POLITIK: Kommentar
Arzneimittelpass: Plastikleiche


Fachjournalisten orten die Ursache des Übels in dem tatsächlich recht aggressiven, wenn auch leider branchenüblichen Marketing für Lipobay, dem die Ärzte scharenweise zum Opfer gefallen seien, wobei schamhaft verschwiegen wird, dass sich auch mancher jetzt kritische Fachjournalist dafür hat einspannen lassen. Die Presse beschuldigt die verschreibenden Ärzte, von Pharmakologie keine Ahnung zu haben, nicht einmal die Beipackzettel zu kennen und folglich Neben- und Wechselwirkungen zu übersehen. Zugleich ist die alte Presseklage, die Beipackzettel listeten viel zu viel Überflüssiges auf und verwirrten die Patienten, plötzlich verstummt.
So weit unsere Übersicht über Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Festzuhalten bleibt, dass, anders als die Man-hätte-wenn-man-gekonnt-hätte-Kritiker, einzig Bayer gehandelt hat, und das ohne Rücksicht auf Verluste.
Pardon, es handelte auch das Bundesgesundheitsministerium. Nach einem schnell vereinbarten Gespräch mit Vertretern der Ärzte und Apotheker präsentierte Ministerin Ulla Schmidt die Idee des Arzneimittelpasses in Gestalt einer Chipkarte. Auf dem Speicherchip sollen alle verordneten Arzneimittel versammelt werden. Die Idee wird, bisher ohne nennenswerte Resonanz, seit langem von den Apothekern propagiert, dessen oberster Vertreter denn auch bei Frau Schmidt mit dabei war. Die hat dankbar den Strohhalm respektive das Plastikstück ergriffen, mit dem sie in brenzliger Lage alsdann nach vorn weisen konnte.
Bevor die Idee Gesetz werden sollte, angeblich soll sie ins Arzneimittelgesetz aufgenommen werden, empfiehlt sich, wie so oft im Leben, kurzes Innehalten und Nachdenken über die Details. Etwa: Immer häufiger werden Arzneimittel nicht verordnet, sondern frei gekauft. Das ist politisch sogar gewollt, weil so den Kassenfinanzen geholfen wird, wenn auch nicht unbedingt der Arzneimittelsicherheit. Denn frei erhältlich ist vieles, was früher verschreibungspflichtig war. Es ist kaum zu erwarten, dass solche Käufe auf dem Chip landen. Oder: Was passiert, wenn der Patient seine Chipkarte vergessen hat oder er schlicht nicht will, dass alles Verordnete erfasst wird? Verweigert der Arzt die Verschreibung oder der Apotheker die Abgabe? Das wäre wohl unverhältnismäßig. Oder: Wie steht es mit Allergien, sonstigen Unverträglichkeiten und gravierenden Erkrankungen? Die zu erfassen wäre mindestens genauso wichtig wie die Registrierung der Verordnungen. Doch damit wäre der „gläserne Patient“ in greifbarer Nähe. Oder: Wer ist letztlich dafür verantwortlich, dass die Chipkarte beigehalten wird, nicht nur, indem neue Verordnungen eingepflegt, sondern auch überholte gelöscht werden? Andernfalls enthielte der Chip über kurz oder lang ein unbrauchbares Sammelsurium an Daten. Mag sein, dass Frau Schmidt und ihre Mann-/
Frauschaft solches bedenkt und löst. Wenn nicht, dann wird der Patientenpass schnell zur Kartei- oder, zeitgemäßer, zur Plastikleiche. Ach so, da war ja noch der Anlass, Bayer und Lipobay. Die Kampagne wird in der Öffentlichkeit schnell vergessen sein; sie verblasst ja jetzt schon und wandert in die Fachkreise ab. Bayer könnte unterdessen sein Pharmageschäft los sein, ehe der Arzneimittelpass eingeführt ist. Norbert Jachertz
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