DOKUMENTATION
Forschung am Menschen: Die neue Deklaration von Helsinki


Nach mehrjährigen Vorarbeiten1 wurde auf der 52. Hauptversammlung des Weltärztebundes in Edinburgh am 7. Oktober 2000 eine grundlegend überarbeitete Neufassung verabschiedet (und zwar einstimmig von 44 Mitgliedsorganisationen einschließlich der Bundesärztekammer). Die Veränderungen gemäß diesem Beschluss sind so erheblich, dass es sich im Grunde jetzt um die dritte Version der Deklaration nach jenen von 1964 (Helsinki) und 1975 (Tokio) handelt.
Neue Gliederung und Nummerierung
Der Haupttitel der Deklaration lautet wie bisher „Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes“2. Der Untertitel wurde dagegen geändert; anstelle von „Empfehlungen für Ärzte, die in der biomedizinischen Forschung am Menschen tätig sind“, heißt es jetzt ohne Nennung bestimmter Adressaten: „Ethische Prinzipien für die medizinische Forschung am Menschen“3. Hier klingt bereits an, dass sich die Deklaration nicht mehr nur an Ärzte, sondern an alle in der medizinischen Forschung Tätigen wenden will.
Die Nummerierung und Gliederung sind neu: Bisher begann jeder Abschnitt mit einer neuen Zählung. Jetzt reicht die Nummerierung übersichtlicher von 1 bis 32. Bisher gab es eine Unterteilung in vier Abschnitte: Einleitung (1–8); I. Grundlegende Prinzipien (1–12); II. Medizinische Versuche in Verbindung mit ärztlicher Versorgung (Klinische Versuche) (1–6); III. Nichttherapeutische biomedizinische Forschung am Menschen (1–4). Nunmehr gliedert sich die Deklaration in drei Abschnitte, nämlich: A. Einleitung (1–9); B. Grundlegende Prinzipien medizinischer Forschung (10–27); C. Ergänzende Prinzipien für medizinische Forschung in Verbindung mit medizinischer Versorgung (28–32). Damit ist die nichttherapeutische medizinische Forschung jetzt in den allgemeinen Grundsätzen aufgegangen; nur Versuche in Verbindung mit ärztlicher Versorgung werden noch besonders thematisiert.
Deklaration auch für nichtärztliche Forscher
Dies ist ausgehend von der auf Heilung von Kranken ausgerichteten „normalen“ ärztlichen Tätigkeit überraschend; eher hätte man erwarten können, dass die nichttherapeutische Forschung als Ausnahme ärztlicher Tätigkeit behandelt wird. Allerdings ist gegen die jetzige Aufteilung nichts einzuwenden, wenn man hervorheben möchte, dass sich die Deklaration auch an nichtärztliche Forscher wendet. Die bisherige (wenn auch auf einem Kontinuum zwischen individuellem Wohl und Gemeinwohl anzusiedelnde4 und damit nicht trennscharf mögliche) Unterscheidung zwischen therapeutischer und nicht-therapeutischer Forschung bleibt aufrechterhalten, auch wenn sie nicht mehr so deutlich wie früher zum Ausdruck gebracht wird.
Die einzelnen Bestimmungen
Nachfolgend werden die neue Fassung (halbfett) und die alte Fassung (gewöhnlich) im Wortlaut untereinander gestellt und hinsichtlich der wichtigsten Änderungen kommentiert.
Einleitung
1. Mit der Deklaration von Helsinki hat der Weltärztebund eine Erklärung ethischer Grundsätze als Leitlinie für Ärzte und andere Personen entwickelt, die in der medizinischen Forschung am Menschen tätig sind. Medizinische Forschung am Menschen schließt die Forschung an identifizierbarem menschlichen Material oder identifizierbaren [gemeint ist offenbar: personenbezogenen] Daten ein.
Einleitung 8:
Da es notwendig ist, die Ergebnisse von Laborversuchen auch auf den Menschen anzuwenden, um die wissenschaftliche Erkenntnis zu fördern und der leidenden Menschheit zu helfen, hat der Weltärztebund die folgenden Empfehlungen als eine Leitlinie für jeden Arzt erarbeitet, der in der biomedizinischen Forschung tätig ist. Sie sollte in der Zukunft überprüft werden.
Kommentar: Es ist zu begrüßen, dass Zweck und Reichweite der Deklaration nun ganz am Anfang stehen. Nicht zu missbilligen ist, dass die Deklaration jetzt ausdrücklich auch nichtärztliche Forscher anspricht. Da die Deklaration den Anspruch erhebt, für einen ausreichenden Schutz der in medizinische Forschung einbezogenen Personen zu sorgen und die Schutzkriterien nicht einmal vom nationalen Gesetzgeber relativiert oder unterlaufen werden können (s. Nr. 9), ist es nur konsequent, dass sich die Deklaration um die Formulierung von Kriterien bemüht, die über den ärztlichen Berufsstand hinaus Akzeptanz finden sollen5. Im Übrigen kann die Deklaration nichtärztliche Forscher über eine allgemeine Überzeugungsbildung hinaus insofern mittelbar einbeziehen, als sich die Ärzteschaft verpflichten kann, nur in der Weise mit Nichtärzten zusammenzuarbeiten, dass hierbei von allen Beteiligten die Anforderungen der Deklaration erfüllt werden. Angesichts fehlender Rechtsverbindlichkeit der Deklaration selbst für Ärzte (nur das jeweilige nationale Berufsrecht kann die Ärzte in rechtsverbindlicher Weise zur Befolgung der Deklaration verpflichten6) ist aber selbst diese Forderung nicht mehr als ein moralischer Appell.
Zu begrüßen ist es ferner, dass nunmehr auch Forschung an identifizierbarem menschlichem Material und mit personenbezogenen Daten in das Regelwerk einbezogen wird.
2. Es ist die Pflicht eines Arztes, die Gesundheit der Menschen zu fördern und zu erhalten. Der Erfüllung dieser Pflicht dient der Arzt mit seinem Wissen und Gewissen.
Einleitung 1: Aufgabe des Arztes ist die Erhaltung der Gesundheit des Menschen. Der Erfüllung dieser Pflicht-Aufgabe dient er mit seinem Wissen und Gewissen.
Kommentar: Richtigerweise wird jetzt die Pflicht des Arztes besonders betont, die Gesundheit des Menschen zu fördern, das heißt wiederherzustellen und auch (präventiv) zu verbessern.
3. Die Deklaration von Genf des Weltärztebundes verpflichtet den Arzt mit den Worten „Die Gesundheit meines Patienten soll mein vornehmstes Anliegen sein“, und der internationale Kodex ärztlicher Ethik legt fest: „Ein Arzt soll nur im Interesse seines Patienten handeln, wenn er ihm eine medizinische Behandlung oder Beratung zuteil werden lässt, die geeignet ist, den physischen oder psychischen Zustand des Patienten zu beeinträchtigen.“
Einleitung 2: Die Deklaration von Genf des Weltärztebundes verpflichtet den Arzt mit den Worten „Die Gesundheit meines Patienten soll mein vornehmstes Anliegen sein“, und der internationale Kodex ärztlicher Ethik legt fest: „Ein Arzt soll nur im Interesse seines Patienten handeln, wenn er ihm eine medizinische Behandlung oder Beratung zuteil werden lässt, die geeignet ist, den physischen oder psychischen Zustand des Patienten zu beeinträchtigen“.
4. Medizinischer Fortschritt beruht auf Forschung, die sich letztlich zum Teil auch auf Versuche am Menschen stützen muss.
Einleitung 5: Medizinischer Fortschritt beruht auf Forschung, die sich letztlich zum Teil auch auf Versuche am Menschen stützen muss.
5. Bei medizinischer Forschung am Menschen sollten7 Überlegungen zum Wohl der Versuchsperson Vorrang vor dem Interesse der Wissenschaft und der Gesellschaft haben.
I 5 Satz 2: Die Sorge um die Belange der Versuchsperson muss gegenüber dem Interesse der Wissenschaft und Gesellschaft stets übergeordnet sein.
III 4: Bei Versuchen am Menschen sollte das Interesse der Wissenschaft und der Gesellschaft niemals Vorrang vor Erwägungen haben, die das Wohlbefinden der Versuchsperson betreffen.
