VARIA: Wirtschaft
Kritik-Kultur im Arbeitsleben: „Bitte bringen Sie gleich eine Lösung mit“


Es fängt oft harmlos an. Sie kochen ein Nudelgericht. Ihre bessere Hälfte steckt den Kopf zur Küchentür herein und sagt: „Gibt es wieder Spaghetti?“ Hand aufs Herz: In den meisten Fällen werden Sie glauben, allein aus Blick und Tonfall schließen zu können, wie die Frage gemeint ist. Und schon geht es los: „Ja, ich weiß, es ist das dritte Mal in dieser Woche, aber . . .“, oder: „Musst Du immer übers Essen meckern?“
Der Kommunikationsberater Thomas Lünendonk (Textkasten) hat kein spezielles Saucenrezept parat, wohl aber Analysen und Tipps für solche Situationen. Er rät, die Anmerkung neutral aufzunehmen und zu fragen, wie sie eigentlich gemeint ist, zum Beispiel durch einen Satz wie „Hast Du Lust darauf?“ Es sei besser, zunächst Informationen einzuholen, wie etwas überhaupt gemeint ist, statt eine Aussage sofort zu interpretieren – und wegen eines Missverständnisses einen Streit vom Zaum zu brechen.
Das Spaghetti-Beispiel hat mehr mit dem Arbeitsleben zu tun, als es scheint. Privat wie beruflich sind es oft Kleinigkeiten, über die man sich ärgert oder die anderen an einem selbst missfallen. In beiden Lebensbereichen fällt es vielen Menschen schwer, Kritik anzunehmen oder zu äußern. Eine gute Übung ist es, sich selbst zu befragen: Was fällt mir an aktiver Kritik leicht, was schwer? Was an passiver, also daran, Kritik anzunehmen?
Quelle: dta-Akademie, Hamburg
Die Antworten werden unterschiedlich ausfallen. Doch wenn man die Ergebnisse einer Gruppe sammelt, gibt es Überlappungen. Viele Menschen mögen es nicht, wenn sehr viel jüngere Kollegen etwas auszusetzen haben, wenn die Kritik im Beisein von anderen geäußert wird oder wenn sie von jemandem kommt, der selbst keine Kritik verträgt. Selbst zu kritisieren fällt vielen eher leicht, wenn jemand betroffen ist, zu dem man ein angenehmes Verhältnis hat, wenn es sich lediglich um „Formfehler“ handelt und wenn es sachliche Inhalte sind, die besprochen werden.
Die Trennung persönlich – sachlich ist Fiktion
Von der letzten Differenzierung hält Lünendonk allerdings nicht viel. „Die Trennung persönlich – sachlich ist eine Fiktion“, meint er. Kritik werde immer angenommen unter dem Blickwinkel: „Wie steht der andere zu mir?“ Zur Verdeutlichung verweist der Berater auf Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft. Wie eine Aussage aufgenommen wird, ist immer abhängig von der Beziehung zwischen den beiden, die miteinander sprechen. „Die Beziehung dominiert den Prozess – es muss nicht eine Liebesbeziehung sein“, betont Lünendonk.
Das lässt sich gut an Schulz von Thuns Schema „Vier Seiten einer Nachricht“* verdeutlichen. Sagt eine Kollegin: „Hier zieht es ganz schön“, dann stellt sie fest, dass es zugig im Raum ist (Sachinhalt). Gleichzeitig steckt in dem Satz eine Selbstoffenbarung, vermutlich: „Mir ist kalt.“ Sie enthält auch einen Appell: „Macht jemand das Fenster für mich zu?“ Die Reaktion auf eine solche Aussage hängt dann von der Beziehung ab. Je nachdem, wie das Verhältnis ist, bekommt die Kollegin zu hören: „Soll ich Ihnen eine Jacke holen?“ Oder auch: „Ziehen Sie sich doch wärmer an.“
Solche simplen Beispiele verdeutlichen, dass man sehr unterschiedlich auf Äußerungen, also auch Kritik, reagieren kann. Um wirklich zu verstehen, was das Gegenüber meint, und um bei Kritik nicht in kürzester Zeit in Streit zu geraten, rät Lünendonk: Auf jeden Fall die Ruhe bewahren. Das Tempo muss heraus aus der Kommunikation; wenn man sich nur noch Sätze um die Ohren haut, misslingt das Gespräch: „Dann ist Kritik wie ein Schwert in der Menschenmenge.“ Deshalb sollte man sich für Kritik auch Zeit lassen: „Mal eben schnell ist keine gute Strategie.“
Als Gerüst gibt Lünendonk denjenigen, die er in Kommunikationsfragen berät, eine Liste von Hilfsregeln der Kommunikation (nach Ruth C. Cohn) mit auf den Weg:
- Vertritt Dich selbst in Deinen Aussagen; sage „ich“ und nicht „wir“ oder „man“.
