ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2001Psychiatrie-Reform: Auf halbem Weg stecken geblieben

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Psychiatrie-Reform: Auf halbem Weg stecken geblieben

Bühring, Petra

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LNSLNS Seit der Psychiatrie-Enquete von 1975 wurde in der Versorgung psychisch Kranker zwar vieles verbessert. Die Ziele der Reform sind jedoch noch lange nicht erreicht.


Die 1971 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Expertenkommission „Psychiatrie-Reform“untersuchte die Zustände in den psychiatrischen Großkrankenhäusern. Sie beklagte katastrophale Zustände: Viele psychisch Kranke und Behinderte lebten damals unter elenden, zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen. Knapp 60 Prozent der Patienten fristeten dort mehr als zwei Jahre ihres Lebens. Fast 40 Prozent waren in Schlafsälen mit mehr als elf Betten untergebracht – für ihre persönlichen Habseligkeiten stand oftmals nur eine Schachtel unter dem Bett zur Verfügung. Die hygienischen Verhältnisse waren unzumutbar, die Personaldecke dünn, Möglichkeiten zur Nachsorge kaum vorhanden.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Heinz Häfner, Mannheim, damals stellvertretender Vorsitzender der Expertenkommission, erinnert sich an seinen Eintritt 1949 als Doktorand auf der Männerstation der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München: „Ich konnte meine Erschütterung kaum verbergen. Einige Männer schrien laut, rüttelten an der Tür oder bedrängten den Stationsarzt mit Entlassungswünschen. Die Stimmung schwankte zwischen Resignation und Aggression. Zeitweilig konnten die Pfleger den Saal nur mit vorgehaltener Matratze betreten.“
Die Expertenkommission legte im Oktober 1975 Leitlinien zur Reform der Psychiatrie vor, die so genannte Psychiatrie-Enquete (siehe Textkasten). Seitdem ist in der Versorgung psychisch Kranker vieles verbessert worden. Die katastrophalen Zustände in den einstigen Heil- und Pflegeanstalten sind überwunden. „Die Psychiatrie hat einen so tief greifenden Wandel erfahren wie kein anderes Gebiet der Medizin“, betonte Prof. Dr. med. Henning Saß, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde e.V., Aachen, bei der Tagung „25 Jahre Psychiatrie-Enquête – Bilanz und Perspektiven“ im November 2000 in Bonn.
Die ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten sind modernisiert, verkleinert und professionalisiert worden. Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern wurden eingerichtet: 1970 gab es 21 dieser Fachabteilungen, heute sind es rund 160. Dort stehen inzwischen fast 40 Prozent der psychiatrischen Betten. Die Zahl der Betten ist um mehr als die Hälfte reduziert worden. Die Verweildauer ist auf 20 bis 40 Tage gesunken. Die Zahl der niedergelassenen Psychiater hat sich seit den 70er-Jahren von rund 1 000 auf 5 400 erhöht. Gemeindenahe Versorgungsstrukturen – sozialpsychiatrische Dienste, betreute Wohnformen, Heime, tagesstrukturierende Einrichtungen, Tageskliniken, Institutsambulanzen, niedergelassene Psychiater – sind aufgebaut worden.
Das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 brachte weitere Verbesserungen: Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern dürfen seitdem auch Institutsambulanzen einrichten. Die Soziotherapie, um psychisch Kranke nach einem Klinikaufenthalt bei der Wiedereingliederung zu unterstützen, wurde als GKV-Pflichtleistung eingeführt. Die Richtlinien sind vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen allerdings noch nicht umgesetzt worden.
Für viele psychisch Kranke ist die in der Enquete geforderte „gemeindenahe“ Versorgung somit heute möglich. Doch nicht für alle: Die flächendeckende sozialpsychiatrische Versorgung fehlt. Von allen Seiten wird immer noch – wie schon in der Enquete – Kooperation und Koordination zwischen den Versorgungsdiensten gefordert.
