ArchivDeutsches Ärzteblatt50/2001Gesundheitsreform 2003: Aus der Defensive gelockt

POLITIK

Gesundheitsreform 2003: Aus der Defensive gelockt

Flintrop, Jens

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Befreiungsschlag: Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) erläutert, wie sie das Gesundheitssystem reformieren will, wenn sie nach der Bundestagswahl vom 22. September 2002 im Amt bleibt. Foto: ddp
Befreiungsschlag: Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) erläutert, wie sie das Gesundheitssystem reformieren will, wenn sie nach der Bundestagswahl vom 22. September 2002 im Amt bleibt. Foto: ddp
Ulla Schmidt sieht sich nun doch gezwungen, ein Reformkonzept
für die Zeit nach der Bundestagswahl 2002 vorzulegen.


Genug war genug: Deutlich steigende Krankenkassenbeiträge, ein Jahresdefizit von mindestens vier Milliarden DM in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), ein rheinland-pfälzischer Sozialminister (Florian Gerster, SPD), der sich als ihr Nachfolger warm läuft, ein Bundeswirtschaftsminister (Werner Müller, parteilos), der sich in ihr Ressort einmischt, und eine von SPD-Generalsekretär Franz Müntefering berufene Expertengruppe, die eine sehr weitgehende Reform des Gesundheitswesens vorschlägt, lockten Ulla Schmidt (SPD) aus der Defensive. Um die Meinungsführerschaft in der Gesundheitspolitik zurückzugewinnen, sah sich die Bundesgesundheitsministerin veranlasst, der Öffentlichkeit ihre Eckpunkte für eine Gesundheitsreform vorzustellen – eine solche stünde allerdings erst im Jahr 2003 an. Damit wird die Gesundheitspolitik zu einem wichtigen Thema bei der Bundestagswahl im September 2002.
Drehen an Stellschrauben
In ihrer Grundsatzrede auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin betonte Schmidt, dass sie an der solidarisch finanzierten Gesetzlichen Krankenversicherung festhalten will. Das deutsche Gesundheitssystem benötige keine Revolution und keine Zerschlagung, sondern Reformen. Ihr Reformansatz lasse sich auf die Formel bringen: Qualität sichern – Wirtschaftlichkeit stärken.
An diesen „Stellschrauben“ will die Bundesgesundheitsministerin drehen:
c Hausarzt als Lotse. Mit Beitragsvorteilen will Schmidt dafür sorgen, dass gesetzlich Krankenversicherte künftig zunächst ihren Hausarzt aufsuchen. Dies soll Kosten senken, weil die Behandlung durch den Lotsen Hausarzt besser zu koordinieren sei. Der fachlich geeignete Arzt soll einen gesonderten Hausarzttarif abrechnen können.
c Einzelverträge mit den Krankenkassen. Jeder Vertragsarzt soll in eigener Verantwortung mit den Krankenkassen Verträge abschließen können. Nach dem Kassenrecht verhandeln die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mit den Kassenarten über die regionale Honoraraufteilung und die Versorgungsstrukturen. Das Geld der Beitragszahler müsse der medizinischen Leistung folgen und nicht dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer KV, meinte die Ministerin.
c Fallpauschalen-Vergütung im ambulanten Bereich. Die Bezahlung der Vertragsärzte soll künftig mehr Anreize für wirtschaftliches Verhalten bieten. Eine Möglichkeit hierfür sei die Einführung leistungsbezogener Fallpauschalen, wie es sie bald auch für den Krankenhaussektor geben wird. Dies soll „medizinisch nicht notwendige Mengenausweitungen“ reduzieren.
- Werbung mit Fortbildung. Ärzte die sich stetig fortbilden, sollen mit dem erworbenen und dokumentierten Qualitätsstandard werben dürfen. Wer nicht an Fortbildungen teilnimmt, dem droht der Entzug der Kassenzulassung.
- Neue Hürde bei der Arzneimittelzulassung. Schmidt will eine unabhängige pharmako-ökonomische Bewertung für Arzneimittel einführen. Diese „vierte Hürde“ für Arzneimittel soll sicherstellen, dass höhere Preise für ein Präparat nur dann von der GKV bezahlt werden, wenn ein therapeutischer Mehrnutzen für die Patienten garantiert ist.
- Höhere Versicherungspflichtgrenze. Vorgesehen ist, die Versicherungspflichtgrenze der Krankenkassen anzuheben. Die Grenze markiert, ab wann ein Angestellter zu einer privaten Krankenversicherung wechseln darf. Durch eine höhere Grenze steigt die Zahl der Beitragszahler, und es fließt mehr Geld in die GKV.
