ArchivDeutsches Ärzteblatt30/2001Serie - Alkoholismus: Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte

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Serie - Alkoholismus: Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte

Schott, Heinz

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LNSLNS Zusammenfassung
Schon in der Antike spielten alkoholische Getränke als Genuss- beziehungsweise Lebensmittel eine Rolle. Darüber hinaus erschienen sie manchen Ärzten – insbesondere in destillierter Form – als wertvolle Lebenselixiere, Arznei- und Stärkungsmittel. Die volkstümliche Wertschätzung des Alkohols hat hier eine ihrer historischen Wurzeln. Obwohl Ärzte zu allen Zeiten vor unmäßigem Alkoholtrinken warnten, wurde der „Alkoholismus“ erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert von der naturwissenschaftlich-biologischen Medizin als eine eigene Krankheitseinheit begriffen, wobei die Therapie maßgeblich an der Rassen- und Sozialhygiene ausgerichtet war. Die entsprechende Stigmatisierung der Alkoholiker wurde von der Medizin inzwischen überwunden, das Alkoholproblem jedoch besteht unvermindert fort.

Schlüsselwörter: Abstinenz, Alkoholismus, Alkoholabhängigkeit, Branntwein, Trinkerfürsorge, Trinkerheilstätte

Summary
Alcoholism in The History of Medicine
Since antiquity, alcoholic beverages – in particular wine – were mostly appreciated because of their brightening effects and presumed healing effects. In modern times, at least until the 19th century, alcohol was often recommended by doctors as effective remedies. Only in the 19th century, “alcoholism” was introduced as a medical term defining a special disease, which had to be treated by doctors and corresponding institutions of public health. In the early 20th century, within the context of social darwinism and eugenics („Rassenhygiene“ in Germany), alcoholism seemed to be more or less linked with the hereditary diseases, especially with mental illness. So, alcoholics were stigmatised suffering from “psychopathy“, “inherited inferiority“, “inherited criminality“ etc. which culminated in the compulsory sterilization program of the national socialist state in Germany.

Key words: abstinence, alcoholism, alcohol dependence, spirits, asylum for alcoholics, welfare for alcoholics


Alkohol, vor allem in Form von Wein, war bereits in den antiken Hochkulturen bekannt und wurde insbesondere im klassischen Altertum kultisch verehrt (Dionysos, Bacchus). Mehr oder weniger ausschweifende Trinkgelage – es sei hier nur an den Begriff „Symposion“ erinnert – dienten als Gemeinschaft stiftendes Ereignis im kulturellen Leben. In medizinischen Schriften wurden stets heilsame, aber auch schädliche Wirkungen des Weins diskutiert (unter anderem bei Plinius, Galen). Die Erfindung der Destillation im Kontext der mittelalterlichen Alchimie der Araber bedeutete nicht nur einen Meilenstein in der Technik- und Pharmaziegeschichte, sie war zugleich der Ursprung des neuzeitlichen Alkoholismus: etwa der „Branntweinpest“ in Deutschland oder der „Gin-Epidemie“ in England.
Arznei und Gift zugleich
Wegweisende Autoritäten der Medizin (zum Beispiel Arnald von Villanova, 13. Jahrhundert) priesen das „aqua vitae“ (Lebenswasser) als Universalheilmittel, das als „ens subtile“ (flüchtiges Wesen), „ros solis“ (Sonnentau), „balsamus universalis“ oder zu deutsch „Branntwein“ für die alchimistische Bewegung und ihre Ausläufer bis an die Schwelle der Moderne ein Faszinosum darstellte. Der Begriff „Alkohol“ geht auf das arabische „kuhl“ (das heißt fein pulverisiertes Antimon; allgemein: durch Sublimierung oder Destillation gewonnene Substanzen) zurück und wurde von Paracelsus speziell auf „Weingeist“ (alcohol vini) bezogen und auch als „Allerfeinstes“ (pulvis subtilissimus) bezeichnet (6). Der protestantische Reformationsprediger Sebastian Franck formulierte bereits 1532 die zweifache Wirkungsweise des Alkohols als Arznei und als Gift: „Wenig getrunken ist gesund, und ein arczney den menschen zu erhalten erschaffen . . . Zu vil ist aber gyfft“ (1) (Abbildung). Diese Einstellung reicht bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Hier galt Alkohol (Wein, Bier) vor allem in Verbindung mit dem „Brownianismus“, dem um 1800 weitverbreiteten Heilsystem von John Brown, als therapeutisches Stärkungs- und Anregungsmittel bei „asthenischen Krankheiten“ (zum Beispiel Hypochondrie, Melancholie) – neben Elektrizität, Gewürzen, heißen Getränken.
