MEDIZIN: Die Übersicht
Therapie der Adipositas
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Aufgrund ihres häufigen Vorkommens stellt die Adipositas eines der wichtigsten Gesundheitsprobleme in
Deutschland dar. Die jährlichen Kosten für die Behandlung der Adipositas und ihrer Folgen belaufen sich
schätzungsweise auf zirka 30 Milliarden DM (1). Sie bedroht nicht nur zahlreiche Organfunktionen, sondern
führt zu schwerwiegenden psychosozialen Problemen. Hauptursachen für die Entstehung
der Adipositas sind sowohl gesundheitsschädigende Lebensgewohnheiten (Über- und Fehlernährung,
Bewegungsmangel) als auch genetische Faktoren. Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich
auf die Adipositas bei Erwachsenen. Für Kinder und Jugendliche müssen andere Richtlinien berücksichtigt
werden.
Definition
Adipositas wird als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfettes definiert. Für
Diagnose und Klassifikation von Übergewicht und Adipositas werden der Körpermassenindex (BMI) und der
Taille/Hüft-Quotient berechnet (Textkasten). Anhand des Körpermassenindexes werden folgende Schweregrade
unterschieden (Tabelle).
Häufigkeit
In der Bundesrepublik Deutschland sind 40 Prozent der Bevölkerung übergewichtig, 16 Prozent adipös und 1
Prozent extrem adipös. Deutschland hat damit im weltweiten Vergleich die höchste Prävalenz. Die Häufigkeit
der Adipositas nimmt bis zu einem Lebensalter von 60 Jahren kontinuierlich zu. Bei Männern beginnt die
Adipositas oft früher als bei Frauen, im höheren Lebensalter sind allerdings Frauen häufiger adipös als
Männer.
Gesundheitsrisiken
Übergewicht und Adipositas können zahlreiche Gesundheitsstörungen auslösen und verstärken. Adipöse leiden
häufig an Atemnot, Ermüdbarkeit und Gelenkbeschwerden und erfahren eine Beeinträchtigung des
Selbstwertgefühls. Übergewicht und Adipositas begünstigen die Entstehung kardiovaskulärer Risikofaktoren
und sind der stärkste Promotor des metabolischen Syndroms. Das gehäufte Auftreten kardiovaskulärer
Risikofaktoren wie Hypertonie, Hyperlipidämie und Diabetes mellitus erklärt die erhöhte Inzidenz
arteriosklerotischer Komplikationen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Außerdem ist Übergewicht mit anderen
Krankheiten wie Gallensteinerkrankungen, Venenleiden, Herzinsuffizienz, degenerativen
Gelenkserkrankungen, Gicht und bestimmten Karzinomen assoziiert. Diese Begleit- und Folgeerkrankungen
haben eine Verkürzung der Lebenserwartung in Abhängigkeit von Ausmaß und Dauer des Übergewichtes zur
Folge. Nahezu alle adipositasbedingten Gesundheitsstörungen können durch eine Gewichtsreduktion gebessert
oder beseitigt werden.
Bedeutung des Fettverteilungsmusters
Nicht nur das Ausmaß des Übergewichtes, sondern auch die Verteilung der Fettdepots bestimmt das
Gesundheitsrisiko. Dieses ist bei abdominaler (stammbetonter oder androider) Fettverteilung wesentlich höher
als bei gluteofemoraler (hüftbetonter oder gynoider) Fettansammlung. Das Fettverteilungsmuster hat besonders
bei Übergewicht (Adipositas Grad I) maßgeblichen Einfluß auf das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko und muß
deshalb bei der Abschätzung des Adipositas-assoziierten Gesundheitsrisikos berücksichtigt werden.
Diagnostik
Zur obligatorischen Untersuchung gehören die Ermittlung des Körpermassenindexes (BMI), die Bestimmung
der Körperfettverteilung (WHR), der Lipidstatus (Cholesterin, HDL-Cholesterin und LDL-Cholesterin,
Triglyceride), der orale Glukosetoleranztest, die Blutdruckmessung und die Messung von Harnsäure und
basalem Thyreotropin (TSH). In Abhängigkeit von Beschwerden und Befunden sowie geplanten
therapeutischen Maßnahmen muß die Diagnostik erweitert werden. Die sorgfältige Erhebung der Familien-,
Psycho-, Sozial- und Ernährungsanamnese ist eine wichtige Voraussetzung für die Therapieplanung.
