ArchivDeutsches Ärzteblatt PP9/2002Arbeitsmedizin: Anpassung an veränderte Arbeitswelten

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Arbeitsmedizin: Anpassung an veränderte Arbeitswelten

Stahl, Volker

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Immer mehr geht es heute darum, psychische Belastungen am Arbeitsplatz abzubauen. Foto: Becker & Bredel
Immer mehr geht es heute darum, psychische Belastungen am Arbeitsplatz abzubauen.
Foto: Becker & Bredel
Psychische Belastungen gewinnen immer größeren Stellenwert in der arbeitsmedizinischen Praxis. Die betriebsärztliche Versorgung ist wegen fehlenden Nachwuchses gefährdet.

Die Bedingungen der Arbeitswelt und die hieraus resultierenden Aufgaben des medizinischen Arbeitsschutzes haben sich in den letzten Jahrzehnten seit Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes 1973 deutlich geändert. Die betriebsärztliche Betreuung steckte noch in den Kinderschuhen. Dabei legte das Arbeitssicherheitsgesetz schon damals – und daran hat sich bis heute nichts geändert – eindeutig fest, dass die Arbeitgeber Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen hatten. Diese Verpflichtung des Arbeitgebers konnte aber auch dadurch erfüllt werden, dass der Arbeitgeber einen überbetrieblichen Dienst zur Wahrnehmung der Aufgaben nach dem Arbeitssicherheitsgesetz beauftragte.
Um die Verpflichtung der Unternehmer zügig und stufenweise umzusetzen, wurde das Arbeitssicherheitsgesetz im Laufe der Zeit durch branchenspezifische Unfallverhütungsvorschriften der gesetzlichen Unfallversicherungen präzisiert. Mit der EU-Richtlinie von 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer und deren Umsetzung in deutsches Arbeitsschutzrecht durch das Arbeitsschutzgesetz von 1996 erweiterte sich das Aufgabenfeld für die betriebsärztliche Betreuung. Die komplexen Anforderungen des Arbeitsschutzgesetzes zielen danach eindeutig auf die Prävention. Dies erforderte eine Neuorientierung der bisherigen betriebsärztlichen Tätigkeit, da die betriebsärztlichen Handlungsfelder weit über die im Arbeitssicherheitsgesetz festgelegten Einzelaktivitäten hinausgehen.
Neue Technologien und Produktionsverfahren, veränderte Organisationsformen der Unternehmen, die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors, der sich abzeichnende demographische Wandel – dies alles lässt Veränderungen für die Arbeitnehmer erkennen, deren Auswirkungen im Einzelnen noch nicht sicher abzuschätzen sind. Neben den physikalischen, chemischen und biologischen Faktoren gehören dazu auch physische und vor allem psychische Aspekte der Arbeit.
Während in der traditionell geprägten Industriegesellschaft die physischen Belastungen dominierten, gewinnt die psychische Belastung im betrieblichen Alltag der heutigen Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft einen immer höheren Stellenwert. Allerdings wird die psychische Belastung vielfach noch nicht oder noch unzureichend als Risikofaktor arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren angesehen.
Deshalb hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder (ASMK) im Oktober 2000 einstimmig beschlossen, dass der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) ein Konzept zur Beurteilung und zum Abbau psychischer Belastungen am Arbeitsplatz vorlegen soll. Das Konzept „Ermittlung psychischer Fehlbelastungen am Arbeitsplatz und Möglichkeiten der Prävention“, erstellt von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Länder, wurde im März 2002 vom LASI angenommen. Ein Handlungsleitfaden für die Arbeitsschutzverwaltungen der Länder wird folgen.
Der Betriebsarzt kann sich nicht mehr auf den klassischen Schutz vor Unfällen und Berufskrankheiten zurückziehen, sondern er muss sich auch um die Verbesserung des Wohlbefindens und die Motivation der Arbeitnehmer unter den geänderten Bedingungen der modernen Arbeitswelt kümmern. Moderner Arbeitsschutz zielt nunmehr auf ganzheitlichen Schutz und Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz.
Trotz der inzwischen mehr als 25-jährigen Erfahrung mit dem Arbeitssicherheitsgesetz ist eine befriedigende Überprüfung der Umsetzungsergebnisse noch nicht erfolgt. Gesicherte Aussagen über die Qualität der betriebsärztlichen Betreuung fehlen.
In Deutschland wurden bisher nur knapp 70 Prozent der Arbeitnehmer arbeitsmedizinisch betreut, nur in jedem siebten Betrieb sind derzeit Betriebsärzte tätig (in Klein- und Mittelbetrieben sind meistens keine hauptamtlichen Betriebsärzte beschäftigt). Die Zahl der Ärzte für Arbeitsmedizin hat zwar in den letzten Jahren leicht zugenommen, trotzdem geht die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin davon aus, dass in den nächsten Jahren mehrere Tausend Betriebsärzte fehlen werden. Bei der Abschätzung dieses zusätzlichen Bedarfs ist zu berücksichtigen, dass bereits in der Vergangenheit große Betreuungslücken bestanden haben. Trotz des offensichtlichen Zusatzbedarfs an Betriebsärzten und Arbeitsmedizinern wird Arbeits- und Gesundheitsschutz zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Kosteneinsparung betrachtet.
Die Folge ist eine verschärfte Konkurrenzsituation unter den Anbietern betriebsärztlicher Betreuung. Diese offerieren mittlerweile arbeitsmedizinische Beratung zu Dumpingpreisen. Infolge einer Zunahme an Billiganbietern werden Bestrebungen, eine qualitative Beratung und Erfüllung betriebsärztlicher Aufgaben nach dem Arbeitssicherheitsgesetz aufzubauen, unterlaufen. Betriebsärzte sollten aber nicht auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer zu Konzessionen gegenüber Wirtschaftlichkeitsargumenten bereit sein. Ob durch eine Güteprüfung für betriebsärztliche Dienste, wie sie zum Beispiel von der „Gesellschaft zur Durchführung von Qualitätssicherungen für die betriebsärztliche Betreuung“ angeboten wird, auch eine qualitativ hochwertige betriebsärztliche Dienstleistung gesichert werden kann, muss sich noch beweisen.
Um den großen Bedarf an zusätzlichen Betreuungskapazitäten im arbeitsmedizinischen Bereich abzudecken, spielt die Weiterbildung von Ärzten für Arbeitsmedizin eine wichtige Rolle. Zurzeit sind bundesweit schätzungsweise 400 Weiterbildungsstellen für zukünftige Fachärzte im Gebiet Arbeitsmedizin besetzt. In Niedersachsen stehen rund 50 Weiterbildungsstätten für Arbeitsmediziner zur Verfügung. Wie viele davon zur Weiterbildung genutzt werden, ist nicht bekannt. Durch altersbedingtes Ausscheiden oder durch Abwanderung von Betriebsärzten in andere Fachgebiete besteht jedoch bundesweit weiterhin ein großer Bedarf an Betriebsärzten. Deshalb ist es wichtig, dass möglichst viele Weiterbildungsstellen für den arbeitsmedizinischen Nachwuchs angeboten werden. Nur so lässt sich vernünftig und mit Augenmaß die zukünftige Entwicklung des Bedarfs an Betriebsärzten steuern.
Neben einer Intensivierung der arbeitsmedizinischen Nachwuchsförderung benötigen jedoch auch solche Maßnahmen Unterstützung, die einer besseren Effizienz und Akzeptanz betriebsärztlicher Betreuung dienen. Betriebsärztliche Betreuung, Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung sind kein Luxus, sondern notwendig, um langfristig die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer zu erhalten. Dr. med. Volker Stahl

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