THEMEN DER ZEIT
Öffentlicher Gesundheitsdienst: Deutliche Unterschiede zwischen Status quo und Wunschbild
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Dieter Grunow und Alf Trojan
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) wird oft als „dritte Säule“ des Gesundheitswesens bezeichnet. Individuelle Behandlungsleistungen stellen nur den kleinsten Teil seines Aufgabenspektrums dar. Vorwiegend geht es um bevölkerungsmedizinische Planungs- und Kontrollaufgaben des Gesundheitsschutzes in den Bereichen Trinkwasser, Luft, Qualität der Einrichtungen des Gesundheitswesens, Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit – um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Grundlagen wurden 1934/35 mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GVG) und späteren Durchführungsverordnungen gelegt. Diese gesetzlichen Grundlagen blieben zunächst in den Bundesländern nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Im Grundgesetz erhielt die Bundesebene (GG Art. 70 ff.) nur eingeschränkte ÖGD-spezifische Zuständigkeiten bei der Lebensmittelhygiene, der Seuchenabwehr, der Boden-, Wasser- und Lufthygiene. Die zunächst staatlichen Gesundheitsämter wurden zunehmend in die Kommunalbehörden (Kreise und kreisfreie Städte) eingegliedert. Dies geschah in großen Abständen und in unterschiedlicher Weise in den einzelnen Bundesländern. Beginnend 1979 mit Schleswig-Holstein wurde das GVG zunehmend durch Ländergesundheitsgesetze („ÖGD-Gesetze“) abgelöst. Auch dieser Prozess hatte eine Vielzahl inhaltlicher und organisatorischer Ausprägungen in den einzelnen Bundesländern (vgl. Müller W, 1999). Alle Verallgemeinerungen über den öffentlichen Gesundheitsdienst sind daher Vergröberungen, die auf die einzelnen Bundesländer zumeist nur „cum grano salis“ zutreffen.
Nach Artikel 28 Grundgesetz gehört die Gestaltung örtlicher Lebensverhältnisse einschließlich der Sicherung gesunder Lebensumstände in die Zuständigkeit der Kommune. Im Rah-
men der kommunalen Gemeinwohlverpflichtung heißt dies, die örtliche Gesundheitspolitik mitzugestalten. Dem Selbstverständnis der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst hingegen entsprach über lange Zeit eher die Durchführung individualmedizinischer Vorsorge- und Behandlungsleistungen. Dieser Bereich wurde jedoch ausgehöhlt, indem vormals originäre ÖGD-Aufgaben, wie Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen, dem Bereich der kassenärztlichen Versorgung überantwortet wurden. Damit entstand in der Selbst- und Außenwahrnehmung des ÖGD ein Problem: Es gibt kein klares Kernprofil von Aufgaben; der ÖGD wird als Institution für Restaufgaben oder sogar als „Lückenbüßer“ erlebt.
Weiterhin verfügt der ÖGD über kein
klares Kernprofil seiner Aufgaben.
- Die Verschiebung des Krankheitsspektrums in Richtung chronischer Erkrankungen erhöht den Bedarf an präventiven und gesundheitsförderlichen Ansätzen für Lebensumstände und Lebensgewohnheiten.
- Mit kritischer Begleitung und exemplarischen, innovativen Ansätzen wurde der veränderte Bedarf durch die Gesundheitsbewegung Anfang der 80er-Jahre bekannt gemacht und er-langte durch das 1986 begonnene Healthy City-Programm der Weltgesundheitsorganisation größere Sichtbarkeit und Rückenstärkung.
- 1991 stellte die 64. Gesundheitsminister-Konferenz der Länder (GMK) fest, dass „dem ÖGD bei der Gesundheitsförderung, Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung eine wichtige Koordinierungs- und Steuerungsfunktion gemeindenaher Maßnahmen“ zukomme und dass die „Prioritäten der Gesundheitsförderung für
die präventive Gesundheitspolitik in der Aufgabenverteilung und Stellenbeschreibung im ÖGD stärker zu berücksichtigen“ seien.