Kommentar: Die sprachlich merkwürdige Fassung, wonach bestimmte „Überlegungen“ Vorrang vor bestimmten „Interessen“ haben sollen, spiegelt das Dilemma wider, dass individuelles und kollektives Wohl kaum wirklich gegeneinander abgewogen werden können. Selbst bezogen auf das individuelle Wohl, muss die Vorschrift mehrdeutig bleiben, da therapeutische und nichttherapeutische (dem Betroffenen potenziell nützende oder eher fremdnützige) Forschung aus dem Blickwinkel „Nutzen“ und „nicht Schaden“ unterschiedliche Aspekte des Wohls berühren. Zu begrüßen ist, dass der Grundsatz, wonach die Interessen des Individuums Vorrang vor Allgemeininteressen haben, nunmehr weiter an den Anfang der Deklaration gerückt ist.
6. Primärer Zweck medizinischer Forschung am Menschen ist es, prophylaktische, diagnostische und therapeutische Verfahren sowie das Verständnis für die Ätiologie und Pathogenese der Krankheit zu verbessern. Selbst die besten erprobten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Methoden müssen ständig durch Forschung auf ihre Wirksamkeit, Leistungsfähigkeit, Verfügbarkeit und Qualität überprüft werden.
Einleitung 3: Zweck biomedizinischer Forschung am Menschen muss es sein, prophylaktische, diagnostische und therapeutische Verfahren sowie das Verständnis für die Ätiologie und Pathogenese der Krankheit zu verbessern.
Kommentar: In der Vorschrift wird nicht deutlich, welche anderen Zwecke außer dem genannten „primären“ Zweck mit medizinischer Forschung legitimerweise verfolgt werden.
7. In der medizinischen Praxis und medizinischen Forschung schließen die meisten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahren Risiken und Belastungen ein.
Einleitung 4: In der medizinischen Praxis sind diagnostische, therapeutische und prophylaktische Verfahren mit Gefahren verbunden. Dies gilt umso mehr für die biomedizinische Forschung.
8. Medizinische Forschung ist Gegenstand ethischer Standards, die den Respekt vor dem Menschen fördern und seine Gesundheit und Rechte schützen. Einige Betroffenengruppen [research populations] sind verletzlich und benötigen besonderen Schutz. Die besonderen Bedürfnisse der wirtschaftlich und gesundheitlich Benachteiligten müssen beachtet werden. Besondere Aufmerksamkeit ist zudem erforderlich bei denjenigen, die nicht für sich selbst eine Einwilligung geben oder verweigern können, bei denjenigen, die ihre Einwilligung möglicherweise in einer Zwangssituation abgeben, bei denjenigen, die keinen persönlichen Nutzen von der Forschung haben und bei denjenigen, bei denen die Forschung mit medizinischer Versorgung [care] verbunden ist.
Kommentar: Nr. 8 ist neu. Zu begrüßen ist es, dass besonders schutzbedürftige Personengruppen jetzt explizit genannt werden. Wie allerdings der konkrete Schutz der jeweiligen Gruppenangehörigen aussehen soll, wird in der Deklaration nur für einige der genannten Gruppen (nämlich Einwilligungsunfähige [Nrn. 24–26] und Patienten [Nrn. 28 ff.]) näher dargelegt. Merkwürdig ist umgekehrt, dass zwar in einigen Vorschriften ausdrücklich auf gesunde Freiwillige eingegangen wird (Nrn. 16, 18), dass diese Personen aber nicht als besondere Gruppe in Nr. 8 genannt sind.
9. Diejenigen, die Forschung durchführen, sollten sich der ethischen, gesetzlichen und verfahrensförmigen Erfordernisse medizinischer Forschung am Menschen ihres eigenen Landes ebenso wie der anwendbaren internationalen Regeln bewusst sein. Keine nationale ethische, gesetzliche oder verfahrensförmige Regel sollte irgendeines der in dieser Deklaration niedergelegten Kriterien zum Schutz des Menschen abschwächen oder aufheben dürfen.
Einleitung 8 Satz 3: Es muss betont werden, dass diese Empfehlungen nur als Leitlinie für die Ärzte auf der ganzen Welt gedacht sind. Kein Arzt ist von der straf-, zivil- und berufsrechtlichen Verantwortlichkeit nach den Gesetzen seines Landes befreit.
Kommentar: In Nr. 9 findet sich wieder die Erstreckung der Deklaration auf nichtärztliche Forscher. Zu schwach ausgeprägt ist die Verpflichtung des Forschers, sich der jeweiligen nationalen Bestimmungen bewusst zu sein; die frühere Fassung brachte viel deutlicher zum Ausdruck, dass die Deklaration nicht von der Befolgung nationaler Rechtsvorschriften entbinden kann. Ein wenig überheblich klingt
die Forderung, dass nationales Recht nicht hinter dem von der Deklaration gewährten Schutz zurückbleiben darf. Rechtliche Wirkung hat diese Forderung angesichts fehlender Bindung
der staatlichen Gesetzgeber ohnehin nicht.
B. Allgemeine Grundsätze medizinischer Forschung
10. Es ist die Pflicht des Arztes, in der medizinischen Forschung Leben, Gesundheit, Privatsphäre und Würde des Menschen zu schützen.
III 1: In der rein wissenschaftlichen Anwendung der medizinischen Forschung am Menschen ist es die Pflicht des Arztes, das Leben und die Gesundheit der Person zu schützen, an der biomedizinische Forschung durchgeführt wird.
Kommentar: Es ist zu begrüßen, dass die in Nr. 10 getroffene Aussage nun nicht mehr nur für die nichttherapeutische Forschung gilt, sondern ganz allgemein. Zu Recht werden auch Privat-
sphäre und Würde jetzt ausdrücklich genannt. Allerdings hätte zusätzlich das Selbstbestimmungsrecht der Patienten/ Probanden besonders erwähnt werden sollen.
11. Medizinische Forschung am Menschen muss den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen, auf umfassender Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur, auf anderen relevanten Informationsquellen und auf ausreichenden Laborversuchen sowie, soweit angemessen8, Tierversuchen basieren.“
I 1: Biomedizinische Forschung am Menschen muss den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen; sie solle auf ausreichende Laboratoriums- und Tierversuche sowie einer umfassenden Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur aufbauen.
Kommentar: In der (inhaltlich allerdings wenig griffigen) Forderung, dass Tierversuche nur dort der Forschung am Menschen vorangehen sollten, wo dies „angemessen“ ist, drückt sich die weltweit wachsende Sensibilität für den Tierschutz aus. In der Tat sollte an lebenden Wesen generell nur dann geforscht werden, wenn andere Formen der Forschung nicht hinreichend aussagekräftig sind.
12. Angemessene9 Vorsicht muss bei der Durchführung von Versuchen walten, die die Umwelt in Mitleidenschaft ziehen können; das Wohl der Versuchstiere muss respektiert werden.
Einleitung 7: Besondere Vorsicht muss bei der Durchführung von Versuchen walten, die die Umwelt in Mitleidenschaft ziehen können; das Wohl der Versuchstiere muss respektiert werden.
13. Die Planung und Durchführung eines jeden Versuchs am Menschen sollte klar formuliert in einem Versuchsprotokoll niedergelegt werden. Dieses Protokoll sollte zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und, soweit angemessen10, Zustimmung einer besonders berufenen Ethikkommission vorgelegt werden, die unabhängig vom Forschungsteam, vom Sponsor und von irgendeiner anderen unangemessenen Beeinflussung sein muss. Diese unabhängige Kommission sollte mit den Gesetzen oder Bestimmungen des Landes, in dem der Versuch durchgeführt wird, im Einklang sein. Die Kommission hat das Recht, die laufende Durchführung der Versuche zu überwachen. Der Forscher hat die Verpflichtung, der Kommission die zur Überwachung notwendigen Informationen, insbesondere zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen11 zu geben. Der Forscher sollte der Kommission ferner zum Zwecke der Überprüfung Informationen betreffend finanzielle Unterstützung, Sponsoren, institutionelle Verbindungen, andere mögliche Interessenkonflikte und Anreize für die Versuchspersonen geben.
I 2: Die Planung und Durchführung eines jeden Versuchs am Menschen sollte klar formuliert in einem Versuchsprotokoll niedergelegt werden, welches einem besonders berufenen, vom Forschungs-
team und Sponsor unabhängigen Ausschuss zur Beratung, Stellungnahme und Orientierung vorgelegt werden sollte. Dabei wird davon ausgegangen, dass dieser Ausschuss gemäß den Gesetzen oder Bestimmungen des Landes, in dem der Versuch durchgeführt wird, anerkannt ist.
