MEDIZIN
Serie - Alkoholismus: Moderater Alkoholkonsum - Gesundheitsförderlich oder schädlich?
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Die Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmortalität ist in etablierten Marktwirtschaften J-förmig. Dies bedeutet, dass Abstinente und starke Trinker ein höheres Mortalitätsrisiko aufweisen als moderate Trinker. Als Erklärung für diese Beziehung kann die positive Wirkung von moderatem Alkoholkonsum (10 bis 30 g pro Tag) auf ischämische Herzkrankheiten und ischämische Schlaganfälle dienen. Neben diesen protektiven Effekten weist moderater Alkoholkonsum allerdings auch Krankheitsrisiken auf. Fast alle systematischen Metaanalysen der letzten Jahre haben gezeigt, dass moderates Trinken mit bis zu zweifach erhöhten Risiken für Verdauungskrankheiten einhergeht (zum Beispiel bösartige Neubildungen, chronische und/oder entzündliche Krankheitsprozesse). Da die Gesundheit einer Bevölkerung nicht nur durch die Mortalität, sondern insbesondere auch durch Morbidität und Behinderungen definiert wird, gilt es dieses in Untersuchungen, deren Analysen und insbesondere deren Schlussfolgerungen zu berücksichtigen, da Alkoholkonsum wesentlich negativ stärker mit Morbidität und Behinderungen verbunden ist als mit Mortalität. Es wird eine Übersicht zu relevanten Ergebnissen der Forschung in Hinblick auf moderaten Alkoholkonsum gegeben. Dabei geht es nicht um Konsequenzen hinsichtlich einzelner Krankheiten, sondern um den Versuch einen kritischen Überblick zusammenfassender Indikatoren zu Mortalität und Morbidität zu geben.
Schlüsselwörter: moderater Alkoholkonsum, Mortalität, Morbidität, Behinderung, Epidemiologie
Summary
Moderate Alcohol Consumption: Effects on Morbidity and Mortality
The relationship between alcohol consumption and all-cause mortality is J-shaped in most industrialized countries. The J-shape is the
result of the combination of adverse and beneficial effects of alcohol consumption. Adverse effects include several types of cancer, other
diseases of the aerodigestive tract, diseases of the heart, addiction related mental disorders, and accidents and injuries. Beneficial effects are seen in ischaemic heart disease and ischaemic stroke. Because the public health is not only defined by mortality but in particular by morbidity and impairments (disabilities), it is absolute indispensable to consider this association in further investigations and especially in the conclusion of these studies. It has been shown that alcohol consumption has substantially more negative effects on morbidity and disabilities than on mortality. Public health policies should aim to reduce the harm done by alcohol use, whilst recognizing its real and perceived benefits. The aim of the present critical review is to summarize the effect of (moderate) alcohol consumption on the public health. Special regard is given to the effects of alcohol consumption on mortality and morbidity of a population and to the methodology of the performed epidemiological studies.
Key words: moderate alcohol consumption, morbidity, mortality, handicap, epidemiology
Alkohol (Äthanol) – auch in Form eines Getränkes – ist kein Medikament. Auch Wein nicht – darüber sollte uns eine noch so einseitige Werbung („Das tägliche Gläschen Wein schützt Herz und Kreislauf; „Die frohe Botschaft vom gesunden Wein“) nicht hinwegtäuschen. Auch wenn alkoholische Getränke für viele Deutsche Bestandteil des täglichen Lebens sind, erlaubt dies noch keine positiven Aussagen bezüglich der Gesundheit.