So erschien Alkohol noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein „Remedium analepticum“, als wertvolles Erregungsmittel gegen Schwächezustände, das zum Beispiel in einem pharmakologischen Lehrbuch von 1868 zusammen mit dem Äther neben Kampfer und Moschus unter den „Remedia excitantia“ aufgeführt wurde. Selbst bei der Kneipp-Kur des ausgehenden 19. Jahrhunderts war das (mäßige) Biertrinken keineswegs verboten und in ärztlichen Diätempfehlungen, zum Beispiel bei koronarer Herzerkrankung, spielt der Rotwein bis heute eine gewisse Rolle. Die Wertschätzung des Alkohols als Lebenselixier und wunderbares Heilmittel widerspricht ebenso wie der Konsum als Nahrungs- und Stärkungsmittel grundsätzlich der Abstinenzidee, wonach Alkohol als schädliches Gift, als lebensverkürzendes „flüssiges Feuer“ (Hufeland) anzusehen sei.
Populäres Nahrungs- und Stärkungsmittel
Sicherlich hängt es mit der traditionellen Einschätzung des Alkohols als Lebenselixier und Heilmittel zusammen, dass er bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in manchen Bereichen der Medizin als allgemeines Nahrungs- und Stärkungsmittel angesehen wurde – ein Grund des verbreiteten „Glaubens an die Gesundheitsförderung durch den Alkohol“ (10). Gerade die stark anwachsende Bewegung gegen den Alkoholismus im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte gegen die „unzerstörbare Legende von dem Nährwert des Alkohols“ und seinem Gebrauch als „Volksnahrung“ anzukämpfen, die selbst von anerkannten Ärzten vertreten wurde. So meinte der Lungenarzt und Sanatoriumsgründer Hermann Brehmer, dass bei seiner Therapie der Lungenschwindsucht mittlere Mengen Alkohol den Eiweißzerfall um sechs bis sieben Prozent verhindere, und sein Schüler Peter Dettweiler hielt den Alkohol als Eiweißsparer für ein gutes „indirektes Nährmittel“ (7). Das Volk denke doch ganz logisch, heißt es in einer medizinischen Abhandlung von 1887, „wenn es sich sagt, dass eine Substanz, welche die Aerzte verordnen, doch unmöglich in geringeren oder ebensolchen Dosen dem Gesunden nachtheilig sein könne“ (9).
Als Kaffee und Tabak in der frühen Neuzeit in Europa importiert wurden, galten sie zunächst als harmlose Genussmittel, die dann vielfach auch als Heilmittel angewandt wurden. Erst später problematisierte man die gesundheitlichen Gefahren, die mit ihrem unmäßigen Konsum verbunden waren, und es entwickelte sich jene ambivalente Einstellung, die auch gegenüber dem Alkohol bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vorherrschte.
