ArchivDeutsches Ärzteblatt17/2002Medizinische Klassifikationssysteme: Alltagstaugliche Werkzeuge

THEMEN DER ZEIT

Medizinische Klassifikationssysteme: Alltagstaugliche Werkzeuge

Hölzer, Simon; Dudeck, Joachim; Schweiger, Ralf

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Abbildung 1: ICD- 10-Suchformular
Abbildung 1: ICD- 10-Suchformular
Der standardisierte elektronische Informationszugriff über
das Internet kann Dokumentationsvorgänge unterstützen und die Integration in Krankenhaussoftware erleichtern.

Eine einheitliche und konsistente Kodierung von Diagnosen und Prozeduren in der Medizin stellt die Basis medizinischer Erkrankungs- und Leistungsstatistik (1). Die Dokumentation von Grund- und Folgeerkrankungen und der hierzu in Beziehung stehende Versorgungsaufwand werden durch die Einführung fallbezogener Vergütungssysteme sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor immer wichtiger. Derzeit gehen jedoch gesetzliche und betriebswirtschaftliche Auflagen an der Dokumentationspraxis auf der Ebene der Leistungserbringung häufig noch vorbei. So ist eine möglichst vollständige und plausible Dokumentation ohne medizinische Kenntnisse zum individuellen Fall kaum möglich. Daher muss das ärztliche und pflegerische Personal zeitnah notwendige Daten erfassen und kodieren oder geschultes Personal (Medizinische Dokumentare) die entsprechenden Krankenakten aufarbeiten. Zur Bewältigung dieser Aufgaben ist eine informationstechnische Infrastruktur erforderlich, die dazu beiträgt, die Qualität und den zeitlichen Aufwand der Dokumentation zu optimieren. Diese Infrastruktur schließt von der Erstellung und inhaltlichen Pflege der Klassifikationen bis zur Umsetzung und Dateneingabe alle Ebenen ein.
Aufbau und Pflege von Klassifikationssystemen
Am Beispiel der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lässt sich zeigen, wie künftige Lösungen der elektronischen Repräsentation und Integration hierarchischer Klassifikationssysteme aussehen können. Die ICD-10 wird von der WHO in englischer Sprache gepflegt und von nationalen Organisationen übersetzt und gegebenenfalls auf landestypische Gegebenheiten oder im Hinblick auf spezielle Bedürfnisse angepasst. In Deutschland stellt das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln, die deutsche Übersetzung bereit und arbeitet diese soweit auf, dass unterschiedliche elektronische Formate zur weiteren Verwendung verfügbar sind (2).
Damit stehen die Inhalte der ICD-10 zusätzlich zur Wiedergabe im Printmedium für die Integration und Weiterverarbeitung in Anwendungssoftware bereit. Das DIMDI hat zu den Standard-Textformaten (ASCII, Word) auch eine hoch strukturierte Version entwickelt, die auf der Standardized General Mark-up Language (SGML) basiert. Mit dieser Struktur können der gesamte Informationsgehalt und die formale Logik repräsentiert werden. Dies umfasst unter anderem:
- Kodes einschließlich deren Hierarchie (Beziehungen) und den entsprechenden medizinischen Begriffen;
- Kapitel, Gruppen und Untergruppen mit Bezeichnungen und Kapitelgrenzen;
- Interne Querverweise und Abhängigkeiten;
- Kreuz/Stern-System;
- Inklusiva, Exklusiva, Fußnoten, allgemeine und kodespezifische Erläuterungen.
Mit der Wahl von SGML als Datenformat hat man eine ideale Lösung gefunden, um Struktur, Inhalt und auch inhaltliche Bedeutung (so genannter semantic markup) abzulegen. Gleichzeitig erfolgt eine Trennung von der späteren Präsentation dieser Inhalte. Parallel zu diesen Bemühungen des DIMDI hat sich in den vergangenen Jahren auf Anwendungsebene die eXtensible Markup Language (XML) entwickelt. XML hat sich in kurzer Zeit als Format zur Übertragung strukturierter Dokumente – basierend auf Internet-Technologien – etabliert und gegenüber der „Muttersprache“ SGML durchgesetzt (3, 4). Gemäß der Grundidee von SGML werden hier nicht primär Informationen zur Darstellung eines Dokuments hinterlegt, sondern die Textinhalte können bezeichnet (zum Beispiel Kode, Kapitel, Erläuterung, Inklusiva), hierarchisch strukturiert und untereinander verknüpft sein, sodass der Nutzer Informationen gezielt auffinden und darstellen kann (zum Beispiel als Tabelle von Kodes und Inklusiva).
Abbildung 2: Webbasierte Form des systematischen Verzeichnisses der ICD-10
Abbildung 2: Webbasierte Form des systematischen Verzeichnisses der ICD-10