Die wohnortnahe Versorgung wurde nicht konsequent vorangetrieben, denn die abseits platzierten psychiatrischen Fachkrankenhäuser wurden zwar deutlich verkleinert und modernisiert, aber nicht abgeschafft. Die Türen geschlossen hat bisher nur das psychiatrische Landeskrankenhaus in Merzig/Saarland (September 1998). Dieses wurde durch psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern ersetzt. Die Vorteile der dezentralisierten Versorgung entsprechen den Zielen der Psychiatrie-Reform: Gemeindenähe durch besse-
re Erreichbarkeit; weniger Stigmatisierung, weil psychisch Kranke „durch die gleiche Tür gehen“ wie somatisch Kranke; bessere Versorgung für multimorbide Patienten; kürzere Verweildauer.
Eine vollständige Schließung der Großkrankenhäuser sei schon 1975 nicht durchzusetzen gewesen, erklärte der damalige Vorsitzende der Enquete-Kommision, Prof. Dr. med. Caspar Kulenkampff. Auch heute ist das schwierig. Die Träger der Fachkrankenhäuser wehrten sich wegen ihres Selbsterhaltes dagegen, eine weitere Dezentralisierung zuzulassen, betonte Dr. med. Michael von Cranach, Leiter des
psychiatrischen Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Viele seien durch den Bettenabbau bereits an der Grenze der Wirtschaftlichkeit angelangt. Die Befürworter der Fachkrankenhäuser weisen auf die bessere Versorgung durch Spezialisierungen beispielsweise in Geronto-, Sucht- und Allgemeinpsychiatrie hin. Cranach prognostiziert, dass langfristig die stationäre Behandlung psychisch Kranker allein in den Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser stattfinden wird. Deutschland werde sich zunehmend an der Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Europa orientieren müssen, die dahin gehe, Fachkrankenhäuser zu schließen.
Um die Ziele der Psychiatrie-Reform zu verwirklichen, besteht „erheblicher Handlungsbedarf“, stellt die Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK), Bonn, fest. Die APK wurde 1971 von parteiübergreifenden Bundestagsabgeordneten und engagierten Psychiatrie-Fachleuten gegründet, um die Reformen voranzutreiben. Maßgeblich waren Prof. Kulenkampff und der kürzlich gestorbene CDU-Abgeordnete Walter Picard. Die APK übernahm die Trägerschaft für zwei Expertenkommissionen: die erste von 1971, deren Ergebnisse in der Enquete mündeten, und die zweite, die das „Bundesmodellprogramm
Psychiatrie“ (1981 bis 1985) auswertete, was 1988 zu den „Empfehlungen der Expertenkommission“ führte. Seit der Veröffentlichung der Empfehlungen steht die verbesserte Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen im Mittelpunkt.
Eine der wichtigsten Forderungen der APK ist der „Paradigmenwechsel vom instituts- zum patientenzentrierten Ansatz“, erklärt der stellvertretende Vorsitzende Prof. Dr. med. Heinrich Kunze, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen, Bad Emstal. Die durch die Reform erzielten Hilfebausteine für die gemeindenahe Versorgung, wie betreutes Wohnen, sozialpsychiatrische Dienste, Heime oder Tageszentren, orientieren sich nicht am Bedarf des psychisch Kranken. Sie suchten sich den zu ihrem Konzept passenden Patienten aus. Die Folge: Je komplexer der Hilfebedarf, desto geringer sei die Chance, wohnortnah versorgt zu werden. Komplexe Hilfe sei bisher nur in Institutionen zu erreichen. Bei Inanspruchnahme verändere sich jedoch der Lebensmittelpunkt: „Die Voraussetzung für die Integration in die Gemeinde ist nicht mehr gegeben.“ Auch die Finanzierung der patientenbezogenen Versorgung bereitet Schwierigkeiten, da unterschiedliche Kostenträger – Krankenkassen, Rentenversicherung und Sozialhilfe – koordiniert werden müssten.
Die APK kritisiert auch, dass die ambulante psychiatrische Behandlungspflege (§ 37 SGB V) nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen gehört. Auch seien psychisch Kranke, die in Pflegeheimen leben, benachteiligt, da sie von den Leistungen der Krankenversicherung ausgeschlossen seien. Die Beteiligung der Sozialversicherungsträger an der Finanzierung rehabilitativer Hilfen für diesen Personenkreis liege unter fünf Prozent. Für chronisch psychisch Kranke ist die sozialrechtliche Gleichstellung mit somatisch Kranken zu fordern.
