POLITIK: Kommentar
Ist die Pharmaindustrie in Deutschland noch zu retten?
Dtsch Arztebl 2001; 98(47): A-3096 / B-2629 / C-2435


Will ein Land im globalen Wettbewerb bei der Arzneimittelentwicklung eine Rolle spielen, muss es als Standort attraktiv sein. Es sollte ein dringender Wunsch jedes Landes sein, eigene Entwicklungskapazitäten vorzuhalten, ansonsten verliert es den Anschluss und muss im Ausland entwickelte Produkte teuer einkaufen. Vor allem aber verliert es den Ruf als fortschrittlicher, forschungsorientierter Standort. Ein derart fortschrittsfeindliches Klima führt schnell zur Abwanderung betroffener, aber auch anderer Industriezweige.
Bei der Verschmelzung pharmazeutischer Unternehmen wird die Forschung in der Regel an den Stammsitz der Firma verlagert, so geschehen bei der Übernahme von Boehringer-Mannheim durch Roche in der Schweiz oder bei der Bildung von Aventis aus Hoechst Marion Roussel und Rhône-Poulenc-Rohrer. In letzterem Fall scheint zumindest die kardiovaskuläre Forschung in Deutschland zu bleiben. Man fragt sich, wie lange.
Internationale Pharmakonzerne, vor allem solche mit Hauptsitz in den USA, betrachten Deutschland inzwischen als weltweit dritt- oder zweitwichtigsten Markt. Sie investieren massiv in das Marketing, unterhalten hier aber keine nennenswerte Primärforschung. Allenfalls werden Produkteinführungsstudien mitplatziert, ohne dass Deutschland eine führende Rolle bei deren Gestaltung spielt. Auch aus diesem Grund muss Deutschland daran interessiert sein, seine pharmazeutischen Unternehmen an ihren Standort zu binden oder neue hier anzusiedeln.
Die Liste der Pharmaunternehmen, die in Deutschland ihren Hauptsitz haben, ist kurz und schrumpft beständig. Sie verzeichnet unter anderem noch Schering, Bayer, Merck, Byk-Gulden und Boehringer-Ingelheim als große oder mittelgroße Unternehmen. Boehringer-Mannheim und Knoll sind verkauft, Hoechst ist in Aventis mit Hauptsitz in Straßburg aufgegangen, und es steht zu befürchten, dass in sehr naher Zukunft weitere Unternehmen ihre Eigenständigkeit aufgeben müssen. Diese Aussage hat angesichts der Cerivastatin-Rücknahme durch Bayer an Aktualität gewonnen, über einen Verkauf der Pharma-Sparte „als Juniorpartner“ eines dann führenden, vermutlich ausländischen Großunternehmens wird offen spekuliert. Wir sind auf dem besten Weg, die pharmazeutische Primärforschung zu verlieren, die früher eine der Säulen der positiven Außenwirkung unserer Industrie war.
Was sind die Ursachen, und was sind die Folgen? Der Standort Deutschland ist zu teuer, zu bürokratisch und zu forschungsfeindlich. Die Lohnnebenkosten sind Weltspitze, die Arbeitnehmerrechte stehen in direktem Kontrast zur globalen Konkurrenzfähigkeit. Die bürokratischen Hürden bei der klinischen und der Tierforschung gehören zu den Spitzenleistungen deutscher Gründlichkeit. Zu nennen seien nur die unsinnigen Bestimmungen zu den Ethikkommissionen, die bei multizentrischen Studien für jedes Bundesland und nach jeweils eigenen Regeln zustimmen müssen. Ein Forschungshemmnis, das in seinen verheerenden Folgen weder von der Wissenschaft noch von der Justiz abgeschätzt wird, ist die Korruptionsverfolgung. Korruption ist nicht etwa ein harmloses Phänomen, aber ihre regellose, maßlose und zynische Verfolgung durch öffentliche Stellen in der Drittmittelforschung spottet jeder Vernunft.
Es gibt also genügend Nachteile des Standorts Deutschland, die die Pharmaindustrie ins Ausland treiben. Setzt sich diese Entwicklung fort, wird Deutschland bald als interessanter Absatzmarkt für Pharmaprodukte anderer eine Explosion der Arzneimittelkosten ungeahnten Ausmaßes erleben. Vor allem aber wird Deutschland jede Kompetenz in diesem Bereich verlieren. Die klinischen Wissenschaften, die jetzt schon keine internationale Reputation mehr besitzen, werden von der Weltentwicklung abgekoppelt. Diese und benachbarte Disziplinen werden in der Bedeutungslosigkeit versinken. Es ist völlig unverständlich, warum die Politik auf Appelle nicht reagiert. Wann begreifen die Politiker, dass Leistung nicht vom Himmel fällt und geeigneterer Strukturen bedarf? Wenn erst alle pharmazeutischen Unternehmen verkauft sind, ist es zu spät! Prof. Dr. med. Martin Wehling
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