- Etwa gleichzeitig begann das breit angelegte Forschungs- und Entwicklungsprogramm unter der Überschrift „Public Health“, mit dem die Forderungen der GMK empirisch unterfüttert und programmatisch weiterentwickelt werden. Die bisherige „akademische Heimatlosigkeit“ des ÖGD wird mit dieser Entwicklung tendenziell aufgehoben.
- Ende der 90er-Jahre verstärkte sich unter dem Einfluss der Mittelknappheit öffentlicher Haushalte die Diskussion um „effizienteres Kostenmanagement“ und die Einführung „neuer Steuerungsmodelle (NSM)“. Mit dem Bericht 11/1998 der kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt), Köln, zu „Zielen, Leistungen und Steuerung des kommunalen Gesundheitsdienstes“ werden dem ÖGD als Leitlinien der Weiterentwicklung vorgeschlagen:
– von überwiegend fallbezogenen Leistungen zu gruppen- und lebensraumbezogenen Leistungen,
– von vorwiegend unmittelbaren Dienstleistungen zu Managementleistungen und zur Qualitätssicherung,
– von Kriseninterventionen zu präventiven Leistungen.
Veränderte Leitbilder im ÖGD
Ein wichtiges Element der Situationsanalyse ist die Erfassung der Aufgaben und ihrer Veränderung. Der Blick auf die gesetzlichen Grundlagen und auf die Ergebnisse einer umfangreichen empirischen Studie (Grunow, Grunow-Lutter 2000) zeigt, dass in den letzten Jahren Veränderungen stattgefunden haben: Einige Aufgabenbereiche wurden reduziert, andere wurden (wenn auch geringfügig) erweitert. Bei den erstgenannten handelt es sich insbesondere um Schwangeren- und Mütterberatung, um Gutachtenwesen, um Kinder- und Jugendgesundheit. In den Bereichen Umweltmedizin, Netzwerkbildung und Koordination, Gesundheitsförderung und Gesundheitsberichterstattung (GBE) sind neue Aufgaben hinzugekommen. Allerdings muss dazu einschränkend festgestellt werden, dass die Zuwächse gering und das Ausgangsniveau bei den „wachsenden“ Aufgabenfeldern sehr niedrig ist. Bei konkreten Nachfragen zeigte sich etwa, dass die GBE – wenn überhaupt als Aufgabe etabliert – mit durchschnittlich 0,2 Stellen ausgestattet ist, die Gesundheitsförderung mit 0,8 Stellen, die Netzwerkbildung/Koordination mit 0,6 Stellen und dass die Umweltmedizin im Durchschnitt mit 1,2 Stellen ausgestattet ist. Es zeigen sich also Verlagerungstendenzen, aber noch kein neuer Trend, der es erlauben würde, von einer Neuausrichtung des ÖGD zu sprechen.
Dies hängt nicht zuletzt mit dem breiten Spektrum recht unterschiedlicher Aufgaben zusammen, die dem ÖGD zugeschrieben werden. Ein wichtiger ergänzender empirischer Zugang ist die Erfassung von Leitbildern für den ÖGD beziehungsweise für das Gesundheitsamt (GA), wodurch die vielen Einzelaufgaben in Schwerpunkten gebündelt werden. Bei der vorstehend genannten Studie, einer Befragung von 154 Leiterinnen und Leitern der Gesundheitsämter in Westdeutschland, wurden sieben Leitbilder formuliert, zu denen die Befragten Stellung nehmen sollten.
