POLITIK: Deutscher Ärztetag
TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik: Genervt von unlauteren Gutachten


Fotos vom 105. Deutschen Ärztetag: Bernhard Eifrig (bis auf wenige eigens ausgewiesene)
der ärztlichen Tätigkeit und spricht sich für einen
schnellen tief greifenden Wechsel der Gesundheitspolitik aus.
Expertenrat nach Zerschlagung von Kartellen
im Gesundheitswesen teile die Bundesregierung
nicht, sagte Ulla Schmidt zum Auftakt
des Ärztetages in der Kvaerner Warnow Werft.
Um diesen Trend zu stoppen und den „populistischen Selbstdarstellungen expertokratischer Heilsverkünder“ (Ärztetagspräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe in seiner Eröffnungsrede) Paroli zu bieten, will sich die Ärzteschaft noch stärker in die Diskussion zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einbringen: Der Vorstand der Bundesärztekammer wurde von den Delegierten beauftragt, seine in Rostock präsentierten „Vorüberlegungen zu einer Gesundheitspolitischen Analyse der Ärzteschaft“ fortzuführen mit dem Ziel, die Thematik auf einem der nächsten Ärztetage als Tagesordnungspunkt vorzusehen.
Zur schnellen Lösung dringender gesundheitspolitischer Probleme votierte der Ärztetag für eine Erweiterung der Einnahmebasis der Gesetzlichen Krankenversicherung auf andere Einkunftsarten und eine gerechtere Gestaltung der Familienversicherung. Die „sozialpolitischen Verschiebebahnhöfe“ zulasten der GKV müssten beendet, versicherungsfremde Leistungen ausgegliedert werden. Durch mehr Kostentransparenz soll der Bürger erfahren, was für seine Gesundheit einerseits und für die Verwaltungsapparate der Krankenkassen und Versicherungen sowie für Sachverständige andererseits ausgegeben werde. Weiter forderte der Ärztetag die Abschaffung der Budgets, Selbstbehalte mit Steuerungsfunktion und die Ausgliederung von Individualleistungen. Rudolf Henke, Mitglied des Vorstandes der Bundesärztekammer, sprach sich zudem dafür aus, auch Einnahmen aus der Tabak- und Alkoholsteuer für die GKV aufzuwenden.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte bei der Auftaktveranstaltung zum Ärztetag in der Kvaerner Warnow Werft betont, dass sie zumindest bei der vertragsärztlichen Versorgung nicht den Ratschlägen der von Hoppe so heftig kritisierten Experten folgen werde. Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung werde nicht an die Krankenkassen übertragen, versprach die Ministerin. Die freie Arztwahl und eine wohnortnahe Versorgung könnten von den Krankenkassen alleine nicht gewährleistet werden.
Allein auf weiter Flur: Priv.-Doz. Dr. Dr. habil. Wulf Dietrich, Bayern, kritisierte als Einziger die Eröffnungsrede von Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. Foto: Johannes Aevermann
Den Numerus clausus im Fach Humanmedizin abschaffen
Um dem drohenden Ärztemangel zu begegnen, fordert der Ärztetag die Bundesregierung dringend auf, nach der Novellierung der Approbationsordnung nun auch unverzüglich die Arzt-im-Praktikum-Phase durch eine Änderung der Bundesärzteordnung abzuschaffen. Die Zeit bis zur Erteilung der ärztlichen Approbation müsse schnellstmöglich verkürzt werden, damit der Arztberuf wieder an Attraktivität gewinne.