- Gesundheitspass. Vorbereiten ließ Bundesgesundheitsministerin Schmidt bereits die Erweiterung der Krankenkassen-Chipkarte zu einem Gesundheitspass. Gespeichert werden sollen Informationen über den Gesundheitszustand des Versicherten, verschriebene Arzneimittel und durchlaufene Therapien. Ziel ist es, Doppeluntersuchungen und Parallelverordnungen zu vermeiden. In regionalen Pilotprojekten soll der elektronische Pass im nächsten Jahr erprobt und dabei sein Nutzen sowohl für die individuelle Behandlung der Patienten als auch unter Kostengesichtspunkten nachgewiesen werden.
- Versicherungsfremde Leistungen. Schmidt will Haushaltshilfen und die beitragsfreie Versicherung während des Erziehungsurlaubs aus dem GKV-Katalog herausnehmen und über Steuern finanzieren. Nicht ausgliedern will sie die beitragsfreie Familienversicherung, die häusliche Krankenpflege, Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie das Krankengeld bei Krankheit eines Kindes.
- Zusatzleistungen. Die Krankenkassen sollen die Möglichkeit erhal-
ten, ihren Mitgliedern preisgünstige Zusatzleistungen anzubieten. Hierzu könnte ein zusätzlicher Auslandskrankenschutz oder ein Anrecht auf ein Ein- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus gehören.
Keine ausführende Behörde
Eine deutliche Abfuhr erteilte Schmidt dem Vorschlag, den Kassenärztlichen Vereinigungen den Versorgungsauftrag für die flächendeckende medizinische Versorgung zu entziehen. Hintergrund: Die vom SPD-Vorstand einberufene Expertengruppe – ihr gehören die Professoren Karl Lauterbach, Gerd Glaeske, Bert Rürup und Jürgen Wasem an – plädiert in ihrem Gutachten „Weichenstellung für die Zukunft“ dafür, den Versorgungsauftrag auf die Krankenkassen zu übertragen. „Die Probleme werden auf diese Weise nicht gelöst“, sagte Schmidt, die somit den Sicherstellungsauftrag bei den KVen belassen, aber Direktverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zulassen will. Das Gutachten der Expertengruppe enthalte vieles von dem, was sie gemeinsam mit den Wissenschaftlern seit längerer Zeit diskutiere, unter anderem auch am „Runden Tisch“. Der Dialog zwischen allen Beteiligten sei ihr wichtig. Ein Seitenhieb: „Die Regierung ist keine ausführende Behörde für irgendwelche Experten.“
Schmidt sprach sich auch gegen den Rat der Experten aus, den Kontrahierungszwang der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzuheben. Für den Bereich der Krankenhausplanung sei dies nicht mit der Planungsautonomie der Länder vereinbar und führe deshalb zu einem Verfassungskonflikt.
Eine klare Absage erteilte die Bundesgesundheitsministerin auch dem (sehr realitätsfernen) Vorschlag der Gutachter, den GKV-Leistungskatalog in Zukunft durch den Bundestag definieren zu lassen und nicht mehr wie bisher durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. „Wir sollten die Politik beziehungsweise den Gesetzgeber nicht mit Einzelfragen der Medizin beschäftigen“, sagte Schmidt. Hier sei Problemnähe und Fachkompetenz der bessere Ratgeber.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, begrüßte, dass Schmidt die Übertragung des Sicherstellungsauftrags für die ambulante ärztliche Versorgung auf die Krankenkassen abgelehnt hat. Die KVen dürften nicht zum alleinigen Sündenbock gemacht werden. Diese seien Einrichtungen des Staates und könnten sich nicht selbst auflösen. Für problematisch hält Hoppe den Vorschlag, wonach die Krankenkassen Einzelverträge mit Ärzten abschließen können. Der Sicherstellungsauftrag funktioniere nur richtig oder gar nicht. Hoppe: „Wenn der Staat den Sicherstellungsauftrag beschneidet und damit letztlich aufhebt, müssen wir Ärzte darüber nachdenken, wie und auch ob wir den staatlichen Fürsorgeauftrag im Gesundheitswesen noch wahrnehmen können.“ Die Bundesärztekammer erwäge eine Urabstimmung, in der die Ärzte gefragt werden, ob sie lieber „als Einzelkämpfer, als Netzkämpfer oder als Angestellte“ tätig sein wollen. Einzelverträge schürten den Preiswettbewerb zulasten des Qualitätswettbewerbs.
KBV-Konzept zur integrierten Versorgung