Die Wirkung von Alkohol ist ambivalent: Auf der einen Seite erleichtert er soziale Kontakte, verursacht aber gleichzeitig weitreichende soziale und gesundheitliche Probleme, die sehr oft verdrängt werden. In einer Gesellschaft wie der bundesrepublikanischen, die hinsichtlich des Alkoholkonsums eher den „Permissivkulturen“ zuzuordnen ist, das heißt Alkoholkonsum ist erlaubt, Trunkenheit und andere pathologischen Erscheinungen des Alkoholkonsums (zum Beispiel Lenken von Fahrzeugen unter Alkoholeinfluss) werden abgelehnt, werden die schädigenden gesundheitlichen Folgen sehr schnell mit Alkoholmissbrauch, nicht aber mit dem so genannten sozialen (moderaten) Trinken in Verbindung gebracht. Ärzte und Wissenschaftler, die auf diese weniger schönen Folgen des moderaten Alkoholkonsums hinweisen, werden sehr schnell in die Ecke der Abstinenzler, Spielverderber und Kassandras gestellt – stören sie doch die kollektive Verdrängung und die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller von alkoholischen Getränken.
Bislang ist es üblich, die Verantwortung für die Alkoholfolgeschäden ausschließlich dem Individuum zuzuordnen. Die Auswirkungen einer massiven Werbung für alkoholische Getränke hingegen werden als marktkonform angesehen. Das Trinken von Alkohol ist nicht nur die alleinige Angelegenheit eines Individuums, sondern betrifft auch den Verbraucherschutz. In diesem Sinne hat die Bundesregierung vor einigen Jahren bereits ein Forschungsvorhaben zu dem Thema „Alkoholkonsum und Krankheiten“ in Auftrag gegeben, das im Jahr 2000 in der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit (4) veröffentlicht worden ist. Die Ergebnisse der dort publizierten Analysen stehen in deutlichen Widerspruch zu den Werbeaussagen der Getränkehersteller.
Was ist aus gesundheitlicher Sicht das „rechte“ Maß, was „Übermaß?“ Dafür kann es – trotz aller epidemiologischen Daten – nur eine individuelle Antwort geben. Die Risiken sind individuell so unterschiedlich, dass sich verallgemeinernde Empfehlungen verbieten. Im Nachfolgenden wird die derzeitige Datenlage bezüglich der Definition des moderaten Alkoholkonsums gegeben und einige seiner gesundheitlichen Auswirkungen unter wissenschaftlichen Kriterien analysiert (1) sowie einige noch offene Fragen benannt. Die Überlegungen stehen in engem Zusammenhang mit den bereits im Rahmen dieser Serie veröffentlichten Ausführungen über die gesicherten Organschäden bei Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit.
Moderater Alkoholkonsum
Der Terminus „moderat“ stammt vom Lateinischen „moderare“, was übersetzt „zurückhalten, kontrollieren, unterdrücken“ heißt (4, 7). Unter diesem Begriff wird eine Alkoholmenge verstanden, deren Konsum nicht schädlich für den Organismus ist. Eine moderate Alkoholaufnahme ist diejenige Menge, bei der die Morbiditäts- und Mortalitätsrate am geringsten ist. In den verschiedenen Ländern und Kulturkreisen wird moderater Alkoholkonsum als sehr unterschiedlich definiert, die Angaben variieren zwischen 2,7 und 182 g Alkohol pro Tag (4), entsprechend einer Konsummenge von bis zu mehr als 2 L Wein am Tag! Unter gesundheitlichen Aspekten kann die zuletzt genannte Alkoholmenge mit Sicherheit als schädigend angesehen werden.
In Deutschland wird unter einem moderaten, also gesundheitlich unbedenklichen Alkoholkonsum ein täglicher Alkoholkonsum für Männer bis 40 g und für Frauen bis 20 g angegeben (2, 5).
Die Angaben schwanken aber auch hier je nach Institution (Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Deutschen Initiative zur Förderung eines verantwortungsvollen Umganges mit alkoholhaltigen Genussmitteln) um mehr als 100 Prozent (bei Männern zwischen weniger als 17 bis 40 g und bei Frauen zwischen weniger als 12 bis 20 g Alkohol pro Tag), (17). Die WHO definierte 1997 „moderat“ mit 10 bis 30 g Alkohol pro Tag und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) 1999 mit 20 g Alkohol pro Tag (8). Entsprechend dem jeweiligen Alkoholgehalt der verschiedenen Getränketypen entspricht eine Menge von 20 g Alkohol pro Tag etwa 0,5 L Bier, 0,2 L Wein oder 0,06 L Spirituosen.