Kommentar: Mit der Neufassung wird die Beratungs- und Kontrollfunktion der Ethikkommission gestärkt. Zum einen wird der Umfang der Informationen, die der Ethikkommission vor Beginn des Versuchs zur Verfügung zu stellen sind, erweitert. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf größere Transparenz und Aufdeckung möglicher Interessenkonflikte gerichtet. Zum Zweiten erhält die Kommission nun explizit das Recht, die Versuche begleitend zu überwachen. Durch das – wenn auch von einem Angemessenheitsvorbehalt erfasste – Erfordernis eines zustimmenden Votums der Ethikkommission wird allerdings die Tendenz verstärkt, die Ethikkommission entgegen ihrer früheren Funktion als Beratungsgremium zu einem genehmigenden Organ (wenn nicht gar zu einer Genehmigungsbehörde) werden zu lassen.
14. Das Versuchsprotokoll sollte stets die ethischen Überlegungen im Zusammenhang mit der Durchführung des Versuchs darlegen und aufzeigen, dass Übereinstimmung mit den Grundsätzen dieser Deklaration besteht.
I 12: Das Versuchsprotokoll sollte stets die ethischen Überlegungen im Zusammenhang mit der Durchführung des Versuchs darlegen und aufzeigen, dass die Grundsätze dieser Deklaration eingehalten werden.
15. Medizinische Forschung sollte nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen und unter Aufsicht einer klinisch erfahrenen, medizinisch qualifizierten Person durchgeführt werden. Die Verantwortung für die Versuchsperson trägt stets eine medizinisch qualifizierte Person und nie die Versuchsperson selbst, auch dann nicht, wenn sie ihr Einverständnis gegeben hat.
I 3: Biomedizinische Forschung am Menschen sollte nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen und unter Aufsicht einer klinisch erfahrenen, medizinisch qualifizierten Person durchgeführt werden. Die Verantwortung für die Versuchsperson trägt stets eine medizinisch qualifizierte Person und nie die Versuchsperson selbst, auch dann nicht, wenn sie ihr Einverständnis gegeben hat.
Kommentar: Unklar bleibt wie in der bisherigen Fassung, was eine „medizinisch qualifizierte Person“ ist. In anderem Zusammenhang spricht die Deklaration jedenfalls deutlicher vom „Arzt“, sodass der in Nr. 15 angesprochene Kreis von Personen offenbar über die Ärzteschaft hinausreichen soll.
16. Jedem medizinischen Forschungsvorhaben am Menschen sollte eine sorgfältige Abschätzung der voraussehbaren Risiken und Belastungen im Vergleich zu dem voraussichtlichen Nutzen für die Versuchsperson oder andere Personen vorausgehen. Dies schließt die Teilnahme von gesunden Freiwilligen an medizinischer Forschung nicht aus. Das Design aller Studien sollte öffentlich verfügbar sein.
I 5 Satz 1: Jedem biomedizinischen Forschungsvorhaben am Menschen sollte eine sorgfältige Abschätzung der voraussehbaren Risiken im Vergleich zu dem voraussichtlichen Nutzen für die Versuchsperson oder andere Personen vorausgehen.
Kommentar: Zu Recht werden nunmehr auch die mit der Forschung verbundenen Belastungen für die Versuchspersonen thematisiert. Satz 3 soll wie andere Vorschriften für eine größere (auch öffentliche) Transparenz medizinischer Forschung sorgen. Unklar ist allerdings die beabsichtigte Reichweite dieser Bestimmung.
17. Ärzte sollen nicht bei Versuchen am Menschen tätig werden, wenn sie nicht darauf vertrauen können, dass die mit dem Versuch verbundenen Risiken angemessen beurteilt wurden und zufriedenstellend beherrschbar sind. Ärzte sollten den Versuch abbrechen, sobald sich herausstellt, dass das Risiko den möglichen Nutzen übersteigt oder wenn ein hinreichender Beweis für positive und nützliche Ergebnisse erbracht wurde.
I 7: Ärzte sollen nicht bei Versuchen am Menschen tätig werden, wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass die mit dem Versuch verbundene Gefahr für vorhersagbar gehalten werden kann. Ärzte sollten den Versuch abbrechen, sobald sich herausstellt, dass die Gefahren den möglichen Nutzen übersteigen.
Kommentar: Zutreffend wird jetzt darauf hingewiesen, dass auch vorzeitige Ergebnisse zu berücksichtigen sind.
18. Medizinische Forschung am Menschen sollte nur durchgeführt werden, wenn die Bedeutung des Versuchsziels die mit dem Versuch verbundenen Risiken und Belastungen für die Versuchsperson überwiegt. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn die Versuchspersonen gesunde Freiwillige sind.
I 4: Biomedizinische Forschung am Menschen kann legitimerweise nur durchgeführt werden, wenn die Bedeutung des Versuchsziels in einem angemessenen Verhältnis zum mit dem Versuch verbundenen Risiko für die Versuchsperson steht.
Kommentar: Mit der Neufassung werden der Forschung jetzt engere Grenzen gesteckt (auch wenn individuelle und kollektive Gesichtspunkte kaum wirklich miteinander verglichen werden können). Die Bedeutung des Versuchsziels muss jetzt die Risiken und Belastungen für die Versuchspersonen überwiegen. Auf die Gefahren und Belastungen für Personen, die als Gesunde von der entsprechenden Forschung keinen persönlichen Vorteil haben, wird besonders hingewiesen.
19. Medizinische Forschung ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein vernünftiges Maß an Wahrscheinlichkeit12 dafür besteht, dass die Bevölkerungsgruppen („populations“), an denen die Forschung durchgeführt wird, voraussichtlich einen Nutzen von den Forschungsergebnissen haben werden.
Kommentar: Nr. 19 ist völlig neu. Allerdings ist der Sinn dieser Bestimmung unklar, weil nicht deutlich wird, nach welchen Kriterien „Bevölkerungsgruppen“ voneinander abgegrenzt werden sollen (Alter, Krankheit im Sinne von Nrn. 24 und 26?). Offenbar soll damit aber ein Teil des Problems „ethischen Exports“ und insbesondere ein Problem der Forschung in Entwicklungsländern gelöst, nämlich „Forschung an den Armen für die Reichen“ unterbunden werden.
20. Die Versuchspersonen müssen freiwillige Teilnehmer sein und über das Forschungsvorhaben aufgeklärt sein.
I 9: Bei jedem Versuch am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Absicht, Durchführung, erwarteten Nutzen und Risiken des Versuchs sowie über möglicherweise damit verbundene Unannehmlichkeiten unterrichtet werden. Die Versuchsperson sollte darüber informiert sein, dass es ihr freisteht, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nach dieser Aufklärung sollte der Arzt die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson einholen; die Erklärung sollte vorzugsweise schriftlich abgegeben werden.
III 2: Die Versuchspersonen sollten Freiwillige sein, entweder gesunde Personen oder Patienten, für die die Versuchsabsicht nicht mit ihrer Krankheit in Zusammenhang steht.
21. Das Recht der Versuchspersonen auf Wahrung ihrer Unversehrtheit muss stets geachtet werden. Es sollte alles getan werden, um die Privatsphäre der Versuchsperson und die Vertraulichkeit der Patienteninformationen zu wahren sowie die Auswirkungen des Versuchs auf die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Persönlichkeit der Versuchsperson so gering wie möglich zu halten.
I 6: Das Recht der Versuchspersonen auf Wahrung ihrer Unversehrtheit muss stets geachtet werden. Es sollte alles getan werden, um die Privatsphäre der Versuchsperson zu wahren sowie die Auswirkungen des Versuchs auf die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Persönlichkeit der Versuchsperson so gering wie möglich zu halten.
III 1: In der rein wissenschaftlichen Anwendung der medizinischen Forschung am Menschen ist es die Pflicht des Arztes, das Leben und die Gesundheit der Person zu schützen, an der biomedizinische Forschung durchgeführt wird.
22. Bei jeder Forschung am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Ziele, Methoden, Quellen finanzieller Unterstützung und mögliche Interessenkonflikte, institutionelle Verbindungen des Forschers, die erwarteten Nutzen und möglichen Risiken der Studie und die damit verbundenen Störungen des Wohlbefindens aufgeklärt werden. Die Versuchsperson sollte darüber aufgeklärt sein, dass sie das Recht hat, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit und ohne Nachteil eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nachdem der Arzt sich vergewissert hat, dass die Versuchsperson die Aufklärung verstanden hat, sollte er die freiwillig erteilte Einwilligung (nach Aufklärung) der Versuchsperson einholen, vorzugsweise in Schriftform. Falls die Einwilligung nicht in schriftlicher Form eingeholt werden kann, muss die nicht schriftlich abgegebene Einwilligung formell dokumentiert und durch Zeugen bestätigt werden.
