherten alle Möglichkeiten der Medizin zur Verfügung stellt. Dann nämlich muss die Frage beantwortet werden, wie ihre Leistungspflicht begrenzt werden kann. Wie die Antwort auch ausfallen mag: Sie muss den Anspruch aufgeben, dem Versicherten alle Möglichkeiten der Medizin zur Verfügung zu stellen Der Gesetzgeber muss sie in die Lage versetzen, dies auch zu tun. Denn so gewiss jede Leistungsbegrenzung sich auch auf ärztliches Wissen stützen muss, so gewiss ist sie aus diesem Wissen nicht abzuleiten, sondern bedarf einer politischen Entscheidung darüber, welche Risiken der Solidargemeinschaft nicht mehr zugemutet werden können. Das ist rechtslogisch nur möglich, wenn die Leistungspflicht der Solidargemeinschaft nicht länger an die Begriffe Krankheit, Heilung, Leiden gekoppelt wird. Der Versuch, ihnen eine andere Definition zu geben als die in der Gesellschaft konsentierte, führt zu schwer erträglichen Widersprüchen. Das hat die Einführung des Ausdrucks „Befindlichkeitsstörungen“ deutlich gezeigt. Auch der am Bundessozialgericht gescheiterte Versuch des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, das Präparat Viagra von der Leistungspflicht der Krankenkassen auszunehmen, ist dafür ein Beispiel.
Der Versuch, das Kostenproblem kameralistisch zu lösen, indem man die Mittel der Solidargemeinschaft ökonomisch festschreibt (Beitragssatzstabilität, sektorale oder globale Budgetierung), führt in unauflösbare Widersprüche, weil der Gesetzestext den Anspruch des Versicherten nicht ökonomisch, sondern als Sachleistung definiert. Die pfiffige Idee des Altbundespräsidenten Roman Herzog: „Gebt den Ärzten eine festgesetzte Summe und lasst sie damit machen, was sie für richtig halten“, geht zwar nicht zu Unrecht davon aus, dass die Ärzte unter solchen Bedingungen sich bemühen werden, das verfügbare Geld so sinnvoll wie möglich zu verwenden. Aber sie ignoriert, dass das geltende Recht den Ärzten gar nicht jene Ermessensfreiheit gibt, die ihnen unter Ausnahmebedingungen einer Katastrophensituation zugestanden werden muss. Kein Gericht hätte eine Handhabe, einen Arzt vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung oder gar eines Kunstfehlers freizusprechen mit dem Argument, er habe nicht anders handeln können, weil sein Budget erschöpft gewesen sei. Auch die Krankenkassen können sich auf diese Rechtslage stützen, wenn sie feststellen, Ärzte und Krankenhäuser seien auch dann zur Erfüllung ihrer vertraglichen Aufgaben verpflichtet, wenn ihr Budget erschöpft ist. Hier tritt ein Zielkonflikt zutage, der auf einer widersprüchlichen Rechtslage beruht und den Betroffenen nur die Wahl lässt, welches Rechtsprinzip sie verletzen wollen. Das ist auf die Dauer unerträglich, denn der „Bürger weiß nicht mehr, wohin seinen Fuß setzen“. Es ist eben kein Interessenkonflikt, den man durch Verhandeln lösen kann. Es löst den Protest gerade derjenigen aus, die sich rechtskonform verhalten wollen. Und das Unbehagen, dabei Beifall von der falschen Seite zu bekommen.
Neues Rechtsfundament
Widersprüche zwischen Berufs-, Sozial-, Zivil- und Strafrecht führen zur Beschädigung des Ansehens des Rechtssystems und untergraben das Vertrauen in die öffentliche Ordnung. Auf dem Gebiet der Ordnung des Gesundheitssystems wird das zunehmend spürbar. Zwar wird das noch weitgehend verdrängt durch die Hoffnung, das Problem durch Strukturreformen zu lösen und den Vermeidungsstrategien der Betroffenen durch intensivierte Kontrollen gegensteuern zu können. So wenig bestritten werden kann, dass dabei auch sinnvolle Detailregelungen entstehen können, so wenig wird man die Augen davor verschließen dürfen, dass sie angesichts der absehbaren Entwicklung der Medizin und ihrer Möglichkeiten das Grundproblem nur verschieben. Es genügt nicht, Schönheitsreparaturen vorzunehmen. Das Rechtsfundament muss geändert werden. Und zwar so, dass es wieder eine gemeinsame und widerspruchsfreie Basis für alle Rechtssektoren bilden kann.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 233–236 [Heft 5]
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Hans Hege
Facharzt für Allgemeinmedizin
St. Egidistraße 33
82205 Gilching


Die Begriffe „ausreichend“, zweckmäßig“, „wirtschaftlich“ und „notwendig“ finden sich schon in der Reichsversicherungsordnung der Kaiserzeit. Über ihre rechte Anwendung entschied der behandelnde Arzt.


„Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht
sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!“
Goethe, Faust, Erster Teil


Es genügt nicht mehr, Schönheitsreparaturen am System der Gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen. Eine Leistungsbegrenzung kann allerdings aus ärztlichem Wissen nicht abgeleitet werden, sondern bedarf der politischen Entscheidung.


Der Verfasser war von 1991 bis 1999 Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und ist seitdem deren Ehrenpräsident.

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote