WISSENSCHAFT
Kongressbericht: Hyperkinetisches Syndrom und Legasthenie


Das hyperkinetische Syndrom (auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom [ADHS] bezeichnet) und die Legasthenie (Dyslexie) sind bedeutsame psychische Störungen bei Kindern des Vorschul- und Schulalters, die seit einiger Zeit nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die Diskussion in der Öffentlichkeit beherrschen. Dies hat verschiedene Gründe, die nicht zuletzt in den Gemeinsamkeiten liegen, die beide Störungen kennzeichnen.
c Beide Störungen sind häufig. Etwa zwei bis drei Prozent der Vorschulkinder und der Schulkinder bis zum 12. Lebensjahr leiden an einem hyperkinetischen Syndrom und fünf bis sieben Prozent der Zweit- beziehungsweise Drittklässler in Grundschulen an einer Legasthenie.
c Beide Störungen haben beträchtliche Auswirkungen auf das Lern- und Leistungsverhalten der Schülerinnen und Schüler.
c Sowohl das hyperkinetische Syndrom als auch die Legasthenie sind häufig assoziiert mit emotionalen Störungen und mit Störungen des Sozialverhaltens, die zusätzliche Probleme bereiten.
c Die beiden Störungen kommen häufig gemeinsam vor: Etwa 20 Prozent der Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom leiden auch an einer Legasthenie und etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder mit einer Legasthenie an einem hyperkinetischen Syndrom.
c Beide Störungen gehören zu den überdauernden psychischen Störungen, das heißt, bei einem Großteil der Kinder setzen sich die Störungen (sowohl das hyperkinetische Syndrom als auch die Legasthenie) bis ins Erwachsenenalter fort und bereiten auch in dieser Lebensphase weiterhin Probleme.
c Neuere Erkenntnisse der Forschung zeigen, dass bei beiden Störungen sowohl genetische Faktoren eine Rolle spielen als auch Störungen im Bereich der Neurotransmitter (hyperkinetisches Syndrom) beziehungsweise der zentralen Informationsverarbeitung (Legasthenie).
c Für beide Störungen gibt es wirksame Therapieansätze, die zu bedeutsamen Behandlungserfolgen führen, jedoch die Störung nicht völlig beseitigen können.
c Untersuchungen zum Langzeitverlauf zeigen, dass ein Teil der hyperkinetischen Kinder später zu Drogenabhängigkeit, dissozialem Verhalten und Delinquenz neigen, wohingegen Erwachsene mit einer Legasthenie nicht nur ungünstige berufliche Chancen haben, sondern ebenfalls häufig dissoziale und delinquente Verhaltensweisen entwickeln.
Diese Punkte sowie weitere Fragen unter anderem zur Diagnostik, zur Ätiologie, zum Verlauf und zur Behandlung der beiden Störungen wurden beim 26. Interdisziplinären Forum der Bundesärztekammer „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“, das vom 10. bis 12. Januar 2002 in Köln stattfand, erörtert.
Hyperkinetisches Syndrom
Martin Heinrich Schmidt, Mannheim, berichtete, dass das hyperkinetische Syndrom bereits lange bekannt ist, nicht zuletzt durch den „Zappelphilipp“ im „Struwwelpeter“ des Psychiaters Heinrich Hoffmann, und dass bereits 1937 Charles Bradley Kinder mit dieser Störung mit Stimulanzien behandelte. Bezüglich der Diagnostik, so Schmidt, wird heute nach den Kriterien der beiden psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV vorgegangen, wobei es darum geht, die drei Hauptmerkmale der Störung: Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität, möglichst genau und standardisiert zu erfassen und auch festzustellen, ob diese Symptomatik situationsübergreifend (zum Beispiel in der Schule, zu Hause und in der Freizeit) vorkommt. Hierfür gibt es Skalen wie die Conners-Skala oder die Child Behavior Checklist (CBCL), aber auch standardisierte Beobachtungen und Geräte, die es erlauben die drei Symptome gleichzeitig während einer Aufmerksamkeitstestung zu objektivieren.
Differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden muss das hyperkinetische Syndrom zunächst von der normalen motorischen Aktivität im Kindesalter, ferner von Störungen des Sozialverhaltens, die vorwiegend das Merkmal der Impulsivität zeigen, von Intelligenzminderungen mit Hyperaktivität und autistischen Störungen, erläuterte Schmidt. Bezüglich der Ätiologie geht man heute von einem Zusammenwirken genetischer und Umweltfaktoren aus, wobei ein Ungleichgewicht im dopaminergen System eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Für eine Subgruppe hyperkinetischer Kinder, nämlich solche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, wurde bereits ein Polymorphismus in einem Allel des D4-Rezeptors gefunden.
Zum Verlauf stellte Schmidt fest, dass 30 bis 70 Prozent der Betroffenen ihre Symptomatik beibehalten, wobei sich das klinische Bild dahingehend ändert, dass die Hypermotorik zurückgeht, aber die Aufmerksamkeitsstörung und die Impulsivität mehr oder weniger erhalten bleiben.
Beate Herpertz-Dahlmann und Sabine Herpertz, Aachen, wiesen darauf hin, dass Störungen des Sozialverhaltens, umschriebene Entwicklungsstörungen, Angst und affektive Störungen sowie Tic-Störungen häufig gemeinsam mit dem hyperkinetischen Syndrom vorkommen und dass Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom, die gleichzeitig eine Störung des Sozialverhaltens haben, die ungünstigste Prognose aufweisen. Sie entwickeln häufig eine antisoziale Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter mit kriminellem Verhalten. Dabei ist es wichtig, dass sich diese Subgruppe hyperkinetischer Kinder bereits im Kindesalter von der anderen Gruppe (ohne Störungen des Sozialverhaltens) durch eine verminderte autonome Reaktivität (gemessen als Veränderung des Hautwiderstandes) unterscheiden lässt.
Hinsichtlich der Therapie des hyperkinetischen Syndroms betonte Gerd Lehmkuhl, Köln, dass die Behandlungsstandards der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry grundsätzlich von einem multimodalen Behandlungskonzept ausgehen, das sowohl eine medikamentöse als auch eine psychotherapeutische Behandlung der Kinder und psychoedukative Maßnahmen bezüglich der Eltern umfasst. Die meisten empirischen Studien, so Lehmkuhl, belegen eine geringfügig bessere Wirksamkeit der multimodalen Behandlung im Vergleich zu einer ausschließlichen Behandlung mit Stimulanzien. Lehmkuhl wies darauf hin, dass sich die Verordnung von Methylphenidat zwischen 1991 und 1999 mehr als verzehnfacht hat, was zu einem kleinen Teil wahrscheinlich auf eine nicht indizierte Indikation zurückzuführen ist.
Legasthenie
Auch die Legasthenie wird heute nach den beiden diagnostischen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV diagnostiziert und ist dort als eine „Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ beschrieben, erklärte Andreas Warnke, Würzburg. Die Symptomatik (Rechtschreibstörungen, Vertauschen von Wörtern im Satz, Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben und anderes) kann bereits im ersten Schuljahr festgestellt und spätestens im zweiten sicher diagnostiziert werden. Hierfür gibt es standardisierte Tests. Im Hinblick auf die Legasthe-
nie geht man heute von einer hohen Bedeutung genetischer Faktoren aus, die für die besonderen Schwierigkeiten der sprachlichen und visuellen Informationsverarbeitung, insbesondere der phonologischen Information, verantwortlich sind. Auch ein Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle. Differenzialdiagnostisch geht es um die Abgrenzung von neurologischen Erkrankungen, Sinnesstörungen (Seh- oder Hörstörungen) sowie von Störungen der Lese-Rechtschreib-Fähigkeit infolge anderer psychiatrischer Erkrankungen (zum Beispiel Schizophrenie). Bezüglich des Langzeitverlaufes wies Warnke darauf hin, dass Kinder mit einer Legasthenie auch später als Heranwachsende und Erwachsene im Hinblick auf ihre soziale Integration und die berufliche Entwicklung erheblich beeinträchtigt sind und dass das Delinquenzrisiko im Alter von 18 Jahren etwa um das Fünffache höher sei als bei Gleichaltrigen, die nicht an einer Legasthenie leiden.
Einen zentralen Stellenwert in der Ätiologie der Legasthenie nehmen phonologische Defizite ein, berichtete Bernd Blanz, Jena. Trotz zunehmender Lesekompetenz im Verlaufe der Entwicklung bleibt bei Menschen mit Legasthenie ein Defizit erhalten, welches darin besteht, dass die an der Sprachverarbeitung beteiligten Hirnareale nicht synchron aktiviert werden. Die Anwendung bildgebender Verfahren, mithilfe derer bereits die genannten Ergebnisse erarbeitet wurden, so Blanz, verspricht in den nächsten Jahren ein weitergehendes Verständnis der zugrunde liegenden pathogenetischen Prozesse zu befördern.
Angesichts der Hartnäckigkeit der Störung und ihrer Persistenz stellt sich die Frage, ob es überhaupt effektive therapeutische Interventionen gibt. Dass dies der Fall ist, erläuterte Gerd Schulte-Körne, Marburg. Die Förderung im Grundschulalter orientiert sich am Entwicklungsmodell des Schriftsprachenerwerbs. Unter Berücksichtigung dieser Konzeption werden überwiegend Förderkonzepte eingesetzt, die auf der alphabetischen (phonologischen) und auf der orthographischen Entwicklungsstufe ansetzten (symptomorientierte Förderkonzepte). Zusätzlich zu diesen, deren Wirksamkeit belegt ist, haben Methoden, die ausschließlich auf eine Förderung von Wahrnehmungsvorgängen abzielen, ihre Wirksamkeit noch nicht demonstrieren können, betonte Schulte-Körne. Ein großes Hindernis im Hinblick auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer Legasthenie sind die sozialrechtlichen Probleme, denn die Legasthenie wird nicht zu den Erkrankungen im Sinne des SGB V gerechnet. Daher, so Schulte-Körne, ist die Abrechnung der Behandlung von Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche auch nicht als vertragsärztliche Leistung möglich. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn zusätzliche Entwicklungsstörungen oder psychische Störungen vorliegen. Die Kosten für die außerschulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Legasthenie sind jedoch im Rahmen der Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) abrechenbar; Entsprechendes ist im
§ 35 a dieses Gesetzes geregelt. Voraussetzung ist, dass eine drohende seelische Behinderung vorliegt, die die Eingliederung des Betreffenden entscheidend behindert. Diese Voraussetzungen sind allerdings erwartungsgemäß nicht bei allen Kindern mit einer Legasthenie erfüllt. Schulte-Körne bezeichnete dies als eine eklatante Lücke im Hinblick auf den anerkannt hohen Versorgungsbedarf, die gefüllt werden muss.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Klinik und Poliklinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie
der Universität
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg