THEMEN DER ZEIT
Stammzellforschung (II): Menschenrecht auf Gesundheit


Befürworter der Forschung mit embryonalen Stammzellen erhoffen
sich davon neue Therapieansätze. Foto: dpa
Die Debatte um die Forschung an embryonalen Stammzellen ist durch die Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vom 3. Mai in Bewegung geraten. Die DFG votierte für eine stärkere Beteiligung an der Forschung mit Stammzelllinien von Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung übrig geblieben sind. Demgegenüber hat zum Beispiel die Bundesjustizministerin „absolute Grenzen“ gefordert. Der diesjährige (104.) Deutsche Ärztetag hielt diese Forschung „derzeit“ nicht für ratsam.
Es steht außer Frage: Der Umgang mit Embryonen und die Beurteilung des moralischen Status von Embryonen berühren das Menschenbild und das Verständnis von Menschenwürde zutiefst. Deshalb hat es seinen guten Sinn, dass heutzutage zum Embryonenschutz auf einer Basis reflektiert wird, die kulturgeschichtlich gesehen äußerst restriktiv ist. Erst seit der Aufklärungsepoche, vor allem seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, setzte sich die strikte Auffassung durch, das ungeborene Kind schon von vornherein, von der Zeugung an, im vollen Sinn als schutzwürdigen Menschen zu erachten.
Die katholische Kirche hat sich sogar erst 1869 endgültig von ihrer alten Lehre getrennt, das vorgeburtliche Leben werde erst am 80. oder 90. Tag nach der Empfängnis zu einem Menschen im eigentlichen Sinn. Diese Lehre gründete auf der Idee einer stufenweisen Beseelung, die Aristoteles oder Thomas von Aquin entwickelt hatten. Das volle Menschsein des Fetus resultiere aus der Einstiftung einer Geistseele, die, nach zwei Vorstufen der Beseelung, schließlich mehrere Wochen nach der Empfängnis stattfinde. Deshalb war für das mittelalterliche Kirchenrecht eine frühe Abtreibung der Leibesfrucht, vor der Einstiftung der Geistseele, viel weniger problematisch als eine spätere Abtreibung.
Kein „absoluter“ Lebensschutz
Letztlich verhalfen dann die moderne, naturwissenschaftlich fundierte Biologie und Embryologie der restriktiven Sicht zum Durchbruch, dass der Embryo von vornherein ein eigenständiger schutzwürdiger Mensch ist. Biologisch betrachtet entwickelt sich der Embryo aus seiner genetischen Anlage heraus kontinuierlich zu einer vollständigen Person. Normativ-ethisch ausgedrückt: Er besitzt von Anfang an eine so genannte starke, nämlich eine aktive, in ihm selbst als Subjekt verankerte Potenzialität zum Personsein. Ethisch und menschenrechtlich gilt, dass die Menschenwürde jedem menschlichen Individuum gleicherweise und voraussetzungslos zukommt. Deshalb sind auch dem Embryo bereits in seinen frühesten Lebensstadien Schutzwürdigkeit und Lebensrecht zuzusprechen.
Inzwischen mehren sich jedoch Stimmen, die einen gradualisierten Embryonenschutz vertreten. Ihnen zufolge nimmt die Schutzwürdigkeit des Embryos mit steigendem Reifegrad beziehungsweise mit fortschreitender Individualentwicklung zu. Solche Überlegungen wirken fast wie eine Aktualisierung der alten philosophisch-theologischen Idee der stufenweisen Beseelung des Fetus. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass ethischer Begriffsbildung zufolge „Würde“ oder „Schutzwürdigkeit“ einer Abstufung, Steigerung oder Quantifizierung grundsätzlich entzogen sind. Schon deswegen kann ein Gradualitätskonzept nicht überzeugen.
Umgekehrt lässt sich aber auch nicht der Gedanke aufrechterhalten, der Embryonenschutz gelte in „absoluter“ Form. Einen absoluten Standpunkt zu vertreten, bedeutet, von konkreten Umständen, Situationen und Handlungskonstellationen ganz abzusehen. Aus einem solchen Rigorismus heraus hat der Vatikan, der nunmehr die Geistbeseelung des Embryos sofort bei der Empfängnis lehrt, jetzt den Rückzug der deutschen katholischen Kirche aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung durchgesetzt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat im März die Präimplantationsdiagnostik kategorisch abgelehnt.
Das Postulat „absoluter Grenzen“ oder eines „absoluten“ Embryonenschutzes ist aber, ganz abgesehen von Evidenz- und Akzeptanzproblemen in einer pluralen Gesellschaft, auch ethiktheoretisch nicht plausibel. In begründeten Fällen hat die Ethik Ausnahmen vom Lebensschutz stets zugestehen müssen. Klassische Beispiele sind die Notwehr, die Nothilfe oder der Verteidigungskrieg. Eine Relativierung von Lebensschutz und Lebenserhaltung liegt auch bei der passiven Sterbehilfe vor. Dort ist die Einsicht leitend, dass unerträglich gewordenes Leiden ein Ende haben darf und ein Sterben in Würde möglich sein sollte. Der Lebensschutz wird ferner relativiert, wenn in Konfliktfällen der Schwangerschaftsabbruch toleriert wird oder wenn das Embryonenschutzgesetz darauf verzichtet, überzählige beziehungsweise verwaiste Embryonen am Leben zu erhalten (etwa durch Zulassung pränataler Adoption).