I 9: Bei jedem Versuch am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Absicht, Durchführung, erwarteten Nutzen und Risiken des Versuchs sowie über möglicherweise damit verbundene Unannehmlichkeiten unterrichtet werden. Die Versuchsperson sollte darüber informiert sein, dass es ihr freisteht, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nach dieser Aufklärung sollte der Arzt die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson einholen; die Erklärung sollte vorzugsweise schriftlich abgegeben werden.
Kommentar: Mit der Neufassung wird jetzt stärker Wert gelegt auf eine Information der Versuchsperson über mögliche Interessenkonflikte (einschließlich etwaiger Bindungen des Arztes und etwaiger Geldgeber). Außerdem wird zu Recht stärker betont, dass die Versuchsperson zu wissen hat, dass sie die Zustimmung jederzeit ohne Nachteile widerrufen kann. Ebenfalls wird eine Regel getroffen für den Fall, dass die als vorzugswürdig bezeichnete Schriftform der Einwilligung nicht eingehalten werden kann.
23. Ist die Versuchsperson vom Arzt abhängig oder erfolgte die Einwilligung zu einem Versuch möglicherweise unter Druck, so soll der Arzt beim Einholen der Einwilligung nach Aufklärung besondere Vorsicht walten lassen. In einem solchen Fall sollte die Einwilligung nach Aufklärung durch einen gut unterrichteten Arzt eingeholt werden, der mit dem Forschungsvorhaben nicht befasst ist und der vollkommen außerhalb des Abhängigkeitsverhältnisses steht.
I 10: Ist die Versuchsperson vom Arzt abhängig oder erfolgte die Einwilligung zu einem Versuch möglicherweise unter Druck, so soll der Arzt beim Einholen der Einwilligung nach Aufklärung besondere Vorsicht walten lassen. In einem solchen Fall sollte die Einwilligung nach Aufklärung durch einen Arzt eingeholt werden, der mit dem Forschungsvorhaben nicht befasst ist und der vollkommen außerhalb des offiziellen Abhängigkeitsverhältnisses steht.
24. Für eine Versuchsperson, die einwilligungsunfähig ist, physisch oder geistig nicht in der Lage ist, eine Einwilligung zu erteilen oder wegen Minderjährigkeit nicht einwilligungsfähig ist, muss der Forscher die Einwilligung nach Aufklärung vom gesetzlich ermächtigten Vertreter entsprechend dem anwendbaren nationalen Recht einholen. Diese Personengruppen sollten nicht in Forschung einbezogen werden, es sei denn, die Forschung ist erforderlich, um die Gesundheit der entsprechenden Gruppe zu fördern, und kann nicht an einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden.
I 11 Absatz 1: Ist die Versuchsperson nicht einwilligungsfähig, sollte die Einwilligung nach Aufklärung vom gesetzlichen Vertreter entsprechend dem nationalen Recht eingeholt werden. Die Einwilligung des mit der Verantwortung betrauten Verwandten (darunter war nach deutschem Recht der Personensorgeberechtigte zu verstehen) ersetzt die der Versuchsperson, wenn diese infolge körperlicher oder geistiger Behinderung nicht wirksam zustimmen kann oder minderjährig ist.
Kommentar: Ausdrücklich hervorgehoben wird jetzt zu Recht, dass Forschung mit Einwilligungsunfähigen nur dann zulässig (weil erforderlich) ist, wenn die Forschung nicht mit Einwilligungsfähigen möglich ist. Im Gegensatz zur bisherigen Fassung wird allerdings jetzt auch nichttherapeutische Forschung mit Einwilligungsunfähigen für zulässig erklärt, sofern sie der
jeweiligen Betroffenengruppe nützt13
[s. dazu noch unten bei Nr. 26]. Zutreffend wird jetzt vom gesetzlich ermächtigten Vertreter und nicht mehr vom Verwandten gesprochen, der anstelle des Einwilligungsunfähigen zur Entscheidung über die Teilnahme zuständig ist.
25. Wenn eine Versuchsperson, die – wie ein minderjähriges Kind – als einwilligungsunfähig anzusehen ist, eine billigende Äußerung zu Entscheidungen bezüglich ihrer Teilnahme an Forschung abgeben kann, muss der Forscher diese Billigung zusätzlich zur Einwilligung des gesetzlich ermächtigten Vertreters einholen.
I 11 Absatz 2: Wenn das minderjährige Kind fähig ist, seine Zustimmung zu erteilen, so muss neben der Zustimmung des Personensorgeberechtigten auch die Zustimmung des Minderjährigen eingeholt werden.
Kommentar: Die Achtung des Selbstbestimmungsrechts auch des Einwilligungsunfähigen wird nun zu Recht über den Kreis der Minderjährigen hinaus auf alle Einwilligungsunfähigen erstreckt. Die Deklaration unterscheidet jetzt zudem sauberer zwischen „consent“ (rechtfertigende Einwilligung) und „assent“ (nicht allein zur Rechtfertigung ausreichende Billigung).
26. Forschung an Versuchspersonen, deren Einwilligung nicht eingeholt werden kann, und zwar auch nicht in Form einer Einwilligung eines Stellvertreters oder in Form einer vorherigen Einwilligung des Betroffenen, sollte nur durchgeführt werden, wenn der physische oder psychische Zustand, der der wirksamen Einwilligung nach Aufklärung entgegensteht, ein notwendiges Charakteristikum der fraglichen Versuchsgruppe ist. Die besonderen Gründe für die Einbeziehung der einwilligungsunfähigen Personen sollten im Versuchsprotokoll zur Bewertung und Zustimmung durch die Ethikkommission niedergelegt werden. Das Versuchsprotokoll sollte festlegen, dass die Einwilligung zur weiteren Teilnahme an dem Forschungsvorhaben so bald wie möglich von der betroffenen Person oder ihrem gesetzlich ermächtigten Vertreter eingeholt werden sollte.
II 5: Wenn der Arzt es für unentbehrlich hält, auf die Einwilligung nach Aufklärung zu verzichten, sollten die besonderen Gründe für dieses Vorgehen in dem für den unabhängigen Ausschuss bestimmten Versuchsprotokoll niedergelegt werden.
Kommentar: Nr. 26 ist in Satz 1 eine Präzisierung des Erforderlichkeitsprinzips, das bereits in Nr. 24 angesprochen wird. Entgegen der bisherigen Fassung, wonach nichttherapeutische Forschung nur an Freiwilligen [und das heißt: Einwilligungsfähigen] vorgenommen werden sollte, gibt die Deklaration jetzt implizit zu verstehen, dass auch nichttherapeutische Forschung mit Einwilligungsunfähigen möglich ist. Zu kritisieren ist, dass dabei keinerlei Anbindung an den mutmaßlichen Willen des Betroffenen vorgesehen ist und auch keine absolute Grenze festgelegt wird (wie es etwa die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates mit dem Kriterium des „minimalen Risikos/der minimalen Belastung“ versucht). Nicht einmal eine besonders strenge Nutzen-Risiko-Abwägung wird für die Einbeziehung von Einwilligungsunfähigen gefordert. Gerade aus dem Blickwinkel des Schutzes Einwilligungsunfähiger hatte sich die früher deutlichere (auch gliederungsmäßige) Herausstellung nichttherapeutischer Forschung als bedeutsam erwiesen.
Zu begrüßen ist die neue Regelung, wonach die Einwilligung zur weiteren Teilnahme so bald wie möglich eingeholt werden sollte. Dies betrifft in Verbindung mit der Grundregel, wonach auch personenbezogene Daten von den Regeln der Deklaration erfasst werden, insbesondere auch die weitere Verwendung der gespeicherten Daten.
27. Sowohl Autoren als auch Verleger von Veröffentlichungen haben ethische Verpflichtungen. Bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse sind die Forscher verpflichtet, die Ergebnisse genau wiederzugeben. Sowohl negative als auch positive Ergebnisse sollten veröffentlicht werden oder auf andere Weise öffentlich verfügbar sein. Quellen finanzieller Unterstützung, institutionelle Verbindungen und mögliche Interessenkonflikte sollten in der Veröffentlichung angegeben werden. Berichte über Forschung, die nicht in Übereinstimmung mit den in dieser Deklaration niedergelegten Grundsätzen durchgeführt wurde, sollten nicht zur Veröffentlichung angenommen werden.