Zusammenfassend ist zu den Ergebnissen festzustellen, dass die Beschreibungen der gegenwärtigen Situation recht unterschiedlich ausfallen. Es gibt keine „kulturelle Selbstverständlichkeit“ unter den Amtsleitern. Gruppiert man die Antworten in eine eher zustimmende und eine eher ablehnende Reaktion, so ergibt sich folgende Rangfolge der als gegenwärtig zutreffend angesehenen Selbstbeschreibungen:
- Eindeutig an der Spitze steht die „Fachverwaltung mit professionellem Dienstleistungsangebot“ (75 Prozent), was die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass im GA eine Vielzahl qualifizierter Berufsgruppen tätig ist. Insofern ist das Selbstverständnis durch diese professionellen Bezüge und ihre alltagspraktischen Handlungsperspektiven geprägt. Hierbei geht es vor allem um beratende und diagnostische, teilweise therapeutische Dienstleistungen, womit sich in der Regel eine Spezialisierung und fachliche Ausdifferenzierung (unter anderem im Sinne der Fachärzteweiterbildung) verbindet.
- Den zweiten Rang nimmt die
„Feuerwehreinrichtung für Krisenfälle“ (58,6 Prozent) ein. Diese Kennzeichnung verweist auf besondere Funktionen bei der Krisenbewältigung durch das GA, die unter Umständen in besonderem Maß den Bestand sichern helfen, da nichtöffentliche Alternativen hierfür nur schwer zu organisieren sind.
- Die ebenfalls häufig genannte „Auffangeinrichtung für übrig gebliebene Gesundheitsaufgaben“ (47 Prozent) belegt, dass die oft beklagte Situation auch heute noch zutrifft, dass das GA immer wieder Aufgaben an niedergelassene Ärzte oder Einrichtungen des Krankenversorgungssystems abgeben muss(te). Dadurch fehlt es den übrig gebliebenen Aufgaben nicht selten an der notwendigen Kohärenz.
- Auf den vierten Rang kommt die „Einrichtung mit sozialkompensatorischer Funktion“ (37,8 Prozent). Dabei geht es um die Bereitstellung von medizinischen und sozialpflegerischen Leistungen, die nur dann zum Aufgabenkatalog des GA gehören, wenn die diesbezüglichen Bevölkerungsgruppen durch die Einrichtungen des Krankenversorgungssystems (Arztpraxen, stationäre und teilstationäre Einrichtungen und so weiter) nicht erreicht werden.
- Den nächsten Rang belegt die „Einrichtung für kommunale Gesundheitsförderung und Koordinationsinstanz für lokale Dienstleistungsanbieter“ (33,8 Prozent). Damit wird auf die vor allem in letzter Zeit immer wieder hervorgehobene Rolle der Moderation und Koordination hingewiesen, die durch die Beteiligung vieler Organisationen des dritten Sektors oder der privatwirtschaftlichen Sphäre bei der Erfüllung konkreter Gesundheitsförderungsaufgaben erforderlich wird.
- Nur die vorletzte Rangposition nimmt das Selbstverständnis als „hierarchische Vollzugsorganisation“ (25 Prozent) ein, wobei es um die Rolle der GÄ als Bestandteil des staatlichen Gesundheitssystems (insbesondere mit Aufsichts- und Kontrollfunktionen) geht. Diese staatlichen Aufgaben sind zwar noch immer gesetzlich verankert, doch wird im Zuge der Deregulierung und Kommunalisierung das Bild der Aufgabenentwicklung zunehmend von lokalen Erfordernissen und Entscheidungen geprägt.
- Eine zurzeit noch geringe Bedeutung hat das im Zuge der Verwaltungsmodernisierung entstandene Leitbild „Unternehmen Gesundheitsamt“ (13,9 Prozent) für die Befragten. Damit ver-bunden sind insbesondere Vorstellungen von Klienten als Kunden und von Leitungspersonal als Manager öffentlicher Aufgaben.
Das nuancenreiche Selbstverständnis der befragten GA-Leiter lässt sich also dahingehend zusammenfassen, dass die Aufgabenstellung des GA als multivalent und multifunktional angesehen wird. Nur die „Fachverwaltung mit professionellem Dienstleistungsangebot“ erreicht als Leitbild eine sehr hohe Zustimmung. Alle anderen Kennzeichnungen werden zwar auch anerkannt, doch in nur begrenztem Umfang als für die gegenwärtige GA-Praxis typisch angesehen.
Wunschvorstellungen
Dies ändert sich, wenn man von der Beschreibung des gegenwärtigen Entwicklungsstandes zu den Wunschvorstellungen der Befragten für die Zukunft des ÖGD beziehungsweise des GA übergeht. Im Hinblick auf das gewünschte Leitbild für das GA wurden die Befragten gebeten, eine der drei Antworten anzukreuzen: 1. sollte Kern des Leitbilds sein; 2. sollte Bestandteil des Leitbilds sein; 3. sollte kein Bestandteil des Leitbilds sein. Benutzt wurden die gleichen typisierenden Beschreibungen wie in der vorangegangenen Frage.
Dabei zeigen sich deutliche Verschiebungen zwischen Status quo und Wunschbild. Zwar wird auch hier die „Fachverwaltung mit professionellem Dienstleistungsangebot“ (mit 83,7 Prozent) am häufigsten als Kern des Leitbildes gewählt, doch rückt nun die Gesundheitsförderung und die Koordinationsfunktion des GA (mit 50,3 Prozent) an die zweite Stelle. Selbst das „Unternehmen Gesundheitsamt“ als Hinweis auf die Zielvorstellung der aktuellen Verwaltungsmodernisierung wird mit 31,8 Prozent noch relativ häufig als Kern des zukünftigen Leitbildes gewünscht. Besonders selten spielen die „Auffangeinrichtung“ und die „hierarchische Vollzugsorganisation“ dabei noch eine Rolle (um die zwei Prozent). Beachtenswert ist, dass als ergänzender Bestandteil des Leitbilds die „Feuerwehreinrichtung für Krisenfälle“ mit 81 Prozent sehr häufig genannt wird; auch die „Einrichtung mit sozialkompensatorischer Funktion“ liegt mit 61,2 Prozent („sollte ein Bestandteil sein“) noch deutlich über der Hälfte der Antworten. Die Wunschvorstellungen für das GA der Zukunft sehen deutlich anders aus als der Status quo, wobei vor allem die Rolle in der Gesundheitsförderung und als Koordinationsinstanz für lokale Dienstleistungsanbieter besonders hervorgehoben wird. Nur zwei Prozent der befragten GA-Leiter wünschen dieses Aufgabenfeld nicht als Bestandteil des zukünftigen Leitbildes.
Bei Reformprojekten zeigt sich oft, dass zwischen Reformrhetorik und faktischen Änderungsmaßnahmen eine beachtliche Lücke klafft. Besonders kritisch ist die Tatsache zu kommentieren, dass die Modernisierungsziele häufig eine Verschleierung von Maßnahmen
zur Haushaltskonsolidierung darstellen. Einsparungen folgen nicht den Modernisierungsmaßnahmen, sondern die Haushaltskürzungen finden vor jeglichen Modernisierungsaktivitäten und ihren (erhofften) Effekten statt. In vielen Einzelfällen kann man sogar zeigen, dass die „Fortschritte“ im Sinne von Modernisierungszielen durch Haushaltskonsolidierungsstrategien wieder zunichte gemacht werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es zu widersprüchlichen Einschränkungen bei den befragten GA-Leitern kommt: Einerseits wird die Mittelknappheit als „Antriebsfeder“ für die Modernisierung angesehen, zugleich aber auch als Bremse bei der Umsetzung konkreter Änderungen (dazu ausführlicher Grunow, Grunow-Lutter 2000). Wichtig für den ÖGD ist in diesem Zusammenhang, aktiv auf eine Verbesserung des Ansehens insbesondere bei lokaler Politik und Verwaltung hinzuwirken. Dazu gehören nicht zuletzt ein überzeugendes Leitbild und eine sichtbare Kompetenzstruktur des Gesundheitsamtes. !