Da in vielen epidemiologischen Studien die Schlussfolgerungen auf die pro Tag oder Woche konsumierten „Standarddrinks“ beruhen wird hier kurz auf die unterschiedliche Definitionen eines Standarddrinks hingewiesen. Diese liegen bei 8 bis 13,6 g Äthanol pro Drink und weisen somit Spannweiten von fast 100 Prozent auf. Nach dem International Center for Alcohol Policies von 1998 wird 10 g reiner Alkohol als „Standarddrink“ verwandt, das heißt als zugrunde liegende Maßeinheit für Alkoholkonsum (15, 16).
Es gibt nur sehr wenig wissenschaftlich gesicherte Aussagen über die Wirkung eines moderaten täglichen Alkoholkonsums auf die Gesundheit des Menschen. Die meisten Publikationen beschäftigen sich mit dem kardiovaskulären System.
Die bisherigen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein geringer bis moderater Alkoholkonsum von 10 bis 30 g pro Tag einen protektiven Effekt auf die koronare Herzkrankheit (19) und den ischämischen Schlaganfall besitzt (16). Diese Wirkung scheint aber nur dann protektiv zu sein, wenn keine anderen Risikoerkrankungen wie Herzrhythmusstörungen, arterieller Hypertonus und Stoffwechselstörungen vorliegen und gilt bei Personen ab dem 50. Lebensjahr. Dabei wurde kein signifikanter Unterschied zwischen einzelnen Getränkearten (Bier, Wein und Spirituosen) bezüglich ihrer Wirkung auf das Erkrankungsrisiko festgestellt. Voreilige Rückschlüsse, dass durch moderaten Alkoholkonsum und seine Effekte auf das kardiovaskuläre System die Mortalität der Gesamtbevölkerung um circa drei bis vier Prozent gesenkt werden könnte (19), sind mit Vorsicht zu interpretieren, da sie vielfach das Ergebnis einer einseitigen Auswahl und Darstellung von Teilaspekten umfangreicher Untersuchungen zu diesem hinsichtlich Ursache und Wirkung komplexen Gebiet sind. Dabei wird oft nicht die wissenschaftliche Aussagekraft solcher Berichterstattung überprüft.
Mit Ausnahme des Herzens und der Gefäße hat moderater Alkoholkonsum sehr wahrscheinlich auf alle anderen Organe beziehungsweise Organsysteme keine protektive sondern eher eine gesundheitsschädigende Wirkung (1, 15).
Alkohol ist ein Kokarzinogen. Wurde bislang ein erhöhtes Karzinomrisiko nur mit einem hohen Alkoholkonsum (mehr als 80 g pro Tag) in Verbindung gebracht, zeigen neuere Studien, dass selbst moderater Alkoholkonsum mit einem bis zum Zweifachen erhöhten Risiko einhergeht, an einem Karzinom des Aerodogestivtrakts (Oropharynx, Larynx, Ösophagus) zu erkranken. Bereits der tägliche Konsum von einem „Drink“ (10 g Alkohol) erhöht das Risiko, an einem Malignom zu erkranken um bis zu 30 Prozent (9). Das Risiko wird durch gleichzeitigen Nikotinkonsum addiert beziehungsweise potenziert.
Alkohol in der Schwangerschaft ist die häufigste und bedeutsamste teratogene Noxe und eine der häufigsten nichtgenetischen Ursachen einer geistigen Retardierung bei Kindern. Selbst moderater Alkoholkonsum kann Langzeitfolgen für die körperliche und geistige Entwicklung des Fetus haben. Aus wissenschaftlicher Sicht kann keine nichttoxische Schwellendosis definiert werden. Schwangeren Frauen ist daher unbedingt zur Alkoholabstinenz zu raten (10).
Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen, die eine hepatotoxische Schwellendosis bei 40 g Alkohol pro Tag nahe legten, zeigen neuere Daten, dass das Risiko an einer Leberzirrhose zu erkranken bereits bei deutlich geringeren Alkoholmengen ab 24 g pro Tag bei Männern und ab 12 g bei Frauen erhöht ist (3, 18). Für Patienten mit einer Hepatitis-C-Infektion ist selbst moderater Alkoholkonsum schädlich, da durch das gleichzeitige Trinken von Alkohol die Virämie ansteigt und die Hepatitis-C-Infektion deutlich progressiver verläuft (18).
Über die Wirkungen vom moderaten Alkoholkonsum auf andere Organe beziehungsweise Organsysteme, wie zum Beispiel den Gastrointestinaltrakt, die endokrinen Drüsen, Nieren, das Immunsystem, die Blut bildenden Organe, lässt sich zurzeit nur spekulieren, da kontrollierte Studien nicht zur Verfügung stehen.
Langzeitstudien gefordert
Es besteht also ein erheblicher Forschungsbedarf auf diesem Gebiet. Nicht nur Querschnittsstudien, sondern vor allem prospektive Langzeitstudien sind erforderlich, die Trinkmuster, Abstinenzperioden während des moderaten Alkoholkonsums, Lebensstil, Ernährung und organische Begleiterkrankungen erfassen. Die Studien müssen speziell zu dieser Fragestellung konzipiert sein. Dabei sollten nach Möglichkeit die nachstehend aufgeführten Kritikpunkte an den bisherigen Studien berücksichtigt werden (4, 15, 16):
- Es handelt sich meistens um wenige Fall-Kontroll-Studien und um prospektive Kohortenstudien, die den größten Anteil der Untersuchungen ausmachen.
- Lebensstilfaktoren, wie zum Beispiel ein gesundheitsbewußter Lebensstil mit einer vollwertigen Ernährung, regelmäßiger körperlicher Aktivität und Rauchabstinenz, die insbesondere bei den kardiovaskulären Erkrankungen eine große Rolle spielen, wurden in den Studien nur selten berücksichtigt.
- In einigen Studien fehlen insbesondere die Angaben zu den Alkoholgehalten eines Getränkes („Drinks“) beziehungsweise einer Einheit (Unit). Wie bereits erwähnt, finden sich sehr divergierende Definitionen des moderaten Alkoholkonsums.
- Bei fast allen Studien mit detaillierter Unterteilung in verschiedene Alkoholzufuhrkategorien weisen besonders die höchsten Konsumgruppen nur unzureichende Probandenzahlen auf.
- Es gibt nur sehr wenige Untersuchungen, in denen die konsumierten Alkoholmengen auf das Körpergewicht angegeben wurden. Ferner werden nur in seltenen Fällen die Trinkgewohnheiten der Personen angegeben. So ist oft unklar, ob ein massiver, periodisch auftretender Alkoholkonsum („binge-drinking“) oder ein täglicher Alkoholkonsum einer bestimmten Alkoholmenge und/oder Getränkeart vorliegt. Veränderungen im Trinkverhalten über die Jahrzehnte wurden nicht berücksichtigt, ebenso keine längeren Abstinenzperioden. Ferner erfolgte keine strikte Differenzierung zwischen lebenslang Abstinenten, Kurzzeitabstinenten und Ex-Trinkern in den Kontrollgruppen.
Neben dieser methodischen Kritik ist aber noch folgende grundsätzliche Kritik zu berücksichtigen, ehe Rückschlüsse für die Gesundheit der Bevölkerung gezogen werden können (15, 16):
- Fast alle epidemiologischen Studien haben die „Mortalität“ als einfachen, gut messbaren Zielparameter. Damit werden aber die durch Alkohol entstehenden Belastungen für das Gesundheitswesen nur unzureichend erfasst. „Morbidität inklusive Behinderungen“ sowie „indirekte negative Auswirkungen“ des Alkoholkonsums auf das Umfeld, das heißt die Familienangehörigen und Freunde des Alkohol konsumierenden Menschen, aber auch auf fremde Menschen, die zum Beispiel in den Unfall verwickelt sind, wurden bislang nur selten oder nicht berücksichtigt.