Noch am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ernsthaft die Frage gestellt, ob Lohnarbeiter überhaupt auf den Alkohol als vermeintlich notwendiges Nähr- und Stärkungsmittel verzichten könnten. Dagegen ergriffen Ärzte das Wort, wie zum Beispiel der namhafte Alkoholgegner Dr. med. Wehberg: „Indem die Arbeiter ihr Hungergefühl betäuben ... trinken sie Schnaps und trinken ihn wieder, weil sie ein Stärkungsmittel vor sich zu haben glauben. Aber was für eines! Der legitime Trunk, von dem auch unser Reichskanzler Bismarck als für den Arbeiter unentbehrlich redet, existiert nur in der Phantasie. Es wird dem Arbeiter, wenn er sich ordentlich Nahrung zusetzen kann, gar nicht einfallen, den gewöhnlichen Fusel zu trinken. . . . Gebt den Arbeitern höheren Lohn, und ihr habt die Geissel der Menschheit besiegt.“ (9)
Orden und Vereine für Mäßigkeit oder Abstinenz
Bereits in der frühen Neuzeit gab es Bestrebungen gegen den übermäßigen Alkoholgenuss. So stiftete der Landgraf Moritz von Hessen im Jahr 1600 einen „Temperenzorden“, den seinerzeit berühmtesten Mäßigkeitsverein des Adels in Deutschland, der als Vorbild gegen die verbreitete Trunksucht im Volk gedacht war. Die Statuten verpflichteten die Ordensmitglieder unter anderem, sich zwei Jahre lang nicht „voll zu saufen“ und nicht mehr als sieben so genannte Ordensbecher Wein zu einer Mahlzeit zu trinken. Bei der Betrachtung des Alkoholproblems in der Neuzeit ist allerdings der Konsum von Bier und Wein einerseits und von Branntwein (Schnaps) andererseits zu unterscheiden.
In bestimmten Epochen führte vor allem der Konsum von Branntwein zu großen sozialen Problemen. Dieser wurde weniger vom Bedürfnis oder Geschmack der Trinker bestimmt, als vielmehr von der technischen Möglichkeit der Schnapsbrennerei und den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Konsumenten. Die Einführung der Kartoffelbrennerei im ausgehenden 17. Jahrhundert trug in der Folgezeit wesentlich zur exzessiven „Branntweinpest“ bei, die dann als der eigentliche Feind angesehen wurde, während das „maßvolle“ Wein- und Biertrinken akzeptabel erschienen. So gründeten zum Beispiel Bremer Reeder 1844 einen „Verein zur Verminderung des Branntweintrinkens an Bord“, wonach die Besatzung solcher Mäßigkeitsschiffe versprechen musste, sich „während der Dauer der Reise aller destillierter Getränke in jeder Form und Mischung“ zu enthalten (6).
Als im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Revolution und die damit zusammenhängende soziale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten (Pauperismus) der Alkoholismus zu einem brennenden sozialpolitischen Problem wurde, organisierten sich die Alkoholgegner in zahlreichen recht unterschiedlichen Vereinen und Verbänden. Diese hatten vor allem gegen Ende des Jahrhunderts Hochkonjunktur – zur selben Zeit, als nicht nur die moderne biologisch-naturwissenschaftliche Medizin, sondern auch die damit korrespondierenden Gegenbewegungen der Naturheilkunde und Lebensreform ihre Blüte erlebten.
Die Organisationen der Antialkoholbewegung waren in zwei Lager aufgespalten: Die einen propagierten Mäßigkeit (mäßigen Alkoholgenuss), wie der 1883 in Kassel gegründete Deutsche Verein gegen den Missbrauch alkoholischer Getränke. Die anderen warben für Nüchternheit beziehungsweise Abstinenz (völlige Enthaltsamkeit), wie der 1889 in Flensburg gegründete deutsche Guttempler-Orden als Teil des Jahrzehnte zuvor von den USA ausgehenden internationalen Guttempler-Ordens. Schlussendlich setzten sich alle sozialpolitisch relevanten Organisationen mit der Alkoholfrage auseinander: die Arbeiter-, die Frauen- und die Jugendbewegung sowie religiös orientierte Vereinigungen, wie zum Beispiel die Heilsarmee, die 1886 in Stuttgart eine Niederlassung in Deutschland erhielt (4).