So unterschiedlich diese Beispiele sind, belegen sie doch, dass in besonders begründeten Fällen sogar das menschliche Leben selbst in eine Abwägung gestellt werden darf. Die Würde des Menschseins und das Prinzip, dass der Lebensschutz fundamental ist und im Zweifel stets vorrangig Geltung besitzt, werden dadurch nicht beeinträchtigt. Den Lebensschutz jedoch „absolut“ setzen zu wollen lässt sich angesichts konkreter Konflikt- und Entscheidungssituationen nicht durchhalten.
Besondere Abwägungsaspekte für frühe embryonale Stadien
Für die frühen embryonalen Stadien, um die es bei der Stammzellforschung geht, hat die Ethik noch besondere Abwägungsaspekte zu beachten. So ist zu fragen, ob – angesichts der fließenden Übergänge zwischen Toti- und Pluripotenz und der Reprogrammierbarkeit spezialisierter Zellen – die Totipotenz noch ein plausibles, handhabbares Abgrenzungskriterium bildet. Zudem ist der Embryo nach der Nidation noch viel deutlicher als vorher ein sich selbst entwickelndes Individuum. Indem sich seine Körperachse ausbildet, nimmt er als Individuum „Gestalt“ an; Zwillingsbildung ist nicht mehr möglich. Insofern stellt sich die Frage, ob ganz frühe Embryonalstadien vor der Nidation exakt genauso wie der Embryo nach der Nidation geschützt werden müssen. Für diese frühembryonale Phase sollte zwar keine nach unten hin „abgestufte“ Schutzwürdigkeit behauptet werden. Aber es lässt sich eine etwas größere Ausnahmemöglichkeit vom grundsätzlich geltenden Lebensschutz und Lebenserhalt vertreten.
Deshalb werden für die Stammzellforschung die Verwendung verwaister, ohnehin dem Tod ausgelieferter Embryonen und theoretisch sogar übergangsweise eine Reprogrammierung von Zellkernen, bei der ein Abbruch der Entwicklung nach wenigen Tagen erfolgt, ethisch denkbar. Dass darauf bezogene Abwägungen legitim sind, begründet sich aus den herausgehobenen Zielen der Stammzellforschung, nämlich der Therapie von Krankheiten, bei denen konventionelle Behandlungsmethoden an Grenzen stoßen. In bestimmten Fällen scheint der alleinige Rückgriff auf adulte Stammzellen heutigem Ermessen zufolge unzureichend zu bleiben.
Das Votum, das die DFG zugunsten der Forschung an embryonalen Stammzellen abgab, legte vor allem auf die Forschungsfreiheit Wert. Diese bildet in der Tat einen Kern neuzeitlicher Verfassungsprinzipien und ist auch in der EU-Grundrechtscharta tragend. Für die Abwägung, die die Forschung an embryonalen Stammzellen betrifft, dürfte letztlich jedoch dem Menschenrecht auf Gesundheit eine noch höhere Aussagekraft zukommen. Denn der Embryonenschutz einerseits und die Gesundheitsförderung andererseits stehen als vitale, das Leben betreffende Güter in innerem Bezug zueinander. Das Menschenrecht auf Gesundheit, nämlich das Recht des Einzelnen auf „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“, haben Internationale Konventionen kodifiziert (Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 oder die UN-Kinderrechtskonvention von 1989). Die EU-Grundrechtscharta fordert ein „hohes Gesundheitsschutzniveau“ für die „Durchführung aller Politiken und Maßnahmen“. Das Recht auf Gesundheit zählt zu jenen Menschenrechten, die staatlicherseits nach Maßgabe der jeweiligen technischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Bedingungen zu fördern sind. Auch auf der Basis einer Ethik der Zukunftsverantwortung, mithin im Blick auf schwere Krankheitsbilder künftig lebender Patienten, ist das Menschenrecht auf Gesundheit bedeutsam.
Normierende Kriterien und permanente Überprüfung
Es ist argumentativ unvertraut und neuartig, den Schutz von Embryonen, also ein Schutzrecht einerseits, und das Recht auf Gesundheit als menschenrechtlichen Anspruch andererseits in einen Ausgleich zu bringen. Voraussetzung für eine – therapeutischen Zielen dienende – embryonale Stammzellforschung müssten normierende Kriterien, permanente Überprüfung und die Möglichkeit der Korrektur einmal betretener Forschungspfade sein. Die Gefahr, dass durch diese Forschung die Ethik des Embryonenschutzes oder gar die kulturelle Geltung der Menschenwürde generell ausgehöhlt würde, könnte so abgewehrt werden.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3272–3274 [Heft 49]
Literatur
1. Demel S: Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1995.
2. Knoepffler N: Menschliche Embryonen und medizinethische Konfliktfälle. In: Knoepffler N, Haniel A (Hrsg.): Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle. Stuttgart, Leipzig: Hirzel, 2000; 55–66.
3. Kreß H: Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatzfragen und gegenwärtige Entscheidungsprobleme (Präimplantationsdiagnostik; Nutzung von Stammzellen). In: Kreß H/Kaatsch H-J (Hrsg.): Menschenwürde, Medizin und Bioethik. Münster: LIT, 2000; 11–37.
4. Kreß H: Präimplantationsdiagnostik, der Status von Embryonen und embryonale Stammzellen. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 2001; 46: 230–235.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß
Universität Bonn, Evangelisch-Theologische Fakultät
Abteilung Sozialethik
Am Hof 1, 53113 Bonn
E-Mail: hkress@uni-bonn.de