ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2001Proteomics: Schlüsseltechnologie für die klinische Forschung

POLITIK: Medizinreport

Proteomics: Schlüsseltechnologie für die klinische Forschung

Wellmann, Axel

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LNSLNS Nach der Entschlüsselung des humanen Genoms investieren Biotechnologiefirmen in Analyseverfahren, welche die Funktion der codierten Proteine aufklären sollen. Ein neuer pharmazeutischer Markt entsteht.

Seit Sommer 2000 ist das Humane Genom – über drei Milliarden Bausteine von A, G, C und T auf 23 Chromosomenpaare verteilt – vollständig sequenziert. Mit „nur“ 30 000 bis
40 000 Genen (und nicht 100 000 Genen, wie vorher angenommen) ist das Genom etwas mehr als doppelt so groß wie das eines Wurms oder einer Fruchtfliege. Doch letztlich ist weniger das Genom von physiologischer respektive klinischer Bedeutung, sondern das Repertoire der Proteine – also des Proteoms, ein Begriff, der etwa 1996 eingeführt wurde.
Es zeigt sich überdies, dass das menschliche Genom bezüglich Aufbau und Funktion deutlich komplexer ist als bei Wirbellosen und Pflanzen. Denn nicht nur die reine Zahl von Genen bestimmt Umfang und Funktion der Proteine, sondern zahlreiche posttranskriptionelle und posttranslationelle Prozesse wie „splicing“ und „Phosphorylisierungen“ und andere. Diese Prozesse führen zu einer Korrelation von mRNA- und Proteinexpression von nur 0,48. In Worten bedeutet das, dass eine Proteinexpression kaum mit der entsprechenden mRNA-Expression korreliert.
Das genetische Dogma von Francis Crick, ein Gen, ein Protein oder DNA macht RNA, RNA macht ein Protein mit einer biologischen Funktion, gilt also in der apodiktischen Form nicht mehr. Das lässt viele Unternehmen hoffen, da damit die Zahl der möglichen Angriffsstellen (targets) für eine Medikamenten- oder Diagnostikaentwicklung sehr viel umfangreicher bleibt und weitere Investitionen aussichtsreich erscheinen lässt.
Heute gibt es etwa 500 Zielmoleküle, die durch die gesamte Palette moderner Pharmaka modifiziert werden. Das ist eine erstaunlich kleine Zahl, wenn man sich vor Augen führt, wie viele verschiedene Pharmaka für die bekannten targets auf dem Markt sind. Man nimmt an, dass etwa fünf bis zehn Gene an der Ausbildung einer Erkrankung wie Diabetes oder Hochdruck beteiligt sind. Es gibt etwa 100 bis 150 nosologische Entitäten, die ein epidemiologisches oder ökonomisches Problem für eine Gesellschaft verursachen und damit von Interesse für die pharmazeutische Industrie oder das Gesundheitssystem sind.
Somit ergäbe sich eine Summe von
5 000 bis 10 000 potenziell interessanten, ökonomisch bedeutungsvollen Genprodukten und damit eine mindestens zehnfach höhere Anzahl von Angriffspunkten als die, die heute modifiziert werden. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass dieses relativ konservative Überschlagsrechnungen sind und die Zahl von targets durchaus höher liegen kann.
„Die post-genomische Zeit gehört den Proteomics“, verlauten derzeit wissenschaftliche Journale – und auch der Kapitalmarkt. Doch was verbirgt sich dahinter? Proteomics ist die durch Technik und Bioinformatik unterstützte Erforschung der Gesamtheit der Proteine in verschiedenen Zelltypen unter normalen oder pathologischen Bedingungen, Umwelt oder Medikamenteneinfluss. Ein wichtiges Charakteristikum ist – wie schon in der Genomforschung – das Prinzip: alles auf einmal oder parallele Analyse, was durch Verkleinerung und Roboter ermöglicht wird. Grundsätzlich kann man alle Proteomics-Studien in drei Kategorien einteilen:
1. differential protein display (Unterschiede in der Expressionsmenge),
2. Proteincharakterisierung (posttranslationelle Modifikationen) und
3. Protein-Protein-Interaktionen.
Doch anders als bei DNA, deren natürliche Struktur schon prinzipiell sehr einfach sein muss und deren lineare Struktur kaum Funktion hat, ist die dreidimensionale Struktur der Proteine komplex und funktionell äußerst kritisch. Anders als bei der DNA-Analyse, die sich aufgrund der niedrigen Komplexität entsprechend einfach automatisieren ließ und zu der enorm schnellen Fertigstellung der Sequenzierung führte, lassen sich die Analyseverfahren für Proteine nicht so leicht automatisieren.
