THEMEN DER ZEIT
Medizinstudium: Das Kreuz mit den Kreuzen
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Das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen
steht im Internet unter www.impp.de
Mitte März und August steht für zahlreiche Studentinnen und Studenten der hiesigen medizinischen Fakultäten wieder einmal die „Kreuzigung“ bevor. Vier Tage Dauerstress zwischen A und E. Knusprige Kurzanamnesen und lästige Laborwerte, histologische Extravaganzen und seit kurzem auch im breit gefächerten Angebot der IMPP-Spezialisten: szintigraphische Schmankerln. Was benötigt denn der cand. med. zur optimalen Prüfungsvorbereitung? Lehrbü-
cher? Nein. Die bereits IMPP-erprobten Kollegen der oberen Semester und die „PJler“ raten da zu ganz anderen Dingen. „Standardliteratur“ ist die „Schwarze Reihe“, die gesammelten Werke des IMPP (IMPP = Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen). Tausende kommentierte Multiple-Choice-(MC)-Fragen der vorangegangenen Examina, seit 1987. Für rund 360 Euro ist der GK3 im Fachhandel zu erwerben.
Nebenwirkungen des Ankreuzens
Wie viele sinnvolle Lehrbücher man für diese Summe erwerben kann, bleibt selbst zu errechnen. Dazu benötigt man noch die kommentierte „Gelbe Reihe“ eines anderen Verlags – multimedial im CD-ROM-Format erhältlich. Besonders nützlich ist ein Laptop, um mit Kommilitonen in Bibliotheken gemeinsam den „Kreuzen“ den Kampf anzusagen. Von der mentalen Belastung einmal abgesehen: Kreuzen hat Nebenwirkungen. Nach intensiver Vorbereitungszeit zeigten sich bei Staatsexamenskandidaten zum Beispiel gehäuft Fälle von Tendovaginitis im Handbereich, ausgelöst durch ständige Markierungen in Form von Kreuzen. Außerdem fanden sich Versteifungen der Fingergrund, -mittel- und -endgelenke Dig. II durch verkrampftes Festhalten der Maus und dauerndes Anklicken der vermeintlich richtigen Antwort am Computer. Die mit dem so oft rot aufflackernden „falsch“ einhergehenden psychischen Veränderungen der Studenten werden auch von Angehörigen als sehr belastend empfunden. Es wurden schon Fälle beschrieben, in denen es zu einem kollektiven Verbrennen von „Schwarzer Reihe“ und Verspeisen der CD gekommen ist. Sehr auffällig ebenfalls: deutliche Artikulationsstörungen der angehenden Mediziner. Kaum ein Kandidat kann noch in
zusammenhängenden Sätzen eine medizinische Frage beantworten. Schnell kommen dann Ausflüchte wie: „Vielleicht könnten Sie mir fünf Antwortmöglichkeiten von A bis E vorgeben? Ich suche Ihnen dann die geeignete Lösung heraus.“ Unklar ist den Studenten auch, ob die später zu behandelnden Kranken ebenfalls mit einem „Ankreuzbogen“ in der Sprechstunde auftauchen. Sie werden genau darauf vorbereitet und stellen sich vor, dass der Patient als Erstes eine verwirrende Kurzanamnese mit dazu mehr oder weniger passenden Laborwerten vorgibt und anschließend dann Antwortmöglichkeiten parat hält: A: „Ich habe Diabetes insipidus centralis“, B: „akutes Abdomen“, C: „Osteosarkom“ , D: „Rhinitis allergica“, E: „ Ich bin der Psychosomatik entkommen.“ Dieses Verfahren würde es doch allen leichter machen.