Die besondere Situation des ÖGD besteht darin, dass er im Zusammenwirken von Deregulierung, Modernisierung und Cutback nicht nur mit Effizienzfragen, sondern mit Existenzfragen konfrontiert ist. Die Frage, ob eine Gesundheitsfachverwaltung und eine kommunale Gesundheitspolitik auch in Zukunft erforderlich sind, steht auf der Tagesordnung. Die Alternative ist die Auflösung dieses Aufgabenbündels in eine Reihe von speziellen Kontroll- und Begutachtungsfunktionen, die anderen Verwaltungsbereichen zu- oder untergeordnet werden.
Selbst wenn durch Aufgabenkritik eine Arrondierung des Aufgabenbestandes im Gesundheitsamt stattfinden kann, werden noch eine Vielzahl konkreter Funktionen übrig bleiben. Für die zukünftige Entwicklung ausschlaggebend ist dabei, dass einige wenige profilierende Schwerpunkte für das Selbstverständnis des ÖGD-Personals sowie für die Positionierung im Kontext von lokaler Politik und Verwaltung formuliert werden. Hierzu ist zu empfehlen, möglichst viele konkret verbleibende Aufgaben unter den Leitideen der Gesundheitsförderung und des Verbraucherschutzes zu gruppieren und darüber hinaus durch die Verstärkung der Komponenten Gesundheitsplanung, Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsverträglichkeitsprüfung den Beitrag der Gesundheitsfachverwaltung für die Gesundheit als lokalen beziehungsweise regionalen Standortfaktor sichtbar zu machen.
Wichtige Instrumente, die unter anderem auch im Rahmen des NSM empfohlen werden, sind für diese Profilierung des ÖGD: Aufgabenkritik, Leitbilddiskussion und Entwicklung von Kooperationsstrukturen mit anderen Verwaltungsbereichen, zwischen Kreis und Gemeinden sowie mit sonstigen Akteuren im regionalen Kontext.
Diese Instrumente dienen einem gemeinsamen Kern von Inhalten und
Aufgaben in allen Bundesländern, nämlich Gesundheitsschutz, Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsförderung,
Gesundheitshilfe, Gesundheitsaufsicht, Gesundheitsberichterstattung und -planung sowie gutachterliche Tätigkeiten (Müller 1999). Bei den Landesgesetzgebungen bestehen jedoch zum Teil erhebliche Unterschiede in der Regelungsbreite, -tiefe und den jeweiligen Schwerpunktsetzungen. Die zum Teil extreme Unterschiedlichkeit der Leitbilder für den öffentlichen Gesundheitsdienst wird durch zwei am selben Tag (1. Januar 1998) in Kraft getretene ÖGD-Gesetze unter gleichen parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen demonstriert:
- Leitidee in Nordrhein-Westfalen: „Etablierung einer kommunalen Gesundheitspolitik, die aufgrund einer Situationsanalyse (Gesundheitsberichterstattung) in Zusammenarbeit mit den Akteuren im Gesundheitswesen zu Vorschlägen und Lösungen kommt, die gemeinsam umzusetzen sind, zur kontinuierlichen Verbesserung der gesundheitlichen Situation in der Kommune.“
- Leitidee in Sachsen-Anhalt: „Sicherung und Weiterentwicklung eines unter staatlicher Regiefunktion stehenden kommunalen Instruments des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsaufsicht mit nachrangig definiertem Auftrag zur Gesundheitshilfe und zur Koordination gesundheitlicher Leistungen.“
Leitideen der Reformdebatte in der neuen Gesetzgebung
Auch wo dies nicht – wie in Sachsen-Anhalt – ausdrückliches Leitbild ist, sind Aufsichts- und Kontrollfunktionen im bundes- oder landesstaatlichen Auftrag weiterhin wesentlicher Bestandteil der Aufgaben des Gesundheitsamtes und Hindernis für die Formulierung eines „griffigen“ modernen Profils. Ausbildung und Sozialisation der Amtsärzte tragen ebenfalls zu einer „defensiven“ und medizinisch geprägten Arbeitsweise bei. Die Amtsarztweiterbildung in Form eines sechsmonatigen theoretischen Kurses baut zumeist auf einer vorangegangenen ärztlichen Tätigkeit einschließlich kompletter Facharztweiterbildung auf. Damit bleiben häufig eine therapeutische Einzelfallorientierung und die kurative Arztrolle Leitbild der Tätigkeit im Gesundheitsamt. Ein reformorientiertes Selbstverständnis als kommunaler Akteur und Gesundheitsförderer wird allerdings seit einigen Jahren durch die neuen Zusatzqualifikationen in Public Health gefördert. Dies ist um so wichtiger, weil in Nordrhein-Westfalen Gesundheitsämter auch von Nicht-Medizinern geleitet werden können.