Ein Verdienst des durch die Reform in Gang gesetzten Umdenkens ist die Stärkung der Selbsthilfe und der Bürgerhilfe. 1985 wurde der Bundesverband der Angehörigen Psychisch Kranker gegründet und 1991 der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen. Bereits 1976 schlossen sich erste Bürgerinitiativen und Hilfsvereine im Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen e.V. zusammen. 18 000 Mitglieder zählen die „Bürgerhelfer“ heute. Mit Angeboten wie betreutem Wohnen, Selbsthilfefirmen und Tagesstätten setzen sie sich für das Recht psychisch Kranker ein, an ihrem Wohnort „ein Leben nach eigenen Bedürfnissen zu verwirklichen“. !
Die Abhängigkeit vieler psychisch Kranker von der Sozialhilfe betrifft besonders die Angehörigen. Rose-Marie Seelhorst, Arbeitsgemeinschaft der Angehörigen psychisch Kranker, Niedersachsen, kritisiert die „systematische Verarmung“ der Betroffenen, die dann auf Hilfen der Familie angewiesen seien. Sie fordert deshalb vor allem die Einführung der ambulanten psychiatrischen Krankenpflege. „Wir brauchen professionelle Hilfe, die den Kranken in der Wohnung aufsucht.“ Das bleibe sonst an den Angehörigen hängen, die bereits längst überlastet sind. Ein großes Problem sei auch die nicht ausreichende ambulante Versorgung chronisch psychisch Kranker: Nur wenige Nervenärzte behandelten Schizophrenie-Patienten, die den Budgetrahmen wegen des Einsatzes teurer Medikamente und des zeitlichen Aufwandes für Gespräche sprengten. Trotz deutlich weniger Nebenwirkungen und guter Compliance würden die atypischen Neuroleptika wegen des höhe-
ren Preises weniger eingesetzt. „Psychisch Kranke sind im Vergleich zu somatisch Kranken immer noch benachteiligt.“
„Psychisch Kranke werden nach wie vor nicht respektiert“, beklagt Regina Kochalski vom 1991 gegründeten Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen e.V., Bonn. Professionelle Helfer wendeten in der Behandlung zu oft Zwang an und hörten nicht zu. Sie fordert die Wahlfreiheit zwischen psychiatrischen Hilfen und alternativen Konzepten, wie sie zum Beispiel vom Reglaff-Haus in Berlin angeboten werden. Die von
Psychiatrie-Erfahrenen geleitete Villa biete „Raum für das verrückte Erleben ohne Psychopharmaka“. Ebenso wie die Angehörigen kritisieren die Psychiatrie-Erfahrenen, dass Entscheidungen auf Bundesebene ohne sie getroffen werden.
Die Psychiatrie-Reform hat nach mehr als 25 Jahren nur Teillösungen erreicht. Die Fachkrankenhäuser werden noch lange neben den psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern existieren. Die gemeindenahe sozialpsychiatrische Versorgung ist lückenhaft und regional sehr unterschiedlich. Die Koordination und Kooperation zwischen den Versorgungsdiensten muss deutlich verbessert werden. Langzeitpatienten wurden enthospitalisiert, jedoch zum Teil in Heime verlagert. Viele chronisch psychisch Kranke leben am Rand der Armutsgrenze. Sozialrechtlich sind sie längst nicht körperlich Kranken gleichgestellt. Am wenigsten verändert hat sich am Verständnis der Gesellschaft für Krankheiten, die nicht sichtbar sind und deshalb bedrohlich wirken, für Menschen, die anders sind. Vor der Psychiatrie-Reform wurde das Andersartige einfach weggeschlossen. Das ist zumindest heute nicht mehr selbstverständlich. Petra Bühring


Weitere Informationen sowie alle genannten Verbände und Organisationen sind auf der Internet-Plattform www.psychiatrie.de zu finden.




Die wichtigsten Reformziele des Enquete-Berichts von 1975:
– gemeindenahe vor stationärer Versorgung
– Kooperation und Koordination aller Versorgungsdienste
– bedarfsgerechte Versorgung aller psychisch Kranken
– Auf- und Ausbau ambulanter Dienste und
psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
– Enthospitalisierung der Langzeitpatienten
– Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken.


Auch mithilfe der Medien wurde die Reform in den 70er-Jahren vorangetrieben.

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