Eventuell könnte man ja auch eine Art Gewinnspiel im Sinne des unschlagbaren TV-Renners „Wer wird Millionär?“ daraus machen. Überzeugen Examina im Multiple-Choice-Verfahren wirklich? Und stellt sich diese Frage irgendjemand beim Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen in Mainz? Wir glauben das nicht. Was kennzeichnet diese Prüfungen? Im zweiten Staatsexamen beispielsweise werden rund 580 MC-Fragen über 23 Fächer an vier Tagen gestellt. Richtig ist auch, dass mit rund 90 Prozent die Bestehensrate hoch ist. Aber, wie hoch ist denn der Lerneffekt bei einem solchen Verfahren? Vergleichsweise gering!
Kein Student kann diese Prüfung bestehen, wenn er nur aus Lehrbüchern Wissen angereichert hat. Es ist notwendig, möglichst viele Alt-Examina „durchzukreuzen“. Für das IMPP wird es stets schwieriger, neue Fragen zu finden. Richtig ist, dass wichtige Themen oft behandelt werden. Aber viele Fragen zielen dann auf Detailwissen ab, das für den angehenden Arzt meistens nicht relevant ist. In den Kommentaren ist dann auch immer wieder zu lesen, dass die Beantwortung doch Facharztwissen voraussetze, was von einem Studenten nicht zu erwarten sei. Es gibt sicher Vor- und Nachteile dieses Prüfungsverfahrens, aber wir denken, entscheidend ist nicht die Objektivität der Prüfung, sondern das, was der Student für seine spätere Tätigkeit unbedingt zu wissen hat. Und das sind die großen Zusammenhänge in den einzelnen Fächern. Dies kann in einer MC-Prüfung nicht abgefragt werden. Hat man den normalen Geburtsweg nicht gelernt, geht man zur nächsten Frage über. Ist es vergleichsweise unwichtig, die genaue Genlokalisation höchst seltener Erbkrankheiten im Kindesalter zu wissen? Wer in Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten keine Ahnung hat, kann das dann mit der Sozialmedizin ausgleichen. Es ist auch von besonderer Effizienz, die Halbwertszeiten der neuesten Psychopharmaka , die teilweise in den Lehrbüchern noch gar nicht erwähnt werden, aus dem Ärmel schütteln zu können. Aber sind das nicht eigentlich Dinge, die auch mal nachgelesen werden können? Für die mündliche und auch die schriftliche „Nicht-MC“-Prüfung ist es meist unabdingbar, die großen, relevanten Zusammenhänge begriffen zu haben und darstellen zu können. Deswegen ist jedes andere Prüfungsverfahren dem MC-Test überlegen. Mündliche Prüfungen sind subjektiv beeinflussbar. Es gibt genügend Examina, in denen sich Prüflinge ungerecht behandelt fühlen, in denen sich der Prüfer auf jemanden „eingeschossen“ hat, in denen die Notengebung nicht akzeptiert wird.
Gleiche Chancen
Das verhasste „Nachbohren“ bei der Mündlichen ist bei den MC-Prüfungen ausgeschlossen. Das mündliche Examen ist und bleibt unberechenbar. Dennoch sollte hier vielmehr eine Verhältnisabwägung stattfinden, Objektivität eines Testverfahrens kontra verstehen und erklären können. Noch ist es Standard, die zentrale, deutschlandweite MC-Prüfung für alle Medizinstudenten durchzuführen. Es ist das gerechteste Verfahren, einen Examenskandidaten objektiv zu beurteilen. Jeder hat den gleichen Stift, das gleiche Papier, die gleichen Fragen, die gleiche Zeit, die gleichen Antwortmöglichkeiten – ergo: die gleichen Chancen. In fast allen anderen Studiengängen wird das nicht so gehandhabt. Haben diese Studenten kein Recht auf objektive Testverfahren? Mündliche Prüfungen werden von den Professoren nicht sehr geliebt. Sie bedeuten viel Zeitaufwand, lästigen Papierkram. Diese Zeit könnte besser genutzt werden, um das nächste Abstract zu schreiben. Forschung bringt immer noch mehr Ruhm als gute Lehre. Aber in der Veterinärmedizin gibt es beispielsweise nur mündliche Prüfungen. Möglich ist es also. Ute Daig, Isabel Hermann