ArchivDeutsches Ärzteblatt37/1996Budgetierung im Gesundheitswesen: Ärzte zwischen Haftung und Sparzwang

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Budgetierung im Gesundheitswesen: Ärzte zwischen Haftung und Sparzwang

Scholz, Rainer

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LNSLNS Die ärztliche Haftung für Behandlungsfehler, zu denen auch die Unterlassung medizinisch indizierter Behandlungsmaßnahmen gehört, hat angesichts einer rasanten Entwicklung neuer medizinischer und technischer Verfahren zu immer höheren medizinischen Standards und entsprechend erhöhter ärztlicher Verantwortung geführt. Darüber hinaus wirft nun das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) die Frage auf, ob und inwieweit eine Behandlungsmaßnahme unter dem Einfluß von Budgetierung und Wirtschaftlichkeitsgebot dann als "unwirtschaftlich" unterbleiben darf, wenn der Arzt sich mit der Unterlassung gegenüber dem Patienten einem erhöhten zivilrechtlichen (oder auch strafrechtlichen) Haftungsrisiko aussetzen würde.


Als Folge des aus dem GSG abzuleitenden Sparzwangs ist für den Arzt neben der Erfüllung der ihm gegenüber seinen Patienten obliegenden bürgerlich-rechtlichen Sorgfaltspflicht, also der Beachtung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" (§ 276 BGB), die Beachtung sozialrechtlicher Versorgungsmaßgaben als zusätzlicher Faktor mit wachsender Relevanz getreten. Während das aus sozialrechtlicher Sicht im konkreten Fall Angemessene und medizinisch Notwendige bislang als dem Stand der ärztlichen Kunst entsprechend und zugleich mit den bürgerlich-rechtlichen Maßstäben übereinstimmend angesehen werden konnte, eröffnet sich durch das GSG ein Spannungsfeld, das die Einheit der Rechtsordnung in diesem Bereich zu sprengen droht. An der Verpflichtung des Arztes gegenüber dem Patienten, wenigstens die Mindeststandards zu gewährleisten, konnte – jedenfalls vom Grundsatz her – auch das Gesundheitsstrukturgesetz nichts ändern.*) Das Prinzip der Globalsteuerung der Arzneimittelbudgets führt indes bei Überschreitung der Vorgaben zu einer Ausgleichspflicht des Kassenarztes. Alle Rationalisierungspotentiale auszuschöpfen und jede unwirtschaftliche Maßnahme zu vermeiden und dadurch von der Ausgleichs- beziehungsweise Rückgewährpflicht frei zu bleiben ist ein schwieriges Unterfangen. Interessenkonflikte und Grenzprobleme, die sich aus diesem nunmehr zusätzlich das Haftungsproblem verschärfenden Aspekt ergeben, können im Ergebnis nur auf der Grundlage des weiterhin geltenden Prinzips gelöst werden, daß sowohl bei der ärztlichen Behandlung als auch bei der Verordnung von Arzneimitteln das medizinisch Notwendige stets Vorrang haben muß.