I 8 Satz 1: Der Arzt ist bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse verpflichtet, die Ergebnisse genau wiederzugeben.
I 8 Satz 2: Berichte über Forschung, die nicht in Übereinstimmung mit den in dieser Deklaration niedergelegten Grundsätzen durchgeführt wurde, sollten nicht zur Veröffentlichung angenommen werden.
Kommentar: Auch in Nr. 27 zeigt sich die Tendenz der Deklaration, Interessenkonflikte und Bindungen offen zu legen. Neu ist auch die Verpflichtung, negative Ergebnisse zu veröffentlichen; in der Tat können dadurch andere Forschungsvorhaben, die unnötige Risiken für die Versuchspersonen bringen, vermieden werden.
C. Besondere Grundsätze für medizinische Forschung in Verbindung mit medizinischer Versorgung
28. Der Arzt kann medizinische Forschung nur insoweit mit medizinischer Versorgung verbinden, als die Forschung durch ihren möglichen prophylaktischen, diagnostischen oder therapeutischen Wert gerechtfertigt ist. Wenn medizinische Forschung mit medizinischer Versorgung verbunden wird, sind zusätzliche Standards anzuwenden, um die Patienten, die Versuchspersonen sind, zu schützen.
II 6: Der Arzt kann medizinische Forschung mit dem Ziel der Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse mit der ärztlichen Betreuung nur soweit verbinden, als diese medizinische Forschung durch ihren möglichen diagnostischen oder therapeutischen Wert für den Patienten gerechtfertigt ist.
Kommentar: Im Gegensatz zur früheren Fassung wird nicht mehr verlangt, dass die fragliche Forschung einen Vorteil gerade für den Patienten erwarten lässt. Das bedeutet eine Abschwächung des Patientenschutzes. Man hätte zumindest einen Gruppennutzen (also einen Nutzen für die von derselben Krankheit Betroffenen) verlangen sollen. Nur unvollkommen erfasst Nr. 32 n.F. jetzt einen Teil des entsprechenden Patientenschutzes, indem zumindest dort auf den Individualschutz abgestellt wird.
29. Die Vorteile, Risiken, Belastungen und Wirksamkeit eines neuen Verfahrens sollten gegen diejenigen des derzeit besten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahrens abgewogen werden. Dies schließt den Gebrauch von Placebos ebensowenig aus wie das Unterlassen einer Behandlung, sofern kein erprobtes prophylaktisches, diagnostisches oder therapeutisches Verfahren existiert.
II 2: Die mit der Anwendung eines neuen Verfahrens verbundenen möglichen Vorteile, Risiken und Störungen des Befindens sollten gegen die Vorzüge der bisher bestehenden diagnostischen und therapeutischen Methoden abgewogen werden.
II 3: Bei jedem medizinischen Versuch sollten alle Patienten – einschließlich diejenigen einer eventuell vorhandenen Kontrollgruppe – die beste erprobte diagnostische und therapeutische Behandlung erhalten. Dies schließt nicht die Verwendung von reinen Placebos bei Versuchen aus, für die es kein erprobtes diagnostisches oder therapeutisches Verfahren gibt.
Kommentar: Vergleichsobjekt der Forschung soll nunmehr das beste verfügbare Verfahren sein; offen bleibt, ob dieses konkret oder abstrakt (zum Beispiel in anderen Kliniken/Ländern) verfügbar sein muss. Die Forderung, dass alle Patienten die beste erprobte diagnostische und therapeutische Behandlung erhalten sollten (Nr. II 3 S. 1 a.F.),
haben aufgeklärt sein.
I 9: Bei jedem Versuch am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Absicht, Durchführung, erwarteten Nutzen und Risiken des Versuchs sowie über möglicherweise damit verbundene Unannehmlichkeiten unterrichtet werden. Die Versuchsperson sollte darüber informiert sein, dass es ihr freisteht, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nach dieser Aufklärung sollte der Arzt die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson einholen; die Erklärung sollte vorzugsweise schriftlich abgegeben werden.
III 2: Die Versuchspersonen sollten Freiwillige sein, entweder gesunde Personen oder Patienten, für die die Versuchsabsicht nicht mit ihrer Krankheit in Zusammenhang steht.
21. Das Recht der Versuchspersonen auf Wahrung ihrer Unversehrtheit muss stets geachtet werden. Es sollte alles getan werden, um die Privatsphäre der Versuchsperson und die Vertraulichkeit der Patienteninformationen zu wahren sowie die Auswirkungen des Versuchs auf die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Persönlichkeit der Versuchsperson so gering wie möglich zu halten.
I 6: Das Recht der Versuchspersonen auf Wahrung ihrer Unversehrtheit muss stets geachtet werden. Es sollte alles getan werden, um die Privatsphäre der Versuchsperson zu wahren sowie die Auswirkungen des Versuchs auf die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Persönlichkeit der Versuchsperson so gering wie möglich zu halten.
III 1: In der rein wissenschaftlichen Anwendung der medizinischen Forschung am Menschen ist es die Pflicht des Arztes, das Leben und die Gesundheit der Person zu schützen, an der biomedizinische Forschung durchgeführt wird.
22. Bei jeder Forschung am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Ziele, Methoden, Quellen finanzieller Unterstützung und mögliche Interessenkonflikte, institutionelle Verbindungen des Forschers, die erwarteten Nutzen und möglichen Risiken der Studie und die damit verbundenen Störungen des Wohlbefindens aufgeklärt werden. Die Versuchsperson sollte darüber aufgeklärt sein, dass sie das Recht hat, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit und ohne Nachteil eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nachdem der Arzt sich vergewissert hat, dass die Versuchsperson die Aufklärung verstanden hat, sollte er die freiwillig erteilte Einwilligung (nach Aufklärung) der Versuchsperson einholen, vorzugsweise in Schriftform. Falls die Einwilligung nicht in schriftlicher Form eingeholt werden kann, muss die nicht schriftlich abgegebene Einwilligung formell dokumentiert und durch Zeugen bestätigt werden.
I 9: Bei jedem Versuch am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über Absicht, Durchführung, erwarteten Nutzen und Risiken des Versuchs sowie über möglicherweise damit verbundene Unannehmlichkeiten unterrichtet werden. Die Versuchsperson sollte darüber informiert sein, dass es ihr freisteht, die Teilnahme am Versuch zu verweigern, und dass sie jederzeit eine einmal gegebene Zustimmung widerrufen kann. Nach dieser Aufklärung sollte der Arzt die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson einholen; die Erklärung sollte vorzugsweise schriftlich abgegeben werden.
Kommentar: Mit der Neufassung wird jetzt stärker Wert gelegt auf eine Information der Versuchsperson über mögliche Interessenkonflikte (einschließlich etwaiger Bindungen des Arztes und etwaiger Geldgeber). Außerdem wird zu Recht stärker betont, dass die Versuchsperson zu wissen hat, dass sie die Zustimmung jederzeit ohne Nachteile widerrufen kann. Ebenfalls wird eine Regel getroffen für den Fall, dass die als vorzugswürdig bezeichnete Schriftform der Einwilligung nicht eingehalten werden kann.
23. Ist die Versuchsperson vom Arzt abhängig oder erfolgte die Einwilligung zu einem Versuch möglicherweise unter Druck, so soll der Arzt beim Einholen der Einwilligung nach Aufklärung besondere Vorsicht walten lassen. In einem solchen Fall sollte die Einwilligung nach Aufklärung durch einen gut unterrichteten Arzt eingeholt werden, der mit dem Forschungsvorhaben nicht befasst ist und der vollkommen außerhalb des Abhängigkeitsverhältnisses steht.
I 10: Ist die Versuchsperson vom Arzt abhängig oder erfolgte die Einwilligung zu einem Versuch möglicherweise unter Druck, so soll der Arzt beim Einholen der Einwilligung nach Aufklärung besondere Vorsicht walten lassen. In einem solchen Fall sollte die Einwilligung nach Aufklärung durch einen Arzt eingeholt werden, der mit dem Forschungsvorhaben nicht befasst ist und der vollkommen außerhalb des offiziellen Abhängigkeitsverhältnisses steht.
24. Für eine Versuchsperson, die einwilligungsunfähig ist, physisch oder geistig nicht in der Lage ist, eine Einwilligung zu erteilen oder wegen Minderjährigkeit nicht einwilligungsfähig ist, muss der Forscher die Einwilligung nach Aufklärung vom gesetzlich ermächtigten Vertreter entsprechend dem anwendbaren nationalen Recht einholen. Diese Personengruppen sollten nicht in Forschung einbezogen werden, es sei denn, die Forschung ist erforderlich, um die Gesundheit der entsprechenden Gruppe zu fördern, und kann nicht an einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden.