Die Morbidität (inclusive Behinderungen) und die indirekten negativen Effekte sind sehr wahrscheinlich für die Beurteilung der Auswirkungen des moderaten Alkoholkonsums auf die Gesundheit der Bevölkerung entscheidend. Die direkten und indirekten Folgen des gesamten Alkoholkonsums wurden in Zusammenarbeit mit der WHO erstmals 1997 im Rahmen der Global Burden of Disease Study berücksichtigt (12–14).
Grundidee dieser Studie war die Erstellung eines einzigen Indikators, des „Disability Adjusted Life Years“ (DALYs), der sowohl Mortalität als auch Morbidität beziehungsweise gesundheitsbedingte Behinderungen kombiniert. Drei verschiedene Effekte des Alkoholkonsums wurden unterschieden: Der negative Einfluss von Alkohol auf Unfälle und Verletzungen, die negativen Folgen von Alkohol auf Krankheiten und die positive Wirkung auf ischämische Herzkrankheiten. Alkohol wurde als Ursache von 3,5 Prozent der globalen Belastung mit Krankheiten identifiziert, als Ursache von 2,2 Prozent der Mortalität, 2,5 Prozent aller durch frühzeitige Mortalität verlorenen Lebensjahre und sechs Prozent aller durch Behinderung verlorenen Lebensjahre. Das heißt, der relative Einfluss von Alkohol auf Behinderungen wurde als sehr viel wichtiger beurteilt als der relative Einfluss auf die Mortalität.
Diese Resultate und andere Ergebnisse (zum Beispiel sind 15,6 Prozent aller durch Behinderung verlorenen Lebensjahre in etablierten Marktwirtschaften durch Alkohol verursacht [2, 6]) verdeutlichen eindrücklich, dass Alkohol mehr Einfluss auf nichttödliche Krankheiten hat als auf die Mortalität, sodass die negativen Folgen des Alkoholkonsums stärker mit Morbidität und Behinderungen verbunden ist als mit Mortalität.
Wenn man gesellschaftliche Reaktionen auf Alkoholkonsum miteinbezieht und das Missbrauchsrisiko mit dem schleichenden Übergang vom moderatem zum problematischen Trinkverhalten (langfristig in circa 15 Prozent der Fälle) mitberücksichtigt, so sollten zukünftige Studien immer die Gesamtperspektive von Alkoholkonsum und seinen negativen wie positiven Folgen im Auge haben. Eine solche Vernachlässigung der alkoholbedingten Morbidität und Behinderungen lässt sich zwar mit der einfacheren Verfügbarkeit von Mortalitätsdaten erklären, ist aber unter Berücksichtigung der Gesundheit der Bevölkerung nicht verantwortbar (16).
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht aufgrund der aktuellen Datenlage ziehen?
Ergebnisse aus epidemiologischen Studien über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von moderatem Alkoholkonsum sollten von Produzenten und Verbrauchern alkoholischer Getränke genauso vorsichtig interpretiert werden wie von den Forschern. Mit Sicherheit belegen sie nicht, dass Alkoholkonsum – und sei er auch moderat – die Gesundheit fördert. Im besten Fall reduziert er das relative Erkrankungsrisiko für einzelne Erkrankungen wie die koronare Herzerkrankung und den ischämischen Schlaganfall. Eine ausschließlich die positiven Effekte berücksichtigende Betrachtungsweise lässt die beträchtlichen gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen eines regelmäßigen Alkoholkonsums außer Acht. Sie verbietet sich daher aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht.