Traditionell, sofern man dieses Wort in dieser jungen Disziplin verwenden kann, wurde Proteinexpression in erster Linie über 2-D-Gelelektrophorese und Massenspektroskopie analysiert. Mit der 2-D-Technik kann man in einem Schritt Tausende von Proteinen, basierend auf dem isoelektrischen Punkt (pI, 1. Dimension) und dem Molekulargewicht (2. Dimension), auftrennen. Nach Auftrennung werden die Proteine („spots“) aus dem Gel isoliert, enzymatisch verdaut und in der Massenspektroskopie (zum Beispiel MALDI) weiter analysiert.
In den letzten Jahren werden mehr und mehr integrierte Systeme inklusive Software angeboten, die für „large-
scale“-Analysen ausgelegt sind. Hauptanbieter dieser Systeme sind Amersham Pharmacia, BioRad und Applied Biosystems. Diese Technologien eignen sich gut, wenn man In-vitro-Experimente mit Zellkultur durchführt, da man relativ viel Ausgangsmaterial zur Analyse benötigt.
Schwierigkeiten treten auf, wenn man mit Gewebe arbeitet und zunächst relativ aufwendige Verfahren wie FACS (fluorescence activated cell sorter) oder Lasermikrodissektion anwenden muss, um Zellen eines Typs zu isolieren. Was aber soll eine kleine Firma tun, die nicht die Zeit und das Finanzvolumen hat wie Oxford Glycoscience (OGS), Large Scale Biology (LSB) oder Proteome Science?
„Proteinfingerabdruck“
An dieser Stelle sind Technologien gefragt, die mit wesentlich weniger Ausgangsmaterial auskommen, schneller, weniger komplex und vor allem preiswerter sind, um verlässliche Analysen durchzuführen. Hier kommen so genannte ProteinChips, eine sehr junge Technologie, ins Spiel. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von verschiedenen Chips, die meisten allerdings immer noch in der Entwicklungsphase.
Anders die Produkte der Firmen Zyomyx, Caliper und Ciphergen: Calipers Chip dient inbesondere der Auftrennung von Proteinen und könnte die traditionelle 1-D-Gelelektrophorese ersetzen. Ciphergens ProteinChip sind kleine Metallstreifen, auf denen kleine aktivierte Oberflächen liegen. Diese binden Proteine aus Flüssigkeiten, wie Blut und Urin oder Gewebe.
Nachdem die Proteine gebunden haben, werden nicht gebundene Bestandteile weggewaschen. Gebundene Proteine werden dann mit einem Laserstrahl von der bindenden Oberfläche gelöst und einer Massenspektrumanalyse (surface enhanced laser desorption and ionization, SELDI) zugeführt. Hieraus erhält man, ähnlich einer 2-D-Gelanalyse, einen „Proteinfingerabdruck“. Damit ist es beispielsweise möglich, Tumorzellen von gesunden Zellen zu unterscheiden, potenziell spezifische Biomarker für Erkrankungen oder targets für eine medikamentöse Therapie zu identifizieren.
Es ist aber noch lange nicht mit der Identifikation möglicher targets getan; eine Herkulesaufgabe liegt dann immer noch vor den Wissenschaftlern, bevor ein marktfähiges Produkt nach allen Testverfahren erhältlich ist. Bisher sind die Programme und Projekte noch relativ unkoordiniert. Es wäre daher sinnvoll, das Proteom analog HUGO in einem koordinierten „Human Proteome Project“ zu analysieren. Genomikfirmen wie Celera haben bereits Milliarden US-Dollar für die Entwicklung großmaßstäblicher Proteomanalyse bereitgestellt. Aber es wurden auch schon einige staatliche Programme aufgelegt, wie das „Neue effiziente Verfahren für die funktionelle Proteomanalyse“ vom Bundesforschungsministerium. Dieses Programm zielt auf die funktionelle Analyse von Proteinen und Entwicklung neuer Technologien zur Proteinanalyse unter der gemeinsamen Förderung von Wirtschaft und Wissenschaft.
Allein der Markt für die nötige „hardware“ und Service ist weltweit riesig und zeigt enormes Wachstumsverhalten. Mittlerweile gibt es rund 150 Unternehmen, die Geräte, Software und Service für den Proteommarkt vertreiben. Nach einer Analyse von Frost and Sullivan wird der Markt von 700 Millionen US-Dollar im Jahr 1999 auf 5,8 Milliarden im Jahr 2005 steigen.
Es ist zu erwarten, dass die pharmazeutische Industrie eine „proteinreiche Diät“ beginnen wird, da man mit diesen Ansätzen sowohl Zeit bis zur Identifikation sparen kann als auch überhaupt die Zahl möglicher targets erheblich vergrößert. Die Katerstimmung nach Entzifferung des Genoms am Biotech-Aktienmarkt im letzten Jahr könnte daher schon bald zu einer neuen Rallye für Proteomics-Unternehmen führen.

Dr. med. Axel Wellmann, Bonn
E-Mail: axel_wellmann@yahoo.com

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