I 11 Absatz 1: Ist die Versuchsperson nicht einwilligungsfähig, sollte die Einwilligung nach Aufklärung vom gesetzlichen Vertreter entsprechend dem nationalen Recht eingeholt werden. Die Einwilligung des mit der Verantwortung betrauten Verwandten (darunter war nach deutschem Recht der Personensorgeberechtigte zu verstehen) ersetzt die der Versuchsperson, wenn diese infolge körperlicher oder geistiger Behinderung nicht wirksam zustimmen kann oder minderjährig ist.
Kommentar: Ausdrücklich hervorgehoben wird jetzt zu Recht, dass Forschung mit Einwilligungsunfähigen nur dann zulässig (weil erforderlich) ist, wenn die Forschung nicht mit Einwilligungsfähigen möglich ist. Im Gegensatz zur bisherigen Fassung wird allerdings jetzt auch nichttherapeutische Forschung mit Einwilligungsunfähigen für zulässig erklärt, sofern sie der jeweiligen Betroffenengruppe nützt13
[s. dazu noch unten bei Nr. 26]. Zutreffend wird jetzt vom gesetzlich ermächtigten Vertreter und nicht mehr vom Verwandten gesprochen, der anstelle des Einwilligungsunfähigen zur Entscheidung über die Teilnahme zuständig ist.
25. Wenn eine Versuchsperson, die – wie ein minderjähriges Kind – als einwilligungsunfähig anzusehen ist, eine billigende Äußerung zu Entscheidungen bezüglich ihrer Teilnahme an Forschung abgeben kann, muss der Forscher diese Billigung zusätzlich zur Einwilligung des gesetzlich ermächtigten Vertreters einholen.
I 11 Absatz 2: Wenn das minderjährige Kind fähig ist, seine Zustimmung zu erteilen, so muss neben der Zustimmung des Personensorgeberechtigten auch die Zustimmung des Minderjährigen eingeholt werden.
Kommentar: Die Achtung des Selbstbestimmungsrechts auch des Einwilligungsunfähigen wird nun zu Recht über den Kreis der Minderjährigen hinaus auf alle Einwilligungsunfähigen erstreckt. Die Deklaration unterscheidet jetzt zudem sauberer zwischen „consent“ (rechtfertigende Einwilligung) und „assent“ (nicht allein zur Rechtfertigung ausreichende Billigung).
26. Forschung an Versuchspersonen, deren Einwilligung nicht eingeholt werden kann, und zwar auch nicht in Form einer Einwilligung eines Stellvertreters oder in Form einer vorherigen Einwilligung des Betroffenen, sollte nur durchgeführt werden, wenn der physische oder psychische Zustand, der der wirksamen Einwilligung nach Aufklärung entgegensteht, ein notwendiges Charakteristikum der fraglichen Versuchsgruppe ist. Die besonderen Gründe für die Einbeziehung der einwilligungsunfähigen Personen sollten im Versuchsprotokoll zur Bewertung und Zustimmung durch die Ethikkommission niedergelegt werden. Das Versuchsprotokoll sollte festlegen, dass die Einwilligung zur weiteren Teilnahme an dem Forschungsvorhaben so bald wie möglich von der betroffenen Person oder ihrem gesetzlich ermächtigten Vertreter eingeholt werden sollte.
II 5: Wenn der Arzt es für unentbehrlich hält, auf die Einwilligung nach Aufklärung zu verzichten, sollten die besonderen Gründe für dieses Vorgehen in dem für den unabhängigen Ausschuss bestimmten Versuchsprotokoll niedergelegt werden.
Kommentar: Nr. 26 ist in Satz 1 eine Präzisierung des Erforderlichkeitsprinzips, das bereits in Nr. 24 angesprochen wird. Entgegen der bisherigen Fassung, wonach nichttherapeutische Forschung nur an Freiwilligen [und das heißt: Einwilligungsfähigen] vorgenommen werden sollte, gibt die Deklaration jetzt implizit zu verstehen, dass auch nichttherapeutische Forschung mit Einwilligungsunfähigen möglich ist. Zu kritisieren ist, dass dabei keinerlei Anbindung an den mutmaßlichen Willen des Betroffenen vorgesehen ist und auch keine absolute Grenze festgelegt wird (wie es etwa die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates mit dem Kriterium des „minimalen Risikos/der minimalen Belastung“ versucht). Nicht einmal eine besonders strenge Nutzen-Risiko-Abwägung wird für die Einbeziehung von Einwilligungsunfähigen gefordert. Gerade aus dem Blickwinkel des Schutzes Einwilligungsunfähiger hatte sich die früher deutlichere (auch gliederungsmäßige) Herausstellung nichttherapeutischer Forschung als bedeutsam erwiesen.
Zu begrüßen ist die neue Regelung, wonach die Einwilligung zur weiteren Teilnahme so bald wie möglich eingeholt werden sollte. Dies betrifft in Verbindung mit der Grundregel, wonach auch personenbezogene Daten von den Regeln der Deklaration erfasst werden, insbesondere auch die weitere Verwendung der gespeicherten Daten.
27. Sowohl Autoren als auch Verleger von Veröffentlichungen haben ethische Verpflichtungen. Bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse sind die Forscher verpflichtet, die Ergebnisse genau wiederzugeben. Sowohl negative als auch positive Ergebnisse sollten veröffentlicht werden oder auf andere Weise öffentlich verfügbar sein. Quellen finanzieller Unterstützung, institutionelle Verbindungen und mögliche Interessenkonflikte sollten in der Veröffentlichung angegeben werden. Berichte über Forschung, die nicht in Übereinstimmung mit den in dieser Deklaration niedergelegten Grundsätzen durchgeführt wurde, sollten nicht zur Veröffentlichung angenommen werden.
I 8 Satz 1: Der Arzt ist bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse verpflichtet, die Ergebnisse genau wiederzugeben.
I 8 Satz 2: Berichte über Forschung, die nicht in Übereinstimmung mit den in dieser Deklaration niedergelegten Grundsätzen durchgeführt wurde, sollten nicht zur Veröffentlichung angenommen werden.
Kommentar: Auch in Nr. 27 zeigt sich die Tendenz der Deklaration, Interessenkonflikte und Bindungen offen zu legen. Neu ist auch die Verpflichtung, negative Ergebnisse zu veröffentlichen; in der Tat können dadurch andere Forschungsvorhaben, die unnötige Risiken für die Versuchspersonen bringen, vermieden werden.
C. Besondere Grundsätze für medizinische Forschung in Verbindung mit medizinischer Versorgung
28. Der Arzt kann medizinische Forschung nur insoweit mit medizinischer Versorgung verbinden, als die Forschung durch ihren möglichen prophylaktischen, diagnostischen oder therapeutischen Wert gerechtfertigt ist. Wenn medizinische Forschung mit medizinischer Versorgung verbunden wird, sind zusätzliche Standards anzuwenden, um die Patienten, die Versuchspersonen sind, zu schützen.
II 6: Der Arzt kann medizinische Forschung mit dem Ziel der Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse mit der ärztlichen Betreuung nur soweit verbinden, als diese medizinische Forschung durch ihren möglichen diagnostischen oder therapeutischen Wert für den Patienten gerechtfertigt ist.
Kommentar: Im Gegensatz zur früheren Fassung wird nicht mehr verlangt, dass die fragliche Forschung einen Vorteil gerade für den Patienten erwarten lässt. Das bedeutet eine Abschwächung des Patientenschutzes. Man hätte zumindest einen Gruppennutzen (also einen Nutzen für die von derselben Krankheit Betroffenen) verlangen sollen. Nur unvollkommen erfasst Nr. 32 n.F. jetzt einen Teil des entsprechenden Patientenschutzes, indem zumindest dort auf den Individualschutz abgestellt wird.
29. Die Vorteile, Risiken, Belastungen und Wirksamkeit eines neuen Verfahrens sollten gegen diejenigen des derzeit besten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahrens abgewogen werden. Dies schließt den Gebrauch von Placebos ebensowenig aus wie das Unterlassen einer Behandlung, sofern kein erprobtes prophylaktisches, diagnostisches oder therapeutisches Verfahren existiert.