Dr. Manfred Richter-Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), betonte, dass die ärztliche Selbstverwaltung funktioniere. Die KBV sei keineswegs ein Bremsklotz in der Systementwicklung, was unter anderem der Vorschlag zur integrierten Versorgung beweise. Zur Erläuterung: Am 30. November hat die KBV in einer Arbeitsgruppe des Runden Tisches ein Konzept zur integrierten Versorgung vorgelegt. Darin schlägt sie vor, den ambulanten und den stationären Sektor stärker miteinander zu verzahnen. Um die Verzahnung zu fördern, sollen die Krankenkassen auch Einzelverträge mit Ärzten und Krankenhäusern abschließen dürfen – allerdings immer unter Mitwirkung der KV. Im Gegenzug müsse der Gesetzgeber die Honorarbudgets abschaffen. Stattdessen sollen die KVen mit den einzelnen Krankenkassen Verhandlungen auf der Grundlage vereinbarter Leistungskontingente und fester Preise führen. Ein „Einkaufen“ einzelner Ärzte oder Arztgruppen dürfe es nicht geben. Die KBV plädiert für ein Ausschreibungsverfahren (dazu Beitrag in diesem Heft).
Der Vorsitzende der Barmer, Dr. Ekkart Fiedler, unterstrich in einer Diskussionsrunde beim Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass zumindest die Barmer nicht erpicht auf den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung sei. Die Gesamtverantwortung für die Qualität einer flächendeckenden Versorgung könne besser bei den KVen verbleiben: „Nur so können wir als Kassen die ärztliche Selbstverwaltung auf mangelnde Qualität in die Pflicht nehmen“, sagte Fiedler. Diskussionsleiter Karl Doemens, Korrespondent der Frankfurter Rundschau, brachte das Dilemma auf den Punkt: „Die Krankenkassen sollen also mehr Macht bekommen, aber wollen diese gar nicht haben.“
Auffallend „zahm“ präsentierte sich Florian Gerster in der Diskussion. Der Sozialminister von Rheinland-Pfalz, dem Ambitionen auf den Sessel von Ulla Schmidt nachgesagt werden, suchte den Schulterschluss mit der Bundesministerin. „Zwischen ihrem und meinem Konzept entdecke ich eine große Schnittmenge“, sagte Gerster. Er habe zuletzt „sehr lange“ mit Schmidt gesprochen. Zugleich deutete er an, in Kürze „eigene Überlegungen“ vorstellen zu wollen. Zum Thema Sicherstellungsauftrag meinte der Sozialminister, dass dieser ein Relikt aus Zeiten der Unterversorgung sei und auf einen „Rest öffentlicher Verantwortung“ reduziert werden könne. Seine Vision: Die Länder gewährleisten weiterhin die flächendeckende stationäre Versorgung, und die Kassenärztlichen Vereinigungen sind nur noch für die Sicherstellung im ländlichen Raum zuständig.
Die Bundesregierung habe den Kompass in der Gesundheitspolitik verloren, kommentierten Horst Seehofer (CSU) und Wolfgang Lohmann (CDU) das Reformkonzept von Ulla Schmidt. Ihre Vorschläge richteten sich ausschließlich auf einzelne Bereiche, ein schlüssiges Gesamtkonzept sei nicht zu erkennen. Offensichtlich wolle die Bundesregierung die Schmerzgrenze der Versicherten und der im Gesundheitswesen Beschäftigten testen. Eine Politik, die den Patienten dazu verpflichte, zuerst den Hausarzt aufzusuchen, um sich von diesem die Erlaubnis für eine Behandlung beim Facharzt zu holen, offenbare ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Urteilsvermögen und der Entscheidungskompetenz der Bürger. Auch Dr. Dieter Thomae, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, kritisierte die Pläne zur Einschränkung der Arztwahl. Wenn die Ankündigungen realisiert würden, müssten Geringverdiener künftig auf die freie Arztwahl verzichten. Dies beschränke ihre Rechte. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, lehnte einen obligatorischen elektronischen Gesundheitspass strikt ab. Zu groß seien die Gefahren des Missbrauchs bei einer Chipkarte, die alle persönlichen und krankheitsrelevanten Daten speichert. Dr. Ruth Fuchs, gesundheitspolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion, begrüßte die Ankündigung, dass keine „marktradikale Zerschlagung“ des solidarischen Systems geplant sei.
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) gingen die Reformvorschläge seiner Kabinettskollegin nicht weit genug. Er sprach sich für eine höhere Direktbeteiligung der GKV-Versicherten aus. Schmidt erteilte einer solchen „Teilprivatisierung des Krankheitsrisikos“ eine strikte Absage. Müller kann sich vorstellen, dass in der GKV Selbstbehalte eingeführt werden wie in der privaten Krankenversicherung (PKV). Zudem regte der Bundeswirtschaftsminister eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrundlage für die GKV an. Ulla Schmidt ist dagegen,
weil sie befürchtet, dass dann noch mehr GKV-Versicherte in die PKV abwandern. Jens Flintrop

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