Behandlungsfälle sind nicht normierbar
Was im einzelnen Behandlungsfall, also im Rahmen der Individualbeziehung zwischen Arzt und Patient, als medizinisch notwendig zu erachten ist, kann sich nur nach allgemeinen und daher abstrakt vorgegebenen medizinischen Standards bemessen, keinesfalls in der konkreten Arzt-Patient-Beziehung mit Verbindlichkeit gerade für diesen Behandlungsfall bestimmt werden. In diese allgemeinen Standards fließen sowohl die ihnen zugrundeliegenden ethischen Prinzipien als auch die Grenzen ein, die durch die finanziellen, aber auch die personellen und technischen Ressourcen vorgegeben sind und im Einzelfall akzeptiert werden müssen. Verbindliche Maßstäbe in dieser Hinsicht müssen also auf einer abstrakten Entscheidungsebene gesetzt werden und können nicht im Einzelfall vor Ort mit Wirkung nur für den konkret betroffenen Patienten festgelegt werden. Nur in diesem Rahmen muß auch der medizinische Fortschritt, der tendenziell dazu geeignet sein mag, die Ausgabenspirale anzukurbeln, sich dem Zwang zur Abstimmung mit den Grenzen der Ressourcen stellen und solche Begrenzungen im Rahmen des Versorgungsauftrages auf der Basis eines angemessenen, von Übertreibungen freien Ressourcenverzehrs umsetzen. Nur innerhalb dieser Grenzen kann ein nachvollziehbarer Maßstab für das medizinisch Notwendige gefunden werden. Jeder andere Weg könnte zur Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Medizin und damit auch zu überzogenen Maßstäben für die ärztliche Haftung führen, was auch die Prämien für die ärztliche Haftpflichtversicherung in die Höhe treiben würde. Gleichermaßen würde eine Überbetonung des Wirtschaftlichkeitsgebots vermeidbare Kosten auslösen: Würden nämlich mit vertretbarem Aufwand realisierbare Behandlungen unterbleiben, würden Krankheitsschicksale, die durch leistbare Behandlung vermieden werden könnten, in die Bilanz der allgemeinen Soziallasten der Gesellschaft kostenträchtig eingehen.
Das Wirtschaftlichkeitsgebot kann somit die medizinischen Qualitätsstandards nicht außer Kraft setzen. Andererseits richtet sich der zivilrechtliche Sorgfaltsmaßstab nicht durchweg nach dem medizinisch Machbaren, er bleibt vielmehr eingebunden in Möglichkeiten und Grenzen des Behandlungsalltags. Es geht daher darum, echte Alternativen im Sinne der Sparsamkeit zu nutzen und "relative" Indikationen gewissenhaft abzuwägen. In diesem Rahmen kann der Nutzen-Kosten-Vergleich des Wirtschaftlichkeitsgebots auf den Nutzen-Risiko-Vergleich der medizinischen Indikation nur dort Einfluß haben, wo er die Erfüllung des Heilauftrags nicht in Frage stellt und Leben und Gesundheit des Patienten nicht einer Qualitätsbewertung unterwirft (vgl. Steffen, Medizinrecht 1995, S. 190 f.). Damit ist auch gesagt, daß medizinisch gebotene Maßnahmen nicht als "unwirtschaftlich" unterbleiben dürfen, wenn die Unterlassung im konkreten Fall zu einer Erhöhung des ärztlichen Haftungsrisikos führen würde. Bei Auseinandersetzungen über die Beurteilung von Behandlungsmaßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Unwirtschaftlichkeit kann es somit nicht ohne Einfluß sein, welche Folgen sich aus der Unterlassung einer Maßnahme und deren möglichen Auswirkungen für die Gesundheit des Patienten im Bereich der ärztlichen Haftung ergeben hätten. Hieraus leiten sich im einzelnen folgende Konsequenzen ab:
¿ Zur Erfüllung des Heilauftrags indizierte Behandlungsmaßnahmen dürfen nicht unter Kostengesichtspunkten als "unwirtschaftlich" abgelehnt werden, solange es zu der indizierten Maßnahme keine gleichwertige Behandlungsalternative gibt.
À Soweit echte, aber unterschiedlich teure Behandlungsalternativen zur Verfügung stehen, sind Wirtschaftlichkeitserwägungen im Rahmen ärztlicher Entscheidungen auch aus der Sicht der ärztlichen Haftung zu akzeptieren.
Á Unter der Geltung des GSG müssen als Folge medizinisch indizierter Behandlungsmaßnahmen – gerade auch wenn diese der Abwendung eines sonst entstehenden Haftungsrisikos dienen sollen – mögliche Minderungen der Punktwerte durchaus in Kauf genommen werden. Eine Honorarkürzung wegen Verstoßes gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot scheidet in solchen Fällen aus.
 Das Wirtschaftlichkeitsgebot darf nicht Anlaß geben, zur Vermeidung von Haftungsrisiken neue Patienten abzulehnen oder einmal übernommene Behandlungen mit dem Hinweis auf bestehenden Sparzwang einzuschränken, abzubrechen oder Kassenpatienten auf die Möglichkeit der Selbstzahlung zu verweisen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. jur. Rainer Scholz
Eltviller Straße 11
53175 Bonn

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