Keine allgemeine Empfehlung möglich
Zudem erlaubt die aktuelle Datenlage keine gesicherte allgemeine Empfehlung zum moderaten Alkoholkonsum. Hierzu besteht ein erheblicher Bedarf an epidemiologischer und medizinischer Forschung bezüglich der gesundheitlichen Langzeitwirkungen bei moderatem Alkoholkonsum.
Es ist eine Binsenweisheit, dass aus epidemiologischen Ergebnissen nicht konkrete Empfehlungen für das individuelle Gesundheitsverhalten abzuleiten sind. Bei Alkoholkonsum sind aber die individuellen Risiken wie genetische Prädisposition, Neigung zur Alkoholsucht, gleichzeitig bestehende Erkrankungen und Umweltfaktoren von besonderer Wichtigkeit, dass sich allein von daher eine solche Allgemeinempfehlung verbietet.
Die Ergebnisse der Global Burden of Diseases Study belegen eindeutig, dass mit der alleinigen Erfassung der Mortalität der gesellschaftliche Gesamtschaden des Alkoholkonsums nur unzureichend erfasst wird. Die Morbidität, die Behinderungen und die indirekten negativen Wirkungen des Alkoholkonsums müssen berücksichtigt werden.
Die Aussagen über die Auswirkungen vom moderaten Alkoholkonsum dürfen nicht isoliert erfolgen, sondern müssen in den Gesamtkontext des Alkoholkonsums einer Gesellschaft gestellt werden. Die epidemiologischen Hinweise, dass moderater Alkoholkonsum bei über 50-Jährigen zu einer Risikoverminderung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ischämischen Schlaganfällen führt, eignen sich aus den genannten Gründen nicht dazu, die Bevölkerung zum täglichen Trinken von einem 0,25 L Wein oder ein bis zwei Gläsern Bier von 0,3 L aufzufordern. Eine solche Aufforderung würde außer Acht lassen, dass bereits der tägliche Konsum dieser Alkoholmengen mit einem erhöhten Risiko einhergeht, eine alkoholischen Folgeerkrankungen zu erleiden.
Die sicherlich für viele überraschenden Ergebnisse eines erhöhten Erkrankungsrisikos durch moderaten Alkoholkonsum für zum Beispiel maligne Tumoren, arteriellen Hypertonus und Lebererkrankungen hat zu Überlegungen geführt, die risikoarme maximale Alkoholtrinkmenge für Gesunde zu reduzieren. Frauen sollten nicht mehr als 10 g Alkohol pro Tag und Männer nicht mehr als 20 g Alkohol pro Tag trinken.
Für den Einzelnen kann folgende Erkenntnis hilfreich sein: Das Trinken von Alkohol – selbst in moderaten Mengen – ist mit einem gewissen Gesundheitsrisiko verbunden. Dieses gesundheitliche Risiko steigt zwar deutlich mit der konsumierten Alkoholmenge, ist aber selbst bei Genuss von einem Glas Wein oder Bier täglich vorhanden. Weniger Alkohol ist besser, mehr Alkohol birgt mehr Risiken. Ein risikofreies Alkoholtrinken gibt es nicht.
Dass Lebensfreude und -genuss auch ohne das Trinken von Alkohol vollkommen sein können, hat man auch schon vor mehr als 100 Jahren gewusst, wie ein Auszug aus der Rektoratsrede des Marburger Pharmakologen H. Meyer (11) von 1895 beweist: „Der Genuss von Alkohol ist in keinen Falle unentbehrlich, weder für Kopf- noch Handarbeiter; und dass die gänzliche Enthaltung davon persönliches Wohlbefinden und Lebensglück um keinen Deut schmälert: den sprechenden Beleg dafür liefern in Einmütigkeit die Millionen Abstinenten.“
Manuskript eingereicht: 29. 1. 2001, revidierte Fassung angenommen: 14. 4. 2001
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1103–1106 [Heft 16]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschriften der Verfasser:
Prof. Dr. med. Manfred V. Singer
Universitätsklinikum Mannheim
II. Medizinische Klinik
Theodor-Kutzer-Ufer 1, 68167 Mannheim
E-Mail: manfred.v.singer@med.
ma.uni-heidelberg.de
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen
Medizinische Klinik
Krankenhaus St. Joseph-Stift Bremen
Schwachhauser Heerstraße 54, 28209 Bremen
E-Mail: STeyssen@sis-bremen.de
In der Serie Alkoholismus sind insgesamt erschienen:
Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]
Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]
Alkoholassoziierte Organschäden
Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und
Geburtshilfe/Neonatologie
Prof. Dr. med. Manfred V. Singer,
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]
Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Karl F. Mann
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]
Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
Frühdiagnostik und Frühintervention in der Praxis
Prof. Dr. phil. Ulrich John
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2438–2442 [Heft 38]
Beziehung von Alkoholismus, Drogen
und Tabakkonsum
Priv.-Doz. Dr. med. Anil Batra
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2590–2593 [Heft 40]
Psychische und soziale Folgen chronischen
Alkoholismus
Prof. Dr. med. Michael Soyka
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2732–2736 [Heft 42]
Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen
Von der Behandlungskette zum Behandlungsnetz
Prof. Dr. med. Karl F. Mann
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 632–644 [Heft 10]
Alkoholabhängigkeit bei jungen Menschen
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 787–792 [Heft 12]
Epidemiologische und ökonomische Aspekte des Alkoholismus
Dr. phil. Dipl.-Psych. Heinrich Küfner,
Dr. phil. Dipl.-Psych. Ludwig Kraus
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 936–945 [Heft 14]
1.
Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten. Grundlagen – Diagnostik – Therapie (Hrsg.: Singer MV, Teyssen S). Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag 1999.
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2. | Alkoholismus – Missbrauch und Abhängigkeit. Entstehung – Folgen – Therapie (Hrsg.: Feuerlein W, Küfner H, Soyka M). 5. überarbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1998. |
3. | Becker U, Deis A, Sorensen TIA, Gronbaek M, Borch-Johnsen K, Müller CF, Schnohr P, Jensen G: Prediction of risk of liver disease by alcohol intake, sex, and age: a prospective population study. Hepatology 1996; 23: 1025–1029. MEDLINE |
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9. | Longnecker MP, Enger S: Epidemiologic data on alcoholic beverage consumption and of cancer. Clinica Chimica Acta 1996; 246: 121–141. MEDLINE |
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11. | Meyer H: Für und wider den Alkohol. Ein Vortrag vor der Fakultät der Universität Marburg. N.G. Elwert´sche Verlagsbuchhandlung 1895. |
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13. | Murray C, Lopez A: Mortality by cause for eight regions of the world: global burden of disease study. Lancet 1997; 349: 1269–1276. MEDLINE |
14. | Murray C, Lopez A: Regional patterns of disability-free life expectancy and disability-adjusted life expectancy: global burden of disease Study. Lancet 1997; 349: 1436–1442. MEDLINE |
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16. | Rehm J: Alkoholkonsum und Gesamtmortalität und Morbidität – Gibt es positive Auswirkungen eines moderaten regelmäßigen Alkoholkonsums? In: Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten. Grundlagen – Diagnostik – Therapie (Hrsg.: Singer MV und Teyssen S).Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag 1999; 552–561. |
17. | Rosta J: Education messages by mass media campaigns in Denmark and Germany (1999–2000). A comparison. Paper presented at the „European Symposium on Community Action to Prevent Alcohol Problems“, WHO/ENLAPRE, Porto, Portugal, 18–19–20 November 1999. |
18. | Schiff ER: Hepatitis C and alcohol. Hepatology 1997; 26 (suppl 1), 39–42. MEDLINE |
19. | Thun MJ, Peto R, Lopez DA, Monaco JH, Henley J, Heath CW, Doll R: Alcohol consumption and mortality among middle-aged and elderly US adults. N Engl J Med 1997; 337: 1705–1714. MEDLINE |
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