Repräsentation in XML
Eine Möglichkeit der Nutzung vorstrukturierter Originalressourcen der ICD-10 (zum Beispiel der SGML-Dateien des DIMDI) besteht somit in der Überführung in XML. Dabei erleichtert die Verfügbarkeit von standardisierten Methoden und Werkzeugen die Anwendungsentwicklung (5). Basierend auf dieser Technologie hat das Institut für Medizinische Informatik der Universität Gießen eine XML-Struktur definiert, die auch internationale Standardisierungsbemühungen des CEN/ TC 251 (European Committee for Standardization/ Health Informatics) berücksichtigt und eine erste Umsetzung der im europäischen Kontext definierten Standards darstellt (6).
Ziel ist es, eine Infrastruktur zu schaffen, die die Inhalte der ICD-10 sowohl für Web-Applikationen als auch für eine effiziente Integration in vorhandene Software bereitstellt. Die Inhalte können weiterhin in gewohnter Form gepflegt werden. Diese „Rohdaten“ werden entsprechend einer Dokumentenbeschreibung (Strukturdefinition) in einzelne XML-Dateien verpackt. Dabei sieht das Konzept vor, das systematische Verzeichnis der ICD-10 auf der Ebene der dreistelligen Kodes aufzuteilen, sodass die daraus resultierenden Dokumente die Informationen zu den Dreistellern und untergeordneten Kodes enthalten. Diese Aufteilung ermöglicht eine effiziente Indexierung der Dokumente und der enthaltenen Daten. Das Ablegen von Information beruht hier auf einem dokumentenorientierten Ansatz, der sich im Vergleich zu einer Datenbank durch seine Flexibilität bei der Verarbeitung von strukturierten (zum Beispiel Tabellenwerk der ICD-10, Band 1) und teilstrukturierten Informationen (zum Beispiel erläuternden Texten) hervorhebt.
Zugriff auf Informationsinhalte
Mit einer XML-Suchmaschine kann der Anwender kontextsensitiv auf die Inhalte dieser Dokumente zugreifen, das heißt, er kann gezielt im Kontext von Kodes, Kodetiteln oder Inklusiva nach einzelnen oder mehreren Begriffen suchen. Die Suchanfrage wird mit einer strukturierten Ausgabe beantwortet, die es ermöglicht, gewünschte Information direkt in ein elektronisches Zielsystem (Kodier-Tool oder Krankenhaus-Informationssystem) einzulesen. Darüber hinaus ist die Lösung direkt in Web-Applikationen integrierbar. Eine prototypische Anwendung ist über das Internet unter http://icd10.myelon.de oder www. patient care.de erreichbar. Die Anwendung ermöglicht bislang zusätzlich zur Volltextsuche im Systematischen Verzeichnis der ICD-10 eine gezielte Suche (a) in Kodetiteln und Inklusiva; (b) in dreistelligen Kodes und (c) über einen Diagnosenthesaurus (siehe Abbildung 1). Die Funktionalitäten sind auf der Website beschrieben.
Zurzeit wird im Internet nur die deutsche Version 2.0 nach DIMDI einschließlich des Diagnosenthesaurus bereitgestellt. Auf Anfrage können auch weitere Sprachen freigeschaltet werden. Die Suche über den Thesaurus ist insbesondere geeignet, wenn der exakte Diagnosenbegriff nicht bekannt ist und mit mehreren unscharfen Suchbegriffen gearbeitet werden muss. Ein Beispiel: Gesucht wird der Kode für maligne Schilddrüsentumoren. Bösartige Neubildungen können in den ICD-10-Titeln sehr unterschiedlich bezeichnet werden, beispielsweise als Karzinom, Tumor, Neoplasie, Neubildung und anderes. Die Suche über den Thesaurus, zum Beispiel mit einer Eingabe der Suchbegriffe „karz schild“ oder „neubild schild“ (Wortteile sind ausreichend) erbringt unter anderem den relevanten ICD-10-Kode C73 (Abbildung 3). Aus der Ausgabe im Web-Browser ist ersichtlich, welche Version und Sprache der ICD-10 (im Beispiel: deutsche Version 2.0) benutzt wurden.
Abbildung 3: Suche über den Diagnosenthesaurus nach dem Kode für Schilddrüsenkarzinome
Abbildung 3: Suche über den Diagnosenthesaurus nach dem Kode für Schilddrüsenkarzinome
Durch Anklicken des Kodes kann man anschließend im Systematischen Verzeichnis der ICD-10 mit dem gleichen „Look & Feel“ wie in der gedruckten Ausgabe navigieren. Hierbei können Querverweise in Form von Hyperlinks unter anderem auf Kreuz-/Sternkodes genutzt werden (Abbildung 2).