Indikationen für die Therapie
Die Indikation zur Behandlung von Übergewicht und Adipositas ist grundsätzlich gegeben, wenn
1 der Körpermassenindex > 30 kg/m2 beträgt
1 bei einem Körpermassenindex zwischen 25 und 29.9 kg/m2 übergewichtsbedingte Gesundheitsstörungen
und/oder ein abdominales Fettverteilungsmuster und/oder Erkrankungen vorliegen, die durch Übergewicht
verschlimmert werden.
1 bei einem Körpermassenindex zwischen 25 und 29.9 kg/m2 ein erheblicher psychosozialer Leidensdruck
besteht.
Therapie
Diätetische Maßnahmen
Ziel der diätetischen Behandlung ist eine negative Energiebilanz durch Verringerung der Energiezufuhr. Diese
ist durch eine energiereduzierte Mischkost mit täglich 1 000 bis 1 500 kcal (4.2 bis 6.3 MJ) zu erreichen, die 50
bis 55 Prozent der Energie als Kohlenhydrate, 30 bis 35 Prozent als Fett und 15 bis 20 Prozent als Eiweiß
(mindestens 50 g vorwiegend hochwertiges Protein) enthalten sollte. Die untere Grenze der Energiezufuhr von
1 000 kcal/die soll bei Mischkost nicht unterschritten werden, nach oben können individuelle Anpassungen
vorgenommen werden. Die Flüssigkeitszufuhr muß mindestens 2,5 Liter täglich betragen. Diäten mit 700 bis 1
000 kcal/die müssen 50 g Protein, 90 g Kohlenhydrate und 7 g Linolsäure gemäß Paragraph 14 a der
Diätverordnung enthalten (2, 5). Diäten mit extrem niedrigem Energiegehalt zwischen 450 und 700 kcal/die
(VLCD) müssen mindestens 50 g Protein, 45 g Kohlenhydrate und zirka 7 g Fett bei gleichzeitiger Substitution
von Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen enthalten. Ihre Anwendung sollte auf vier bis sechs
Wochen zeitlich limitiert sein. Unterhalb einer Energiezufuhr von 1000 kcal ist eine regelmäßige ärztliche
Betreuung und Überwachung erforderlich. Diäten, die diese Kriterien nicht erfüllen, insbesondere die Null-Diät
und Außenseiterdiäten, sind in der Adipositastherapie nicht zu empfehlen (3, 4, 11). An kommerzielle
Diätprogramme sind folgende Anforderungen zu stellen: die Diät muß bilanziert sein und dem Paragraph 14 a
der Diätverordnung entsprechen. Information und Schulung von Eß- und Ernährungsverhalten sowie ärztliche,
ernährungs- und bewegungstherapeutische und psychologische Betreuung sind Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Anwendung. Selbsthilfegruppen können therapeutischen Rückhalt bieten.
Verhaltens- und Psychotherapie
Ziele der Verhaltenstherapie der Adipositas sind, die Motivation zur Gewichtsreduktion zu verstärken, das Eß-
und Ernährungsverhalten langfristig zu ändern, die körperliche Aktivität zu steigern sowie psychosoziale
Probleme und Mißerfolge bei der diätetischen Therapie zu bewältigen (10). Die Methoden der
Verhaltenstherapie orientieren sich an den Prinzipien der Lernpsychologie. Sie können im Einzelfall je nach
individueller Problemkonstellation durch Methoden der Psychotherapie ergänzt werden.