II 2: Die mit der Anwendung eines neuen Verfahrens verbundenen möglichen Vorteile, Risiken und Störungen des Befindens sollten gegen die Vorzüge der bisher bestehenden diagnostischen und therapeutischen Methoden abgewogen werden.
II 3: Bei jedem medizinischen Versuch sollten alle Patienten – einschließlich diejenigen einer eventuell vorhandenen Kontrollgruppe – die beste erprobte diagnostische und therapeutische Behandlung erhalten. Dies schließt nicht die Verwendung von reinen Placebos bei Versuchen aus, für die es kein erprobtes diagnostisches oder therapeutisches Verfahren gibt.
Kommentar: Vergleichsobjekt der Forschung soll nunmehr das beste verfügbare Verfahren sein; offen bleibt, ob dieses konkret oder abstrakt (zum Beispiel in anderen Kliniken/Ländern) verfügbar sein muss. Die Forderung, dass alle Patienten die beste erprobte diagnostische und therapeutische Behandlung erhalten sollten (Nr. II 3 S. 1 a.F.),
gibt es als solche jetzt nicht mehr; wörtlich genommen hätte sie auch jeden Versuch ausgeschlossen, weil diejenigen, denen die Studienmedikation verabreicht wird, gerade keine erprobte Behandlung erhalten.
30. Bei Beendigung einer Studie sollte gewährleistet werden, dass jeder darin eingeschlossene Patient Zugang zu denjenigen Verfahren erhält, die sich in der Erprobung als die besten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahren erwiesen haben.
Kommentar: Es handelt sich um eine weitreichende neue Vorschrift. In er-
ster Linie soll offenbar (ergänzend zu Nr. 19) das Dritte-Welt-Problem gelöst werden, indem es nicht mehr zulässig ist, eine Studie durchzuführen, ohne der betroffenen Bevölkerung anschließend auch die Vorteile zukommen zu lassen. Weitergehend kann die Vorschrift aber auch im Inland sämtlichen individuellen Versuchspersonen zugute kommen, wenn man sie dahin interpretiert, dass allen Versuchspersonen die Studienmedikation (sofern sie sich als überlegen erwiesen hat) selbst dann so lange wie notwendig zur Verfügung gestellt werden muss, wenn die Kosten nicht von Sozial- oder Privatversicherungsträgern übernommen werden. Sogar ein „Konkurrenzprodukt“, gegen das getestet wurde, muss dann offenbar allen Teilnehmern zur Verfügung gestellt werden. Wo die (auch zeitlichen) Grenzen einer derartigen Forderung liegen, wird noch für erhebliche Diskussionen sorgen.
31. Der Arzt sollte den Patienten umfassend14 über alle forschungsbezogenen Aspekte der Versorgung informieren. Die Weigerung eines Patienten, an einem Versuch teilzunehmen, darf niemals die Beziehung zwischen Arzt und Patient beeinträchtigen.
II 4: Die Weigerung eines Patienten, an einem Versuch teilzunehmen, darf niemals die Beziehung zwischen Arzt und Patient beeinträchtigen.
Kommentar: Die Regel in Satz 1 soll dem Patienten zu Recht verdeutlichen, welche Maßnahmen spezifisch studienbedingt sind und welche Maßnahmen im Rahmen seiner medizinischen Versorgung auch unabhängig von der Studie vorgesehen sind. Dadurch soll die Nutzen-Risiko-Abwägung hinsichtlich der Teilnahme an der Studie für den Patienten erleichtert werden.
32. Sofern erprobte prophylaktische, diagnostische und therapeutische Verfahren fehlen oder sich als unwirksam erwiesen haben, muss der Arzt die Freiheit haben, bei der Behandlung eines Patienten mit dessen Einwilligung nach Aufklärung unerprobte oder neue prophylaktische, diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie nach seinem Urteil die Hoffnung bieten, das Leben des Patienten zu retten, seine Gesundheit wiederherzustellen oder seine Leiden zu lindern. Soweit möglich15 sollten diese Verfahren zum Gegenstand von Forschung gemacht worden sein, um ihre Sicherheit und Wirksamkeit zu überprüfen. Auf jeden Fall sollten neue Informationen aufgezeichnet und, soweit angemessen, veröffentlicht werden. Die übrigen einschlägigen Bestimmungen dieser Deklaration sollten befolgt werden.
II 1: Bei der Behandlung eines Kranken muss
der Arzt die Freiheit haben, neue diagnostische und therapeutische Maßnahmen anzuwenden, wenn sie nach seinem Urteil die Hoffnung bie-
ten, das Leben des Patienten zu retten, seine Gesundheit wiederherzustellen oder seine Leiden zu lindern.
Kommentar: Der Heilversuch wird nun explizit auf jene Fälle beschränkt, in denen erprobte prophylaktische, diagnostische und therapeutische Verfahren fehlen oder sich als unwirksam erwiesen haben. Zudem wird jetzt zutreffend betont, dass vom individuellen Heilversuch so weit wie möglich in systematische Forschung übergegangen werden sollte und neue Informationen aufgezeichnet und – soweit angemessen – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten.
Erstaunlich und in der Sache abzulehnen ist es, dass der individuelle Heilversuch und der klinische Versuch nun offenbar überhaupt nicht mehr bei Einwilligungsunfähigen möglich sein sollen, und zwar selbst dann nicht, wenn die begründete Hoffnung besteht, dass durch den entsprechenden therapeutischen Versuch das Leben des Patienten gerettet, seine Gesundheit wiederhergestellt oder sein Leiden verringert wird: Nr. 32 verlangt ausnahmslos die Einwilligung des Patienten nach dessen Aufklärung, ebenso wie Nr. 31 eine umfassende Information des Patienten fordert. Auch im Übrigen findet sich im neuen Abschnitt über medizinische Forschung in Verbindung mit medizinischer Versorgung keine vergleichbare Aussage wie früher unter II 5, wonach der Arzt in Verbindung mit ärztlicher Versorgung unter Umständen auf die Einwilligung nach Aufklärung verzichten kann (nämlich wenn er dies für „unentbehrlich“ hält). Richtigerweise hätten der Heilversuch und der klinische Versuch unter Anbindung an den mutmaßlichen Willen des Kranken ermöglicht werden sollen.
Zusammenfassende Beurteilung
Der überwiegende Teil der Veränderungen in der Deklaration von Helsinki ist positiv zu bewerten. Der Patienten- und Probandenschutz wurde in der Tendenz eher stärker denn schwächer ausgestaltet. Die Forschung an Einwilligungsunfähigen ist allerdings nun in einer Weise geregelt, die die internationale Diskussion auf den Kopf stellt:
Entgegen der bisherigen Fassung und entgegen international geltend gemachten Bedenken ist nun auch nichttherapeutische Forschung zulässig; hier hätte zumindest eine besonders strenge Nutzen-Risiko-Abwägung, gegebenenfalls auch eine objektive Grenze („minimales Risiko“) und/oder die Anbindung an den mutmaßlichen Willen vorgesehen werden müssen.
Umgekehrt sind der individuelle Heilversuch und der klinische therapeutische Versuch bei Einwilligungsunfähigen offenbar überhaupt nicht mehr erlaubt, und zwar selbst dann nicht, wenn die begründete Hoffnung besteht, dass durch den entsprechenden therapeutischen Versuch das Leben des Patienten gerettet, seine Gesundheit wiederhergestellt oder sein Leiden verringert wird. Denn im gesamten Abschnitt über die medizinische Forschung in Verbindung mit ärztlicher Versorgung findet sich jetzt keine Ausnahmevorschrift mehr, wonach auf die Einwilligung des Betroffenen verzichtet und durch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ersetzt werden kann. Richtigerweise hätten therapeutische Versuche zumindest unter Anbindung an den mutmaßlichen Willen des Patienten ermöglicht werden sollen. Unklar ist, ob es sich bei der jetzigen Regelung um ein unbeabsichtigtes Versehen oder um den Ausdruck falsch verstandenen Patientenschutzes handelt.
Zu begrüßen ist das Bemühen, medizinische Forschung für die Versuchspersonen wie auch für die Ethikkommission und die Öffentlichkeit transparenter auszugestalten und dabei insbesondere mögliche Interessenkonflikte offen zu legen. Die Tatsache, dass sich die Deklaration jetzt über den ärztlichen Kreis hinaus an alle in der medizinischen Forschung Tätigen wendet, ist nicht zu missbilligen; sie führt allerdings in der Formulierung einiger Regeln zu Unklarheiten, weil nicht immer zu erkennen ist, warum gelegentlich doch nur Ärzte angesprochen werden16.