Ein kurzer Blick auf neue ÖGD-Gesetze der Länder lässt erkennen, inwieweit der Reformdiskurs Eingang in rechtliche Kodifizierungen gefunden hat:
In Hamburg (verabschiedet im Juli 2001) wie auch in Schleswig-Holstein (seit Januar 2002) gibt es eine fachlich aktualisierte Fortschreibung traditioneller Aufgaben im Bereich übertragbarer Krankheiten, des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes, einzelner Gesundheitshilfen, der Aufsicht und Kontrolle, zum Beispiel über die Gesundheitsfachberufe.
In beiden Gesetzen werden neue Aufgaben und Entwicklungsinstrumente, die dem Reformdiskurs entstammen, besonders herausgestellt. Dazu zählen insbesondere
- Gesundheitsförderung/Prävention,
- Gesundheitsberichterstattung und -planung,
- Kooperation und Koordination,
- gleiche Gesundheitschancen/Verbesserung der Gesundheit sozial Benachteiligter,
- Hinwirkung auf gesundheitsförderliche Lebensverhältnisse/Beteiligung an Planungsverfahren.
Neben diesen gemeinsamen Aspekten gibt es noch besondere Akzente im Hamburger Gesetz zur Bedeutung von Selbsthilfe, Patientenrechten, dem gesundheitlichen Verbraucherschutz sowie der Bürgerbeteiligung. Die Leitidee „von der Gesundheitsberichterstattung zu kooperativer Zielformulierung und koordinierter Maßnahmen-Umsetzung unterschiedlicher Akteure in der Gesundheitsförderung“ ist in beiden Gesetzen deutlich erkennbar. Das schleswig-holsteinische Gesetz orientiert sich ausdrücklich an dem eingangs zitierten Reformkonzept in der KGSt-Studie von 1998.
Pauschal lässt sich feststellen, dass die wesentlichsten Neuerungen aus der Reformdiskussion des ÖGD in beide Gesetze Eingang gefunden haben. Beiden gemeinsam ist allerdings auch, dass Probleme der Umsetzung leicht erkennbar sind. !
- Das Hamburger Gesetz lässt weitgehend offen, welche Behörden und Institutionen die einzelnen Aufgaben wahrzunehmen haben und auch woher die damit verbundenen Ressourcen kommen sollen. Es wird darauf vertraut, dass mithilfe der Instrumentarien des neuen Steuerungsmodells durch neue Prioritäten das Gesetz kostenneutral umgesetzt werden könne. Da die meisten neuen Aufgaben nicht als „Muss“ vorgegeben sind, ist zu erwarten, dass tatsächliche Veränderungen nur in denjenigen bezirklichen Gesundheitsämtern erfolgen, in denen die Ressourcen des Gesundheitsamtes zumindest erhalten werden und wo es gleichzeitig entschieden reformfreudige Mitarbeiter auf Leitungs- und auf Arbeitsebenen gibt.