Einen wichtigen Stellenwert für eine langfristig erfolgreiche Verhaltensbilanz, ohne die ein modifiziertes
Verhalten nicht stabilisiert werden kann, nimmt die Mißerfolgsprophylaxe ein. Mißerfolgsfördernd sind unter
anderem ein zu hohes Anspruchsniveau, das durch zu großen Verhaltensaufwand den Patienten überfordert,
das Zulassen von rigiden Verhaltensvorschriften, die bereits durch unbedeutende Überschreitungen das gesamte
Kontrollsystem außer Kraft setzen und restriktive Diäten, die zu Hungergefühlen führen. Erfolgsfördernd sind
Ziele und Maßnahmen, die auf die individuellen Möglichkeiten abgestimmt sind und realisiert werden können,
flexible Verhaltensvorgaben, die Spielraum für Korrekturen zulassen, sowie eine kohlenhydratreiche
Ernährung zur Vermeidung von Hungergefühlen. Adipöse Patienten sind häufig als Folge ihrer persönlichen
Erfahrungen mit Diätmaßnahmen und infolge der sozialen Diskriminierung mißerfolgsorientiert. Daher bietet
sich als adjuvante Psychotherapie ein Selbstsicherheitstraining an. Aber auch Strategien zur Streßverarbeitung
sowie zur Entspannung können im Einzelfall notwendig sein. Persönlichkeitsstörungen anderer Art sind
unabhängig von der Adipositastherapie durch konventionelle Psychotherapie zu behandeln.
Bewegungstherapie
Für vermehrte körperliche Aktivität bei Adipositas gibt es mehrere Gründe: Bewegungsmangel ist ein
Hauptfaktor für die Zunahme der Adipositasprävalenz. Durch Steigerung des Energieverbrauches ist eine
Negativierung der Energiebilanz möglich. Vermehrte körperliche Aktivität beeinflußt adipositas-assoziierte
Krankheiten positiv. Bei Reduktionskost wird der Abbau von Muskeleiweiß verhindert. Durch körperliches
Training wie Ausdauer- und Kraftsport wird vermehrt Depotfett mobilisiert. Wird eine Kombinationstherapie
mit einer hypokalorischen Kost durchgeführt, bleibt die Muskelmasse weitgehend erhalten(12). Die
Bewegungstherapie ist nicht zur schnellen Gewichtsabnahme geeignet. Zur Gewichtserhaltung nach einer
Phase der Gewichtsreduktion ist vermehrte körperliche Aktivität jedoch unverzichtbar. Ein körperliches
Training hat unabhängig von der Gewichtsabnahme günstige Einflüsse auf kardiovaskuläre Risikofaktoren.
Sportarten, bei denen große Muskelgruppen mit hohem Energieverbrauch zum Einsatz kommen und die die
Gelenke entlasten, wie Schwimmen und Radfahren, sind grundsätzlich geeignet. Auch die Steigerung
alltäglicher Aktivitäten hat günstige Auswirkungen. Die Compliance ist höher, wenn Sport in Gruppen
ausgeübt wird.
Medikamentöse Therapie
Die genauen, an der Regulation der Nahrungsaufnahme beteiligten Mechanismen sind noch weitgehend
unbekannt. Deshalb ist eine kausalpathogenetisch orientierte medikamentöse Therapie der Adipositas erst in
Ansätzen möglich. Amphetamine sind auf Grund ihres Suchtpotentials und schwerwiegender Nebenwirkungen
nicht zu empfehlen. Schilddrüsenhormone sind bei euthyreoter Stoffwechsellage kontraindiziert. Therapeutisch
nutzbar sind Substanzen wie Dexfenfluramin, die zu einer vermehrten Freisetzung von Serotonin im
Zentralnervensystem führen und dadurch das Sättigungsgefühl verstärken können (5). Die medikamentöse
Therapie ist nur als eine additive Maßnahme bei Adipositas (BMI > 30) anzusehen, die begleitend zu Diät- und
Verhaltenstherapie eingesetzt werden kann. Die Indikationsstellung sollte auch vom Vorliegen weiterer durch
die Adipositas geförderte Krankheiten wie Hyperlipidämie, Diabetes mellitus und Hypertonie abhängig
gemacht werden. Die Medikamenteneinnahme ist derzeit auf drei Monate begrenzt.
