ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2002Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie (nach § 11 PsychThG): Gutachten zum Nachantrag zur Gesprächspsychotherapie

BEKANNTGABEN DER HERAUSGEBER: Bundesärztekammer

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie (nach § 11 PsychThG): Gutachten zum Nachantrag zur Gesprächspsychotherapie

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LNSLNS Die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) hat mit Schreiben vom 11. 9. 2000 beantragt, die wissenschaftliche Anerkennung der Gesprächspsychotherapie für einen weiteren Anwendungsbereich anzuerkennen und hat dazu im Verlauf der Beratungen verschiedene Publikationen eingereicht. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich mit diesem Antrag und den eingereichten Studien ausführlich befasst und ist zu folgendem abschließenden Urteil gekommen:
Die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie ist durch zwei Arbeiten für den Anwendungsbereich 3 (Belastungsstörungen [F43]) nachgewiesen. Damit ist nach den Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats (Deutsches Ärzteblatt, 2000, 97, Heft 1–2, A-59) die Wissenschaftliche Anerkennung für diesen Bereich festzustellen.
Der Wissenschaftliche Beirat hat demnach nunmehr die Wissenschaftliche Anerkennung der Gesprächspsychotherapie für die folgenden vier Bereiche festgestellt:
1. Affektive Störungen (F3)
2. Angststörungen
3. Belastungsstörungen (F43)
7. Anpassungsstörungen, psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54)


Begründung:
Anwendungsbereich 3. Belastungsstörungen (F43)

1. Die GwG hatte neu die folgende Publikation eingereicht:
S. C. Paivio und J. A. Nieuwenhuis. Efficacy of Emotion Focused Therapy for Adult Survivors of Child Abuse: A Preliminary Study.
Diese Studie wurde vom Wissenschaftlichen Beirat wie folgt beurteilt:

59 Prozent der Stichprobe der Patienten erfüllen die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung; weitere 26 Prozent können als subklinische Fälle eingestuft werden.
Mit einem umfangreichen Instrumentarium konnten deutliche Verbesserungen im Vorher-nachher-Vergleich für die Therapiegruppe, jedoch keine Verbesserungen während der Wartezeit für die Wartegruppen gezeigt werden. Die Wartegruppe verbesserte sich jedoch eindeutig während der Therapiezeit. In einem 9-monatigen Follow-up erwiesen sich die Effekte als durchgängig stabil.
Der Wissenschaftliche Beirat beschloss, die Studie von Paivio und Nieuwenhuis als einen ersten Beleg für die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie im Anwendungsbereich 3 (Belastungsstörungen) zu werten.

2. Anlässlich des Erstantrages zur Anerkennung der Gesprächspsychotherapie lag dem Beirat bereits für den Bereich 3 die folgende Studie vor:
Gomes-Schwartz, B. (1978): Effective Ingredients in Psychotherapy: Prediction of Outcome From Process Variables, Journal of Consulting and Clinical Psychology, 46, 1023–1035.

Eine inhaltliche Prüfung dieser Studie fand im Rahmen des Erstantrages nicht statt, da die erforderliche Mindestanzahl an Studien für den Anwendungsbereich „3. Belastungsstörungen“ nicht vorgelegen hat.
Bei der nunmehr durchgeführten Begutachtung wird die hohe methodische Qualität der Studie von Gomes-Schwartz vom Beirat gewürdigt. Es handelt sich jedoch nicht um eine Untersuchung zur Wirksamkeit, sondern zur Wirkungsweise des therapeutischen Prozesses; ein Wirksamkeitsnachweis ist nicht abzuleiten. Daher wird diese Studie nicht als Wirksamkeitsnachweis der Gesprächspsychotherapie im Sinne der publizierten Kriterien des Beirats gewertet.

3. Von Herrn Prof. Tausch wurden mit Schreiben vom 11. 7. 2001 weitere Studien zur Verfügung gestellt, die der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie in die Beurteilung der wissenschaftlichen Anerkennung dieses Anwendungsbereichs mit einbezog:
Grimm, F. (1990): „Konstruktive Auswirkungen personenzentrierter Gesprächsgruppen mit Arbeitslosen“ Dissertation, Universität Hamburg.

Zur gleichen Untersuchung außerdem:
Grimm, F., Dircks, P. & Langer, I. (1992): Prozesse und Auswirkungen personenzentrierter Gesprächsgruppen bei Arbeitslosen. Jahrbuch für Personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie, Bd. 3, 116–131.