Ärzte im Kampf gegen den Alkoholismus
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als in der Medizin der Alkohol allgemein noch als Heilmittel galt, traten Ärzte vehement gegen das „Laster der Branntwein-Völlerei“ (Hufeland) auf den Plan. So empfahl zum Beispiel 1797 der berühmte amerikanische Arzt Benjamin Rush Bier und Wein als Gegenmittel gegen den Branntwein, und sein deutscher Kollege Christoph Wilhelm Hufeland schrieb 1802 ebenfalls im Sinne der Mäßigkeitsbewegung „Ueber die Vergiftung durch Branntwein.“
Die Begriffe „Trunksucht“ und „chronischer Alkoholismus“ tauchten nun in der medizinischen Literatur auf. So erschien etwa 1819 der Titel „Über die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben“ von C. Brühl-Cramer mit einem Vorwort von Christoph Wilhelm Hufeland, und 1849–1851 veröffentlichte der schwedische Arzt Magnus Huss sein von der französischen Akademie der Wissenschaften preisgekröntes Werk „Alcoholismus chronicus“.
Damit war das Alkoholproblem endgültig zu einem Gegenstand für Medizin und Gesundheitswesen geworden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gegen Ende des Jahrhunderts in erster Linie auch Ärzte in den Reihen der engagierten Alkoholgegner zu finden sind. 1896 wurde in Frankfurt am Main der Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebiets gegründet. Prominente Psychiater waren hieran beteiligt. Erster Vorsitzender wurde Auguste Forel, zum Vorstand gehörten Anton Delbrück, Emil Kraepelin und Paul Julius Möbius, später dann auch Eugen Bleuler (2).
Um 1900 diskutierten die Ärzte den Alkoholismus in erster Linie als Problem der „Rassenhygiene“ (englisch: eugenics; Eugenik). Gegen die Bekämpfung des Alkoholismus hatten englische Eugeniker den Einwand erhoben, dass dieser nützlich sei, da er lediglich Minderwertige ausmerze. Demgegenüber stellten deutsche Rassenhygieniker fest, dass auch „biologisch hochwertige Teile des Volkes“ zu Schaden kommen: „Der Alkohol schadet zu viel und tötet zu wenig“, lautete die Formel des Münchner Hygienikers Max Gruber (10). In erster Linie rückten die „alkoholischen Geistesstörungen“ ins Blickfeld der Medizin, ebenso der Zusammenhang von Alkohol und Nachkommenschaft und der von Alkohol und Verbrechen. Psychiatrie, Erbbiologie und Kriminalanthropologie gingen in der Alkoholfrage ebenfalls eine enge Liaison ein. Gerade psychiatrische Patienten schienen den Beleg für eine zunehmende Degeneration des Erbguts zu liefern, wobei der Alkohol als gefährliches „Keimgift“ angesehen wurde. So demonstrierten Max Gruber und Emil Kraepelin in „Wandtafeln zur Alkoholfrage“ die „grosse Kindersterblichkeit in Trinkerfamilien, sodann die Häufigkeit von Nerven- und Geisteskrankheiten wie von Missbildungen, endlich auch die geringere Widerstandsfähigkeit der Trinkerkinder gegen Tuberkulose“ (3). Die unter Alkoholeinfluss gezeugten Kinder kämen „nicht selten mit der Anlage zur Lebensschwäche, Fallsucht, Schwachköpfigkeit oder gar Blödsinn zur Welt“, heißt es in einem vom Verein abstinenter Ärzte herausgegebenen Flugblatt (4). In Veröffentlichungen zur Sozialhygiene in der Weimarer Republik wird festgestellt, dass von den Trunksüchtigen etwa ein Drittel nicht mit Trunksucht, sondern mit Geistes- und Nervenkrankheiten erblich belastet seien. Ihre entsprechende Charakterisierung („Psychopathen“, „geisteskranke Trunksüchtige“, „Minderwertige“) sollte die brutale Stigmatisierung der Alkoholiker im NS-Staat antizipieren.