Konservative interventionelle Therapie
Die Behandlung mit luft- und flüssigkeitsgefüllten Implantaten des Magens hat sich bei bestimmten Patienten
als wirksam erwiesen. Das Verfahren ist jedoch aufwendig, teuer und nicht frei von Nebenwirkungen. Bei
unsachgemäßer Anwendung können Komplikationen und auch Todesfälle auftreten. Dies limitiert den Einsatz
von Implantaten, der nur an speziellen Zentren unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden sollte.
Chirurgische interventionelle Therapie
Eine chirurgische Therapie ist nur bei extremer Adipositas (BMI > 40) indiziert, sofern diese bereits seit Jahren
besteht und konservative Therapiemaßnahmen erfolglos geblieben sind (6). Standard-Operationsverfahren ist
die vertikale Gastroplastik nach Mason (9). Die Silikon-Band-Magenplastik nach Kuzmak stellt eine
interessante Alternative dar, die derzeit noch in Erprobung ist (8). Bei beiden Verfahren wird unterhalb des
Ösophagus ein kleines Reservoir gebildet (zirka 60 ml), das über eine enge Öffnung seinen Inhalt in den
ansonsten intakten Restmagen entleert. Dermolipektomien stellen kein Primär-Therapieverfahren dar, sondern
sollen nur nach erfolgreicher Gewichtsreduktion zur Vermeidung und/oder Therapie von sekundären
Hautveränderungen durchgeführt werden.
Schlußfolgerung
Die Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die ein individuelles und langfristiges Therapiekonzept
erfordert. Hierzu gehören diätetische Maßnahmen, Bewegungs- und Verhaltenstherapien, die parallel
anzuwenden sind. So kann die Lebensqualität und die Lebenserwartung verbessert werden. Bei Extremformen
kann ein operatives Vorgehen indiziert sein.
Resümee
Die Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die ein individuelles und langfristiges Therapiekonzept
erfordert. Hierzu gehören diätetische Maßnahmen, sowie Bewegungs- und Verhaltenstherapie, die parallel
anzuwenden sind. Auf diese Weise können die Lebensqualität und die Lebenserwartung verbessert werden. Bei
Extremformen der Adipositas kann ein operatives Vorgehen indiziert sein.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-2214–2218
[Heft 36]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med.
Johannes Georg Wechsler
Chefarzt der Inneren Abteilung
Krankenhaus der
Barmherzigen Brüder
Romanstraße 93
80693 München
1. | Colditz GA: The economic costs of obesity. Am J Clin Nutr 1992; 55: 503-507 |
2. | Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr. 5. Überarbeitung. Frankfurt: Umschau 1991 |
3. | Ditschuneit H, Wechsler JG: Das modifizierte Fasten. Baden-Baden: Verlag G Witzstrock 1981 |
4. | Ditschuneit HH, Wechsler JG, Ditschuneit H: Welche Reduktionskost? Dt Ärztebl 1993; 90: 1932-1939 [Heft 27] |
5. | Guy-Grand B, Apfelbaum M, Crepaldi G et al: International trial of long-term dexfenfluramine in obesity. Lancet 1989; II: 1142-1144 |
6. | Husemann BJ: The surgeon's role in the treatment of morbid obesity. Obesity in Europe 1993. John Libbey & Company Ltd: 173-178 |
7. | Kanders BS, Blackburn GL, Lavin P, Norton D: Weight Loss Outcome and Health Benefits Associated with the Optifast® Program in the Treatment of Obesity. Int J Obesity 1989; 13: 131-134 (Suppl) |
8. | Kuzmak LI: Banded gastroplasty. In: Deitel: Surgery for the morbidly obese patients. Philadelphia, London 1989: 235-259 |
9. | Mason EE: Vertical banded gastroplasty for obesity. Arch Surgery 1982; 117: 701-706 |
10. | Pudel V: Zur Psychogenese und Therapie der Adipositas. Berlin: Springer 1982 |
11. | Wechsler JG, Wenzel H, Swobodnik W, Ditschuneit H: Nitrogen balance studies during modified fasting. Postgrad Med 1984; 60: 66-73 (Suppl) |
12. | Wirth A, Kottmann U, Bienek A: Änderung der Körperzusammensetzung durch eine hypokalorische Kost und ein Ausdauertraining. Akt Ernähr Med 1990; 5: 237 |
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