- Auch der schleswig-holsteinische Gesetzesentwurf sieht keine verbindlichen Standards für den Gesundheitsdienst vor, was eine Aufgabenwahrnehmung je nach Haushaltslage nahe legt. Als kritischster Punkt wird zu Recht angenommen, dass die Kommunen wegen ihrer desolaten Haushaltssituation die ihnen zugedachte neue Verantwortung im Öffentlichen Gesundheitsdienst nicht angemessen wahrnehmen können und dass die Dezentralisierung von Verantwortung unter diesen Umständen vor allem der Entlastung des Landeshaushaltes dienen soll.
Der Blick auf zwei neue Gesetze zeigt, dass alle entscheidenden Leitideen der Reformdebatte in den Gesetzen wiederzufinden sind. Dieser erfreulichen Regelungsbreite entspricht jedoch nicht die Tiefe und Verbindlichkeit der Regelungen zu den innovativen Aufgaben. Eine Umsetzung der neuen Gesetze wird schon aus diesem Grund nur langsam möglich sein. Überdies ist zu befürchten, dass selbst extrem reformfreudige Kommunen und Amtsärzte den neuen Leitideen nur dann Geltung verschaffen können, wenn der ÖGD – entgegen dem jetzigen Trend – personell und materiell besser ausgestattet wird.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 1737–1742 [Heft 25]
Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck bei den Verfassern und über das Internet (www.aerzteblatt.de)
erhältlich.
Anschriften der Verfasser:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Alf Trojan
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Medizin-Soziologie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Prof. Dr. Soz. wiss. Dieter Grunow
Gerhard Mercator Universität Duisburg
Institut für Politikwissenschaft
Lotharstraße 65
47048 Duisburg
1.
Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf (Hg.): Blickpunkt öffentliche Gesundheit, Sonderausgabe zum ÖGD-Kongress in Rostock, April 2001.
2.
Grunow D, Grunow-Lutter V: Der öffentliche Gesundheitsdienst im Modernisierungsprozess. Eine Untersuchung über Handlungsspielräume und Restriktionen im Rahmen kommunaler Gesundheitspolitik. Weinheim: Juventa, 2000.
3.
Grunow-Lutter V, Plümer KD (Hrsg.): Initiativen kommunaler Gesundheitspolitik. Berichte und Materialien Bd. 18 der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen. Düsseldorf: Eigenverlag, 2001.
4.
KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung): Ziele, Leistungen und Steuerung des kommunalen Gesundheitsdienstes. Bericht Nr. 11. Köln: Selbstverlag (Lindenallee 13–17, 50968 Köln), 1998.
5.
lögd (Hrsg.): Neue Anforderungen an den ÖGD. Bielefeld: lögd Eigenverlag, 1999.
6.
Müller P: Kommunale Gesundheitspolitik. Koordinieren statt verwalten. Aufgaben- und Organisationsentwicklung im öffentlichen Gesundheitsdienst am Beispiel Berlins. Lage: Verlag Hans Jacobs, 2001.
7.
Müller W: Entwicklung der Gesundheitsdienst-Gesetze in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. In: lögd (Hrsg.): Neue Anforderungen an den ÖGD, Bd. 2. Bielefeld: lögd Eigenverlag, 1999, 13–24.
8.
Schmacke N: Schritte in die Öffentlichkeit. Die Wiederentdeckung der kommunalen Gesundheitsämter. Schriftenreihe der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen Bd. 17. Düsseldorf: Eigenverlag, 1993.
9.
Trojan A, Legewie H: Nachhaltige Gesundheit und Entwicklung. Leitbilder, Politik und Praxis der Gestaltung gesundheitsförderlicher Umwelt- und Lebensbedingungen. Frankfurt/Main: VAS-Verlag für Akademische Schriften, 2001.
Zenker, H.-Jochen
Raithel, F.
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