Die straffällig gewordenen chronischen Alkoholiker sollten besonders betreut werden, wobei man die „Umgestaltung von Arbeits- und Korrektionshäusern in eine Art Trinkerheilstätten“ propagierte (10). Diese wurden am Ende des Jahrhunderts zum probaten Ort der „Trinkerheilung“ erklärt. Sie entstanden in zur gleichen Zeit, als auch psychiatrische Universitätskliniken, Lungenheilstätten und Wasserheilanstalten gegründet wurden und das „Sanatorium“ zu einer innovativen Einrichtung des Gesundheitssystems avancierte.
Die Entziehungskur wurde nun – zum Beispiel durch August Forels einflussreiche Schrift „Die Errichtung von Trinkerasylen“ (1892) – zu einer zentralen Aufgabe ärztlicher Gesundheitspolitik erklärt. Die „Trinkerfürsorge“, zum Teil als „Psychopathenfürsorge“ bezeichnet, sollte den biologischen, moralischen und ökonomischen Schäden des Alkoholismus entgegenwirken.
Das Bild vom Alkoholiker im historischen Wandel
Aufgrund der bisherigen Darlegungen lässt sich folgende Typologie vom Alkoholiker im historischen Wandel entwerfen:
- Der fröhliche Zecher: Wie herausgestellt wurde, erscheint das Alkoholtrinken als solches bis zum ausgehenden Mittelalter nicht als ein besonderes Problem. Sicherlich wurde ein übermäßiges Trinken im Sinne der humoralpathologisch begründeten Diätetik, gemäß den Regeln für eine gesunde Lebensordnung auf der Grundlage der traditionellen Säftelehre, verurteilt. Das „Saufen“ galt dabei, vergleichbar mit dem „Fressen“ (Völlerei) und „Huren“, zwar als Laster oder Sünde, ein mäßiges Trinken jedoch erschien im Hinblick auf Geselligkeit und Wohlergehen erstrebenswert.
- Der lasterhafte beziehungsweise unverbesserliche Trunkenbold: Erst in der frühen Neuzeit wurde das übermäßige Alkoholtrinken als ein besonderes soziales Problem thematisiert. Gerade in Deutschland grassierte während des Umbruchs der Reformation die Trunksucht in ungeheurem Ausmaß (beziehungsweise wurde als solche wahrgenommen), sodass zum Beispiel Luther gegen die „betrunkenen Schweine“ wetterte. Erstmals organisierten sich nun Mäßigkeitsbewegungen („Temperenzorden“), die moralisch argumentierten und bei denen die Ärzte kaum eine Rolle spielten.
- Der zu asylierende Trunksüchtige: Im ausgehenden 18. Jahrhundert, unter dem Vorzeichen von aufgeklärtem Absolutismus und Französischer Revolution mit ihren medizinalreformerischen Bestrebungen, trat die medizinische Argumentation im engeren Sinn auf den Plan. Ärzte prägten den Begriff der „Trunksucht“ und des „Alkoholismus“. Alkoholiker wurden erstmals als eine Gruppe von Kranken wahrgenommen, die, analog der Irrenbehandlung in Irrenhäusern, einer besonderen Therapie in eigens hierfür vorgesehenen Einrichtungen (Trinkerasyle, Trinkerheilstätten) zu unterziehen waren.
- Der Alkoholiker als quasi Geisteskranker: Die Alkoholiker wurden im Kontext von (Sozial-)Darwinismus und Rassenhygiene gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Minderwertige stigmatisiert. Die erbbiologische Betrachtung beherrschte das Feld, die schließlich im NS-Staat auch zur Zwangssterilisation von Alkoholikern gemäß dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ führte. Der Alkoholismus erschien als Analogon der Geisteskrankheit und wurde deshalb vor allem zum Gegenstand der Psychiatrie.
