THEMEN DER ZEIT
Stammzellforschung: Das Argument des Sokrates


Das Denken des modernen Menschen ist geprägt von den Abläufen der Technik. In der Rationalität der Technik ist das Verhältnis von Mittel und Ziel für alle klar. Gut ist ein technisches Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine Druckmaschine, wenn sie schnell und kostengünstig Papier bedruckt, und besser ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese Effizienz zu erhöhen vermag. Kein technisches Mittel hat einen Wert in sich, sondern es definiert sich allein über seine funktionale Brauchbarkeit.
Die Allgegenwart technischer und wirtschaftlicher Rationalität der Gegenwart stellt eine Herausforderung für das philosophische Nachdenken über menschliches Handeln dar, das Ethik genannt wird. Auch menschliches Handeln kennt Ziele ebenso wie Mittel zum Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es nicht auch in der Ethik so, dass mit der Festlegung eines Zieles die Auswahl der Mittel nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit darstellt? Wenn ein Ziel gut ist – kann es dann überhaupt noch ein anderes Kriterium für das Gutsein der Mittel geben als die Effizienz?
Das umfassende Gut-Sein
Um die Bedeutung der Thematik zu begreifen, empfiehlt es sich, einen Blick auf den berühmtesten Justizmord der Geschichte zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr. stattfand. Sein prominentes Opfer: der griechische Philosoph Sokrates. Der tragische Urteilsspruch gegen ihn beruhte auf vielerlei Gründen, zu denen das allgemeine Klima weltanschaulicher Unsicherheit und eine gewisse Unbeholfenheit der attischen Gesetze gehörten. Orientierungslos war Athen nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg vor allem dadurch geworden, dass seine öffentliche Moral zu einer gesellschaftlichen Konvention degeneriert war. Einen sichtbaren Beleg dafür bot die überragende Stelle der Sophisten, die Rhetorik und Manipulation an die Stelle objektiver Wahrheit gesetzt hatten. Durch sein kompromissloses, ja herausforderndes Verhalten gegen deren These von der bloßen Konventionalität der Moral galt Sokrates als unerhörter Provokateur. Sokrates wagte es, die scheinbar gesellschaftlich allgemein akzeptierte und gut legitimierte Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig im Namen allgemeingültiger Wahrheiten und Werte infrage zu stellen. Dies brachte ihm den Tod ein.
Früh hat man erkannt, dass der Tod des Sokrates mehr ist als einer der vielen bedauerlichen Justizirrtümer der Geschichte. Er ist ein bis heute gültiges Paradigma für eine Grundentscheidung in der Beurteilung sittlichen Handelns. Platon hat dies in seinem Dialog „Kriton“ zum Ausdruck zu bringen versucht. Dieser Dialog zwischen dem gleichnamigen Freund des Sokrates und dem Meister spielt in dessen Gefängniszelle, morgens vor Sonnenaufgang, zwei Tage vor der Hinrichtung. Im letzten möglichen Augenblick sucht Kriton seinen Freund auf, um ihn zur Flucht ins Ausland zu überreden; alles Notwendige dafür hat er schon in die Wege geleitet. Doch Sokrates lehnt ab.
In den unterschiedlichen Argumentationen des Kriton und des Sokrates angesichts des Problems „Fliehen oder bleiben?“ begegnen uns zwei grundsätzliche, konträre Sichtweisen für die Beurteilung menschlichen Verhaltens. Kriton argumentiert ganz vom übergeordneten (guten) Zweck her, der die Flucht als Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen soll. Man würde heute sagen: Kriton argumentiert „teleologisch“ oder „verantwortungsethisch“. Auf einen anderen Standpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn zählt nur die Frage, ob die Handlung selbst, die zur Debatte steht, also die Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt das unumstößliche Axiom: Man darf auf keine Weise Unrecht tun. Kein übergeordneter guter Zweck kann zur Legitimation eines Verhaltens dienen, das in sich betrachtet schlecht und ungerecht ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem Freund Kriton zu bedenken: „Man soll nicht einfach dem Leben den größten Wert beimessen, sondern dem Recht-Leben“1. Darum entscheidet sich Sokrates dafür, den Gesetzen nicht zu entfliehen und lieber den Tod zu erleiden, als ein Unrecht zu tun.
Sokrates ist zutiefst davon überzeugt, dass es in einer Entscheidungssituation für den Handelnden allemal besser ist, „Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt, um seine Ziele und Interessen durchzusetzen, ist das höchste Gut für den Menschen, sondern das umfassendere Gut-Sein der Seele. Die moralische Integrität einer menschlichen Handlung wird also durch das Erleiden eines Unrechts nicht beeinträchtigt, wohl aber durch jedes Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur den Bereich der Mittel betrifft. Das Unrechttun ist nicht nur deshalb schlecht, wenn der Handelnde sich dadurch an einer anderen Person vergeht, sondern es ist abzulehnen, weil der Handelnde sich selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit befähigtes Wesen ist, damit schädigt. Diese Sittlichkeit orientiert sich an Handlungsnormen, die absolut und allgemein gelten, ohne dass übergeordnete Zwecke diese Geltung relativieren könnten. Darum gibt es konkrete Handlungsforderungen und -verbote, die sich jeglicher Abwägung entziehen.
Solche Verbotsnormen zeigen Grenzen menschlichen Handelns an, die nicht überschritten werden dürfen. Ebenfalls wie für Sokrates sind für Aristoteles2 absolute Handlungsverbote menschliche Handlungen, die immer gelten. Weil sie objektiv schlecht sind, das heißt: sie sind unter allen Umständen sittlich verdorben, deshalb sollen sie immer und für jeden Fall unterlassen werden. Das gilt auch dann, wenn solche Handlungen durch hinzukommende, gut gemeinte Absichten beeinflusst werden. Die moralische Identität der absoluten Handlungsverbote kann durch keine dazukommende Absicht oder Folgenabschätzung neu beschrieben oder neu definiert werden. Sie bleibt resistent gegenüber allen hinzukommenden, gut gemeinten Überlegungen.