Die Studien wurden als nicht einschlägig beurteilt, da es sich nicht um klinische Studien handelt, also um die Überprüfung von heilkundlicher Behandlung von Personen mit psychischen Störungen mit Krankheitswert.

Kalliner, H. (1981): Effekte personenzentrierter Gruppengespräche mit Krebsbetroffenen und Angehörigen. Dissertation, Universität Hamburg.
Tausch, A. M. (1981): „Personenzentrierte Hilfe für Krebspatienten“. Der Kassenarzt, 21, 4276–4282.

Die Studien von Kalliner erwiesen sich als Originalbericht über eine Untersuchung, die der Wissenschaftliche Beirat bereits als Veröffentlichung von Dircks et al. (1982) (Förderung der seelischen Gesundheit von Krebspatienten durch personenkonzentrierte Gruppengespräche. Zeitschrift für Klinische Psychologie, 11, 241–251) bei seiner ersten Begutachtung der Gesprächspsychotherapie im Jahre 1999 geprüft und als Beleg für die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie anerkannt hatte. Die neu eingereichte Publikation konnte daher nicht als zusätzliche Studie gewertet werden.
Allerdings war die Arbeit von Dircks et al. entsprechend dem damaligen Antrag der Gesprächspsychotherapie dem Bereich 7 (Anpassungsstörung, somatische Krankheiten [F54]) zugeordnet worden. Bei der erneuten Überprüfung der bereits damals beurteilten Publikationen von Dircks et al. sowie der detaillierteren Beschreibungen der Studie in der neu eingereichten Arbeit von Kalliner stellte sich heraus, dass die Störung der behandelten Patienten nicht der Störungskategorie ICD-F54 (Psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Erkrankungen [psychosomatische Krankheiten]) zugeordnet werden muss, sondern der ICD-Kategorie F43 (Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen). Die Studie wurde daher neu dem Anwendungsbereich 3 (Belastungsstörungen) zugeordnet.
Da die Studie bereits bei der ersten Begutachtung als Beleg für die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie bei den behandelten Patienten bewertet wurde, wurde diese Studie nunmehr als ein zweiter Beleg für die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie im Bereich 3 (Belastungsstörungen) gewertet.
Es ist damit festzustellen, dass die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie im Anwendungsbereich 3 (Belastungsstörungen [F43]) durch zwei Arbeiten nachgewiesen ist und damit nach den Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats (Deutsches Ärzteblatt, 2000, 97, Heft 1–2, A-59) die Wissenschaftliche Anerkennung für diesen Bereich festzustellen ist.


Anwendungsbereich 7. Anpassungsstörungen, psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54)

Für den Bereich 7 (Anpassungsstörungen, somatische Krankheiten) verblieben nach der Umordnung der Studie von Dircks et al. zwei Studien, die bei der ersten Begutachtung berücksichtigt worden waren.
Der Wissenschaftliche Beirat beschloss mehrheitlich, nicht erneut eine Prüfung und Begutachtung dieser Studien vorzunehmen, sodass die wissenschaftliche Anerkennung für den Bereich 7 (Anpassungsstörungen, psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten [F54]) weiterhin bestehen bleibt.
Die Feststellung des Beirats bezieht sich lediglich auf Psychotherapie bei Erwachsenen. Die Einordnung der Gesprächspsychotherapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen wurde vom Beirat bisher für keinen Anwendungsbereich ausgesprochen.


Empfehlung für
die Landesbehörden

Der Wissenschaftliche Beirat hatte den zuständigen Landesbehörden allgemein empfohlen:
Therapieverfahren, die für mindestens fünf Indikationsbereiche der Psychotherapie (1–11 der Indikationsliste) oder mindestens vier der „klassischen“ Indikationsbereiche (1–8) als wissenschaftlich anerkannt gelten können, sollten alleine als Verfahren für die vertiefte Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten entsprechend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten zugelassen werden.
Der Wissenschaftliche Beirat stellt fest, dass dieses Kriterium nunmehr für die Gesprächspsychotherapie bei Erwachsenen erfüllt ist.

Köln, den 16. 9. 2002

Prof. Dr. S. O. Hoffmann
Vorsitzender

Prof. Dr. J. Margraf
Stellv. Vorsitzender

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