Erst im Laufe der Nachkriegszeit definierte die Medizin den Alkoholismus im Sinne der „Alkoholabhängigkeit“ – in Abgrenzung vom „Alkoholmissbrauch“ – als ein komplexes Krankheitsbild. Kriterien sind das pathologische Trinkverhalten, die alkoholbedingten somatischen und psychosozialen Schäden sowie die körperliche und die psychische Abhängigkeit. So erkannte das Bundessozialgericht 1968 den Alkoholismus in einem Urteil als Suchtkrankheit an, was zu einer entsprechenden „Suchtvereinbarung“ der Sozialversicherungsträger führte. Nun konnte die gesundheitspolitische Leitidee einer medizinischen und sozialen (beruflichen) Rehabilitation von chronisch Kranken beziehungsweise Behinderten auch für Alkoholabhängige in einem interdisziplinären Ansatz („therapeutische Kette“) praktisch umgesetzt werden. Ein wichtiges Glied bilden hierbei spezielle Selbsthilfegruppen, insbesondere die 1935 in den USA gegründeten Anonymen Alkoholiker (AA). Somit erscheint heute der Alkoholiker (genauer: der Alkoholabhängige) als zu rehabilitierender Suchtkranker. Seine frühere Stigmatisierung – denken wir nur an seine Charakterisierung durch die Rassenhygiene – ist heute (zumindest im historischen Vergleich) weitgehend verschwunden. Der Alkoholismus jedoch als „nach wie vor das größte, ja zunehmend größte Suchtproblem“ in unserer Gesellschaft bleibt weiter bestehen (8). Ein Grund hierfür ist sicherlich in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zu suchen, wo der Alkohol immer wieder als reinste Wunderdroge und Lebensmittel per se (als „geist“, „spiritus“ et cetera) verehrt wurde. Dies ist offenbar ein im kulturellen Gedächtnis verankerter Glaube oder Aberglaube, der bis heute trotz aller gesundheits- und sozialpolitischen Aufklärungskampagnen dem Alkoholismus insgeheim immer noch eine gewisse ideologische Stütze bietet.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]

Literatur
 1. Austin G: Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Völger G ed.: Rausch und Realität. Drogen im Vergleich. Teil 1. Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum 1981.
 2. Bergman J: Geschichte der Antialkoholbestrebungen. Ein Ueberblick über die alkoholgegnerischen Bestrebungen aller Kulturländer seit den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart. Mit besonderer Berücksichtigung des Vereinswesens. Hamburg: Verlag von Deutschland Großloge II des I. O. G. T. 1907.
 3. Gruber M, Kraepelin E eds.: Wandtafeln zur Alkoholfrage. München: Lehmann, Berlin: Mässigkeits-Verlag o. J.
 4. Krüger A: Die Volksbewegung und Volksaufklärung gegen den Alkoholismus im Deutschen Reich 1883-1933. Med Diss Marburg 1989.
 5. Schadewaldt H: Alkohol an Bord. Schiff und Zeit 1975; 2: 55–65.
 6. Schadewaldt H: Alkohol und Alkoholismus. Fortschritte und Fortbildung in der Medizin 1985/86; 11: 3–12.
 7. Stubenvoll FB: Alkoholismus und Tuberkulose. Berlin: Verlag Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund 1909.
 8. Tölle R: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von Reinhart Lempp. 11. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1996.
 9. Wehberg R: Wider den Missbrauch des Alcoholes, zumal am Krankenbette. Medicinische und volkswirtschaftliche Betrachtungen. Berlin, Neuwied: Heuser 1887.
10. Wlassak R: Grundriss der Alkoholfrage. Leipzig: Hirzel 1922.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Medizinhistorisches Institut
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität
Sigmund-Freud-Straße 25, 53105 Bonn

Medizinhistorisches Institut (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn

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