Auf technischer Seite wurde der vom DIMDI bereitgestellte Diagnosenthesaurus, der mehr als 58 000 Diagnosentexte umfasst, in ein standardisiertes und ebenfalls in XML repräsentiertes Modell (Topic Maps) für Schlagworte umgesetzt. Topic Maps ist der Name für ein ISO-standardisiertes Modell (ISO 13250) zur „Verschlagwortung“ von Informationsquellen. Es definiert Schlagworte (Topics), Beziehungen von Schlagworten zu Informationsquellen (Occurrences) und Beziehungen der Schlagworte untereinander (Associations). Mit diesen Basiskonzepten können beliebige inhaltliche Beziehungen zwischen den Quellen in Form von semantischen Netzen formuliert werden. Das Ziel einer Topic Map (Schlagwortverzeichnis) ist somit die Verbesserung der Suche von Informationsquellen.
XML liefert ein standardisiertes Austauschformat für Topic Maps (7) und wird überdies für die Verlinkung von Schlagworten und Quellen verwendet. Auf der Basis von Schlagworten können relevante und irrelevante Informationen automatisiert, das heißt ohne Belastung des Anwenders, getrennt werden. Die Suche verlagert sich vom Anwender auf die Anwendung.
Mehrsprachige Unterstützung
Mit diesem Konzept soll auch die Pflege der ICD-10 in weiteren Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch) unterstützt werden. Die Entwicklung einer einheitlichen, mehrsprachigen ICD-10-Repräsentation, die für Länder wie die Schweiz oder Kanada besonders wichtig sind, könnte in gemeinschaftlichen Anstrengungen münden, um die Qualität verfügbarer Datenquellen und Anwendungswerkzeuge zu verbessern. Die beschriebene Lösung sieht bereits jetzt vor, unterschiedliche Sprachversionen, nationale Ausgaben und Kodeerweiterungen gleichzeitig zu verwalten.
Integration in Anwendungssoftware
Der Anwender kann die ICD-10-Suchmaschine aus jeder Anwendungssoftware (Krankenhaus-Informationssysteme, Praxiscomputersysteme, Kodier-Tools, DRG-Grouper und andere) aufrufen. Über eine standardisierte Schnittstelle können die in XML strukturierten Rückmeldungen des Servers direkt weiterverarbeitet werden. Die derzeit im Internet verfügbare Version kann auch in geschlossenen Netzen (Intranet, Virtual Private Network) einzelner Institutionen eingesetzt werden.
Dennoch wird durch ein Bereitstellen von Klassifikationen in digitaler Form die Qualität der Diagnosenkodierung noch nicht verbessert. Einheitliche Kodierrichtlinien im Hinblick auf zugrunde liegende Diagnosen, Komorbiditäten, Komplikationen und die Umsetzung der Anwendungslogik in Kodier-Tools sind unabdingbar. Zugleich muss ein Anreiz zur korrekten Kodierung durch Transparenz der Zielsetzung und dem daraus resultierenden medizinischen Nutzen gegeben sein.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1137–1139 [Heft 17]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Simon Hölzer
Institut für Medizinische Informatik
Justus-Liebig-Universität Gießen
Heinrich-Buff-Ring 44
35392 Gießen
E-Mail : sh@patientcare.de
Internet: www.patientcare.de
1.
Cimino JJ: Terminology tools: state of the art and pratical lessons. Methods Inf Med. 2001; 40 (4): 298–306.
2.
Schopen M: The implementation of the International Classification of Diseases (ICD-10) in Germany. Tools and information on the internet. Anaesthesist 1999 Dec; 48 (12): 924–30.
3.
URL: www.w3.org/XML/ (last visited 18.11.2001)
4.
Schweiger R, Burkle T, Holzer S, Dudeck J: XML structured clinical information: a practical example. Stud Health Technol Inform. 2000; 77: 822–6.
5.
Schweiger R, Hoelzer S, Altmann U, Rieger J, Dudeck J: Plug-and-Play XML: A Health Care Perspective. J Am Med Inform Assoc. 2002 Jan; 9 (1): 37–48.
6.
www.centc251.org/WGII/N-01/WGII-N01-03rev%20_2_.pdf
7.
Rath H: Topic Maps – Bridging Information and Knowledge Management. XML Journal 2000; 1 (6): 8–16.
1. Cimino JJ: Terminology tools: state of the art and pratical lessons. Methods Inf Med. 2001; 40 (4): 298–306.
2. Schopen M: The implementation of the International Classification of Diseases (ICD-10) in Germany. Tools and information on the internet. Anaesthesist 1999 Dec; 48 (12): 924–30.
3. URL: www.w3.org/XML/ (last visited 18.11.2001)
4. Schweiger R, Burkle T, Holzer S, Dudeck J: XML structured clinical information: a practical example. Stud Health Technol Inform. 2000; 77: 822–6.
5. Schweiger R, Hoelzer S, Altmann U, Rieger J, Dudeck J: Plug-and-Play XML: A Health Care Perspective. J Am Med Inform Assoc. 2002 Jan; 9 (1): 37–48.
6. www.centc251.org/WGII/N-01/WGII-N01-03rev%20_2_.pdf
7. Rath H: Topic Maps – Bridging Information and Knowledge Management. XML Journal 2000; 1 (6): 8–16.

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