- Wenn Du eine Frage stellst, sage, warum Du fragst und was Deine Frage für Dich bedeutet. Sprich über Dich und vermeide das Interview/ Verhör.
- Sei, was Du bist. Mache Dir bewusst, was Du denkst und fühlst, und wähle, was Du sagst und tust. Lünendonk gibt ein Beispiel: „Wenn Sie eine Miezekatze sind, machen Sie nicht den Stubentiger.“
- Halte Dich mit Interpretationen so lange wie möglich zurück. Sprich stattdessen Deine persönlichen Gefühle/Reaktionen aus.
- Beachte Signale Deines Körpers. Er kann Dir oft mehr über Dich sagen als Dein Verstand.
- Benutze diese Regeln als Leitlinien für Dich selbst und spiele nicht „Kommunikationspolizei“ bei anderen.*
Lünendonk findet die Regeln hilfreich. Manches muss man aber regelrecht einüben, und dennoch wird das eine oder andere schwierige Gespräch schlecht verlaufen. Dann sei es sinnvoll, es nachzubereiten und zu prüfen, was denn schief gelaufen ist. Man könne sich für ein schlechtes Gespräch auch einmal bei einem Kollegen entschuldigen. Lünendonk rät dazu auch, weil es im Berufsleben, anders als im Privatbereich, selten körperliche Auffangmöglichkeiten für fehlgeschlagene Kritik gibt: „Sich zu umarmen oder zur Versöhnung zu küssen ist selten möglich.“
Sich angemessen und zeitnah zu kritisieren hat unter Kollegen einen unschätzbaren Vorteil: Man staut seinen Ärger nicht auf. Ist das der Fall, geht nämlich schnell unter, was der Betroffene sehr gut kann und was man an ihm und seiner Arbeit schätzt. Lünendonk rät, sich bewusst die Vorzüge von Kollegen ins Gedächtnis zu rufen – und auch Lob nicht zu vergessen. Anerkennende Worte zu Kollegen sind nämlich häufig die Ausnahme, in Redaktionen ebenso wie in Praxen oder Krankenhäusern.
Wenn Lob und Kritik zu verteilen sind, solle man mit der Kritik beginnen, schlägt Lünendonk vor. Zum einen warte jeder gelobte Mitarbeiter auf das „Aber . . .“, das Kritik einleite, und könne die positiven Anmerkungen nicht ganz genießen. Zum anderen sei ein Lob am Ende eines Gesprächs oder einer Teamsitzung der bessere Übergang in den Arbeitsalltag.
In manchen Fällen nutzt aber auch das beste Kritikgespräch nichts, und zwar dann, wenn sich nichts ändert. „Irgendwann müssen Dinge eine Konsequenz haben“, stellte Lünendonk klar. Als Beispiel schilderte er die Geschichte eines Schlussredakteurs, der in einer Zeitungsredaktion am Ende über die Abwicklung von Texten und Seiten wacht. Der Mann war völlig überfordert mit seiner Aufgabe und vergrätzte nach und nach das gesamte Team. Nach etlichen Gesprächen und Versuchen, die Situation zu verbessern, ließ sich eine Versetzung nicht umgehen.
Schließlich zitierte Kommunikationstrainer Lünendonk noch eine Lösung für Konflikte, die vor Jahren an der Tür eines früheren Chefs hing: „Bitte bringen Sie den anderen gleich mit. Bitte bringen Sie gleich eine Lösung mit.“ Sabine Rieser