Nach der derzeitigen Planung entfällt die Arzt-im-Praktikum-Phase frühestens im Jahr 2009, weil die novellierte ärztliche Approbationsordnung erst für jene Medizinstudenten erstmals gilt, die zum Wintersemester 2003 ihr Studium aufnehmen. Zudem müsse unverzüglich über eine verbesserte Vergütung der jetzigen Ärzte im Praktikum verhandelt werden, forderte der Ärztetag. Die große Mehrheit der Delegierten stimmte auch für einen Antrag, der den Gesetzgeber auffordert, den Numerus clausus im Fach Humanmedizin abzuschaffen. Das Argument der Antragsteller Prof. Dr. Günter Lob und Dr. Christoph Emminger, beide Delegierte der Bayerischen Landesärztekammer: Der Numerus clausus sei in Zeiten des Ärztemangels kontraproduktiv, weil er zu vielen jungen Menschen den Weg in den Arztberuf verbaue. Lob: „Sämtliche Nicht-Einser-Schüler werden frühzeitig aussortiert, obwohl auch unter ihnen gute Ärzte sein können.“
Dr. Heidrun Gitter, Bremen: „Die ausufernden Dokumentationspflichten sind eine vom Gesetzgeber veranlasste Verschwendung von Ressourcen.“
Auf harsche Kritik des Ärztetages stieß der von der Politik vorgegebene enge Zeitplan zur Einführung der Diagnosis Related Groups (DRGs). „Die Einführung des neuen Fallpauschalensystems darf nicht wegen ausschließlich politisch begründeter Terminvorgaben zu einem Last-Minute-Projekt mit ungewissen Auswirkungen auf die Krankenversorgung geraten“, warnten die Vertreter der Ärzteschaft. Hintergrund: Ab dem 1. Januar 2003 soll in den Krankenhäusern zunächst auf freiwilliger Basis und ab dem 1. Januar 2004 dann verpflichtend für alle Kliniken nicht mehr nach der Verweildauer der Patienten, sondern nach einheitlichen Pauschalen abgerechnet werden. Bis genügend Daten für eine deutsche Fallpauschalenabrechnung vorhanden sind, wird dabei vorerst auf die Daten aus dem australischen DRG-System zurückgegriffen werden. „Der politisch gewollte, medizinisch aber nicht vertretbare enge Zeitraum zur Einführung der DRGs wird nicht die effizientesten, sondern zunächst die Kliniken belohnen, die am schnellsten in das DRG-System übergehen“, kritisierte der Ärztetag. Die vorläufige Bewertung nach den australischen Kostengewichten erscheine äußerst fragwürdig. Unter diesen Voraussetzungen drohten insbesondere in bisher nur unzureichend über DRGs abgebildeten Bereichen nicht zu verantwortende Verzerrungen.
Zu diesen Bereichen zählten die Intensivmedizin, (Früh-)Rehabilitation, Onkologie und Palliativmedizin, Geriatrie, medizinische Spezialbereiche sowie die Versorgung komplexer multidisziplinärer Fälle und die Behandlung behinderter Patienten. Auf jeden Fall müsse das australische System schnell auf mögliche Problembereiche hin analysiert und an das Leistungsgeschehen hierzulande angepasst werden. Der Ärztetag fordert die Politik deshalb auf, „im Sinne des lernenden Systemansatzes kurzfristig zu gesetzlichen Nachbesserungen bereit zu sein“. Dabei müssten vor allem die Auswirkungen des DRG-Vergütungssystems auf den ambulanten Versorgungsbereich berücksichtigt werden.
Ein Dorn im Auge ist den Ärzten auch der mit Einführung der DRGs einhergehende zunehmende Verwaltungsaufwand. Das neue Entgeltsystem mache die Ärzte noch mehr zu Buchhaltern der Krankenhausverwaltung und stehle Zeit für die Arbeit für und mit den Patienten, betont der Leitantrag des Vorstandes der Bundesärztekammer. Personelle Engpässe der Krankenhäuser im ärztlichen Dienst würden sich dadurch noch verstärken. Dr. Helmut Müller (Neumarkt), Bayern, sagte, die Bürokratie drohe die kurative Medizin zu erdrücken und schrecke junge Ärzte zunehmend ab.
Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, hatte in seiner Eröffnungsrede (dazu DÄ 22/2002) zum 105. Deutschen Ärztetag davon gesprochen, dass „die Verwaltung von Krankheiten offensichtlich wichtiger wird als die Behandlung von Kranksein“. Hoppe kritisierte wiederholt die „ausufernde Bürokratie“ im Gesundheitswesen, die sich unter anderem darin ausdrücke, dass etwa 2,5 Milliarden Euro für die Dokumentation der neuen Disease-Management-Programme aufgewendet werden müssten. Wenn diese Entwicklung so weitergehe, gebe es bald mehr Kontrolleure als Kontrollierte im Gesundheitswesen. Die Koppelung der Disease-Management-Programme an den Risikostrukturausgleich zeige zudem die „unheilvolle Verquickung von Medizin und Ökonomisierung“, sagte Hoppe. Die Gefahr sei groß, dass chronisch Kranke nur noch als Kosten- und Normgrößen im Finanzausgleich der Krankenkassen gehandelt und die Behandlungsprogramme zu „Verwaltungsdekreten einer kassengesteuerten Medizin“ würden. Dr. Werner Baumgärtner, Baden-Württemberg, warnte vor einem Paradigmenwechsel: „Wenn wir nicht aufpassen, übernehmen bald die Krankenkassen das Case-Management.“
Rückendeckung für den Vorstand der Bundesärztekammer: Die Vorstandsanträge zum Tagesordnungspunkt Gesundheits- und Sozialpolitik wurden mit großer Mehrheit angenommen.
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