Unbefriedigend ist wie in der früheren Fassung der unterschiedliche Verpflichtungsgrad der verschiedenen Vorschriften. Viel häufiger hätten Mussbestimmungen formuliert werden sollen. In der Sache zutreffend, den Willen der Verfasser der Deklaration allerdings nicht richtig wiedergebend17, wird in der Übersetzung der Bundesärztekammer18 denn auch häufig – wenn auch nicht durchgängig19 – aus dem weichen „should“ ein deutlich verpflichtenderes „muss“20.
Neue Regelwerke schaffen verbindliches Recht
Einige Bestimmungen sind in ihrer Reichweite völlig unklar (insbesondere Nrn. 16, 19, 30) und gewinnen dadurch eine besondere Brisanz. Die Deklaration hätte sprachlich-systematisch gestrafft werden sollen. Nicht alle in die Beratung eingebrachten Wünsche nach zusätzlichen (vor allem ausdifferenzierteren) Regeln sind berücksichtigt worden21. Beispielsweise wird epidemiologische Forschung nicht besonders thematisiert, fehlen Bestimmungen zum kontrollierten klinischen Versuch bezüglich der Bildung von Test- und Kontrollgruppen, der Randomisierung, des Blind- und Doppelblindversuchs. Auch auf Sonderformen wie das Pilotprojekt und die Anwendungsbeobachtung sowie auf die Spezifika von multizentrischen Studien wird nicht eingegangen. Die Verwendung menschlicher Körpersubstanzen wird zwar in der Einleitung angesprochen, aber mit ihren besonderen Problemen ebensowenig erfasst wie der gesamte Bereich der humangenetischen Forschung. Auch die Forschung an humanen Keimzellen, befruchteten Eizellen, Embryonen und Feten wird nicht angemessen thematisiert. Insofern wurde die Chance vertan, zu wichtigen Themen moderner Forschung Stellung zu beziehen und den Forschern in zahlreichen drängenden Fragen eine wirkliche Hilfestellung zu geben.
Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes war auf internationaler Ebene lange Zeit das einzige einigermaßen umfassende und spezifische Regelwerk zur medizinischen Forschung am Menschen. Inzwischen hat sie Konkurrenz bekommen, und die Konkurrenz wird noch zunehmen: Die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates, die inzwischen von zehn der 43 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurde22 und damit in diesen Ländern in Kraft getreten ist, kann wohl als das kommende Grundgesetz biomedizinischer Forschung im europäischen Raum angesehen werden. Inwieweit sie über Europa hinausstrahlen wird, bleibt abzuwarten23. Hinzugetreten ist die Europäische Richtlinie zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln24. Beide Regelwerke schaffen – im Gegensatz zur Deklaration von Helsinki – unmittelbar verbindliches Recht. Angesichts der zum Teil divergierenden Regeln sind die Ärztekammern vielleicht gut beraten, die Ethikkommissionen nicht mehr elitär auf die Beachtung der Deklaration von Helsinki zu verpflichten – und zwar schon deshalb, weil im Konfliktfall das „harte“, wenn auch von den einzelnen Staaten erst in den nationalen Bereich zu überführende Recht der Menschenrechtskonvention und der Europäischen Richtlinie Vorrang vor dem „soft law“ der Deklaration von Helsinki haben.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2413–2420 [Heft 38]
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. iur. Jochen Taupitz
Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim – IMGB
Kaiserring 10–12, 68131 Mannheim
E-Mail: taupitz@jura.uni-mannheim.de
1 Ausführlich (auch mit Abdruck verschiedener Vorschläge) Deutsch/Taupitz (Hrsg.): Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, 2000.
2 Eine offizielle deutsche Übersetzung seitens des Weltärztebundes gibt es nicht. Auf der Homepage der World Medical Association (http://www.wma.net) ist die Deklaration in Englisch, Französisch und Spanisch verfügbar (wobei allerdings nur die englische Fassung in Edinburgh beschlossen worden ist, s. Doppelfeld, Dt Ärztebl 2000; 97: A 2920 [Heft 44]). Die Bundesärztekammer hat eine (z. T. recht freie) deutsche Übersetzung erarbeitet, die auf ihrer Homepage (www.bundesaerztekammer.de) abrufbar ist. Im nachfolgenden Beitrag wird eine möglichst wortgetreue Übersetzung geliefert, die nicht in allen Punkten mit derjenigen der BÄK übereinstimmt; auf besonders wichtige Übersetzungsunterschiede wird jeweils besonders hingewiesen.
3 Kritisch hierzu Doppelfeld, Dt Ärztebl 2000; 97: A 2920 [Heft 44].
4 Näheres Taupitz, Landesbericht Deutschland, in: ders. (Hrsg.): Zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens, 2000, S. 273, 379.
5 Schon bisher wandte sie sich Nr. I 8 a.F. (s. jetzt Nr. 27 n.F.) an Herausgeber von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, also ebenfalls an Nichtärzte.
6 Siehe Taupitz: Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 730 ff., 748 ff. – In den (satzungsförmigen) Berufsordnungen der deutschen Ärztekammern, die der Musterberufsordnung des Deutschen Ärztetages folgen, wird die Deklaration von Helsinki allerdings nur als Grundlage jener Beratung genannt, die die Ethikkommission dem Arzt auf dessen pflichtgemäße Anforderung hin vor Durchführung biomedizinischer Forschung am Menschen erteilt (§ 15 II MBO).
7 Dies wird in der Übersetzung der Bundesärztekammer (o. Fn. 2) – wie bei anderen Bestimmungen auch (s. unten bei Fn. 20) – nicht angemessen wiedergegeben; es heißt dort feststellend „haben Überlegungen . . . Vorrang“.
8 Unklar ist, warum die Übersetzung der Bundesärztekammer (oben Fn. 2) die ohnehin schwache Aussage durch die Formulierung „und gegebenenfalls Tierversuchen“ noch weiter verwässert.
9 Die Übersetzung der Bundesärztekammer (oben Fn. 2) belässt es erstaunlicherweise beim früheren Begriff „besondere“.
10 Auch hier lautet die Übersetzung der Bundesärztekammer „gegebenenfalls“, s. schon oben Fn. 8.
11 Die Übersetzung der Bundesärztekammer (oben Fn. 2) spricht von „auftretenden ernsten Zwischenfällen“.
12 Die Übersetzung der Bundesärztekammer (oben Fn. 2) spricht von „großer Wahrscheinlichkeit“.
13 Zur Bedeutung des Gruppennutzens s. etwa die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Schutz nichteinwilligungsfähiger Personen in der medizinischen Forschung, Dt Ärztebl 1997; 94: A-1011 ff. [Heft 15]; erläuternder Aufsatz hierzu von Taupitz/Fröhlich, VersR 1997, 911 ff.
14 Die Übersetzung der Bundesärztekammer (oben Fn. 2) lautet „ausführlich“.
15 Auch hier lautet die Übersetzung der Bundesärztekammer abschwächend „gegebenenfalls“, s. schon oben Fn. 8.
16 Etwa in Nrn. 2, 10 und 17 oder in Nrn. 22 und 23 im Vergleich zu Nr. 24.
17 Die englische Originalfassung unterscheidet deutlich zwischen „should“ und „must“, s. etwa Nrn. 8, 11, 12, 13, 15, 20, 21, 22, 24, 25, 31, 32.
18 Siehe oben Fn. 2.
19 Z. B. nicht in Nrn. 9, 24, 27, 30, 32.
20 Nrn. 9, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 21, 22, 23, 26, 27, 29, 31; s. auch Nr. 5.
21 Dazu etwa das „Göttinger Papier“, abgedruckt bei Deutsch/Taupitz (Fn. 1), S. 365 ff.; der Vorschlag der Bundesärztekammer, abgedruckt ebenda, S. 429 ff.; s. ferner Deutsch, NJW 2001, 857 ff.
22 Slowakische Republik (15. 1. 1998), San Marino (20. 3. 1998), Griechenland (6. 10. 1998), Slowenien (5. 11. 1998), Dänemark (10. 8. 1999), Spanien (1. 9. 1999), Georgien (22. 11. 00), Rumänien (24. 4. 01), Tschechische Republik (22. 6. 01) und Portugal (13. 8. 01).
23 Siehe dazu die Beiträge in Taupitz (Hrsg.): Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung?, 2001 (demnächst).
24 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. 4. 2001, ABl. EG Nr. L 121/34 vom 1. 5. 2001.