Tugend der Gerechtigkeit
Absolute Handlungsverbote beziehen sich auf bestimmte Handlungsweisen, die einen konkreten ethischen Kontext ausdrücken, die, wenn sie dennoch begangen werden, einen schweren Verstoß gegen eine oder mehrere Tugenden implizieren3. Ein absolutes Handlungsverbot wählen bedeutet, sich gegen eine bestimmte Tugend zu entscheiden. So wird etwa durch die gezielte Tötung eines Embryos zu Forschungszwecken die Tugend der Gerechtigkeit empfindlich getroffen. Mit der Entfernung der inneren Zellmasse des Embryos im Blastozystenstadium wählt der Arzt den Tod eines Menschen. Dieser Handlungsvollzug fällt immer unter die Intention des Tötens und prägt den Willen des Arztes. Er ist in sich betrachtet ein Akt der Ungerechtigkeit, weil er die Entscheidung für den Tod eines unschuldigen Menschen impliziert.
Die Tugend der Gerechtigkeit bedeutet ja vor allem, dass ich den anderen als mir Ebenbürtigen anerkenne. Die goldene Regel aber verbietet mir, dass ich dem Nächsten seine Existenz aberkenne: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Dieses Lebensrecht jeder Person ist die Grenze aller Güterabwägungen. Die Folgen einer solchen Handlung führen an erster Stelle zu einer Verformung im Willen des Handelnden selbst. Sollte sich diese Handlung wiederholen, bliebe eine dauernde Verformung des Gewissens nicht aus4.
Um diese Gefahr zu vermeiden, sollte eine bioethische Debatte stattfinden, die nicht fragt, wie sich die Menschen faktisch verhalten, sondern wie sie sich verhalten sollen. Medizinische Ethik zielt nicht darauf ab, ob eine Handlungsweise für richtig gehalten wird, sondern ob sie richtig ist, das heißt also, ob sie tatsächlich der menschlichen Würde dient. Das Argument des Sokrates bleibt aktuell. In der bioethischen Debatte geht es im Wesentlichen um dasselbe Problem wie damals: Es geht um die Frage nach der Absolutheit und Allgemeingültigkeit von Handlungsnormen angesichts von übergeordneten Zielsetzungen, die diese Normen scheinbar relativieren. Und ganz konkret geht es um die Frage, ob der Grundsatz, „dass man niemals die Tötung eines Unschuldigen als Mittel zu einem anderen Zweck anstreben oder wählen darf“5, zu diesen unantastbaren ethischen Grundsätzen zählt.
Das Ziel medizinischer Ethik zu formulieren scheint einfach zu sein: Es handelt sich, so lautet ein überzeugender Vorschlag, um eine „Ethik des Heilens“. Die Formel klingt überzeugend. Niemand wird bezweifeln, dass etwa im Blick auf einen Parkinson-Kranken die Heilung genau dieses Leidens für den Arzt eine ethisch gute Tat ist. Nun aber muss auch über die konkrete Umsetzung des ethischen Leitsatzes nachgedacht werden. Damit steht man vor dem entscheidenden Schritt in der aktuellen Stammzelldiskussion.
Beim Umgang mit Embryonen hat man es mit einer Handlung zu tun, die in sich selbst beurteilt werden muss, weil sie ein Objekt betrifft, das stets in sich, in seinem Eigenwert, und niemals bloß als Mittel fremder Zwecke zu betrachten ist. Denn mit der Vereinigung der beiden Vorkerne von Ei- und Samenzelle ist die genetische Identität des neu entstandenen menschlichen Lebens fixiert. Damit ist seine Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies festgelegt. Seine Sonderstellung liegt im einzigartigen Chromosomensatz begründet, der das inhärierende Potenzial einer kontinuierlichen Entwicklung in sich vereint. Somit kommt dem Embryo in vollem Umfang Menschenwürde zu. Jede andere Position würde eine Instrumentalisierung der Menschenwürde bedeuten.
Die Würde des Menschen
Erst in der ganzheitlichen, Ziel und Mittel in ihrem untrennbaren Zusammenhang berücksichtigenden Betrachtung wird medizinische Ethik ihrem Anspruch gerecht, „Ethik des Heilens“ zu sein. Denn auch der Heilungswille darf den Arzt nicht dazu veranlassen, die ethische Betrachtung einer Handlung am Maßstab einer aspekthaften, am Paradigma der Technik ausgerichteten Zweckrationalität vorzunehmen. In der Technik kann das Mittel zur reinen Funktion erklärt werden, ohne dass man den Gesamtprozess falsch einschätzt.
Menschliches Handeln dagegen ist nur dann gut, wenn das gute Ziel auch durch solche Mittel verwirklicht wird, die in sich der Würde des Menschen, den man behandelt, nicht widersprechen. Behandelt wird aber nicht nur der Patient, sondern auch der ungeborene Mensch, dessen Körpermaterial man benutzen will. Therapeutisches Handeln ist wie jedes Handeln nur dann „gut“ im umfassenden Sinne, wenn darin der Mensch in jedem Stadium seiner Existenz davor geschützt wird, zum bloßen Mittel erklärt und damit als Person negiert zu werden. Nur wenn der Arzt in diesem größeren Sinne „gut“ handeln will, tut er etwas, das ihn selbst erfüllen kann.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 271–272 [Heft 5].
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld
Universitätsklinikum Charité
Ethik-Kommission des Virchow-Klinikums. Lehrgebäude
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Riedl, Günther