THEMEN DER ZEIT
Anatomisches Theater des Gunther von Hagens: Plädoyer für einen geschützten Raum


Vor zahlendem Publikum seziert Gunther von Hagens
(unten rechts) die Leiche eines Mannes. Foto: dpa
Vor kurzem hat der Anatom, Plastinator und Ausstellungsmacher Gunther von Hagens in London vor zahlendem Publikum und laufenden Kameras die Leiche eines 72-jährigen Mannes seziert. Von Hagens tritt ausdrücklich an, um das an die Öffentlichkeit zu holen, was „hinter verschlossenen Türen stattfindet“, nämlich die Leichensektion in der Anatomie. Er sieht sich als Kritiker der universitären Anatomie und als Demokratisierer des anatomischen Wissens, sozusagen als anatomischer Volkstribun. Das Geld, das er dabei einnimmt, sieht er offenbar nur als Aufwandsentschädigung. Und wenn die britische Gerichtsbarkeit ihn doch noch ins Gefängnis stecken sollte, wird er sich als Märtyrer einer großen Sache fühlen.
Allerdings hat eine dreistündige „vollständige“ Autopsie (Bauch, Brust und Schädel aufgeschnitten – Organe und Gehirn entnommen – Organe und Gehirn wieder hineingelegt – Haut zugenäht) wenig mit Anatomie zu tun – weder mit akademischer Anatomie noch mit anatomischer Laienbildung. Sie hinterlässt Bilder in der medialen Öffentlichkeit, die viele Menschen schockieren und die die Anatomie als Fach in ein falsches Licht rücken.
Der anatomische Lerneffekt einer dreistündigen Sektion ist gering. In der medizinischen Ausbildung wird circa 150 Unterrichtsstunden lang an einer einzigen Leiche „präpariert“. Und obwohl dort viel mehr Detailwissen vermittelt wird, als ein Laie je braucht, lehrt die Erfahrung, dass während der ersten Stunden eines solchen Kurses die Konfrontation mit einer Leiche weit mehr im Vordergrund des Erlebens steht als anatomische Erkenntnis. Das Einzige, was also wirklich vermittelt werden kann – und das sollte von Hagens auch sagen –, ist eine grobe Vorstellung vom Prozess der Leichensektion.
Dieser entspricht eher der in der Pathologie üblichen Autopsie (außer dass in London eine formalinfixierte Leiche verwendet wurde, während die Pathologen an frischen Leichen arbeiten). Diese Art der Leichenöffnung dient nicht der anatomischen Bildung, sondern der Feststellung der Todesursache. So war ein Argument der britischen Behörden gegen die Veranstaltung, dass von Hagens keine Qualifikation als Pathologe habe. Von Hagens selbst scheint dies nicht scharf zu trennen. Er gab im Vorfeld an, die Autopsie habe trotz Öffentlichkeit ein professionelles Ziel, weil sie zur Feststellung der Todesursache diene. Diese Angabe bezog sich allerdings auf die ursprünglich geplante Sektion einer jüngeren Frau, deren Eltern die öffentliche Sektion angeblich unterstützten, weil sie Zweifel an der bisher angenommenen Todesursache hatten.
Damit wird aber auch der Bezug auf die Tradition der anatomischen Theater des 16. bis 18. Jahrhunderts fragwürdig, der ausdrücklich auf der Homepage der „Körperwelten“ hergestellt wird – von der Anmaßung des Selbstvergleichs mit Andreas Vesalius, dem wohl größten Anatomen aller Zeiten, ganz zu schweigen. Es ist richtig, dass damals Leichen vor Publikum eröffnet wurden und auch medizinische Laien Zutritt hatten. Diese Veranstaltungen dauerten ein bis mehrere Tage, oft bis die Verwesung einsetzte und die weitere Arbeit unmöglich machte. Sie dienten nicht der Klärung der Todesursache und auch nicht nur der anatomischen Bildung im heutigen Sinne, sondern der moralischen Instruktion in zweierlei Hinsicht: Einerseits waren sie ein „Memento mori“, die Mahnung an die eigene Sterblichkeit. Andererseits waren sie eine fortgesetzte öffentliche Bestrafung des „Opfers“ der Zergliederung. So trägt ein berühmter Stich des englischen Malers Hogarth von 1751, der eine Leichensektion in London zeigt, den Titel „The Fourth Stage of Cruelty“. Eine Einwilligung des Toten oder seiner Angehörigen, eine Körperspende zu Lebzeiten, gab es nicht, die Körper für anatomische Studien stammten fast immer von zum Tode Verurteilten. Die Richter konnten durch Festsetzen der Übergabe an die Anatomie, also durch Aberkennung der Totenruhe, das Strafmaß noch erhöhen.
Es ist ein großer Fortschritt, dass in der Anatomie heute nur noch Leichen von Körperspendern verwendet werden, also von Menschen, die zu Lebzeiten ihre sterbliche Hülle der Anatomie vermacht haben. Auch von Hagens hält sich daran. Hier liegt aber auch ein Grund dafür, dass die Anatomie an den Universitäten „hinter verschlossenen Türen“ stattfindet oder, besser ausgedrückt, in einem „geschützten Raum“. Das hat wenig mit Geheimniskrämerei zu tun oder gar mit Elitenbildung, sondern mit dem Schutz einer prekären sozialen Beziehung, nämlich der zwischen Spender und Empfänger. Diese beruht aufseiten der freiwilligen Spender auf dem Vertrauen, dass ihr Körper nach dem Ableben einem sinnvollen Zweck zugeführt wird und dass dabei Würde und Anonymität gewahrt bleiben. Die meisten deutschen anatomischen Institute würdigen diese Beziehung in einer Gedenkfeier für die Toten am Ende des Kurses, mit der Studierende ihre Dankbarkeit für eine solche einmalige Chance des Lernens ausdrücken. Neben der allgemeinen Verdrängung des Todes hat gerade die Angst vor Sensationsmache zu beschränkten Zugangsregelungen in Anatomiesäle geführt. Wenn Wissen über Leichensektionen wirklich im öffentlichen Interesse steht, wird man behutsamere Wege der „Volksaufklärung“ finden können.
Leichenzergliederungen in der universitären Anatomie stehen zudem in einem ganz bestimmten Kontext und erfüllen damit andere Funktionen als zum Beispiel eine einmalige Übertragung im Fernsehen. Erstens werden Studierende in ihrer Konfrontation mit einem menschlichen Leichnam nicht allein gelassen, wie es bei Fernsehbildern zwangsläufig geschieht, zweitens ist die Leichensektion ein kleiner Teil eines langen Studiums. Sie ist damit nur eine von vielen medizinischen Herangehensweisen an den Körper und den Menschen, die entsprechend relativiert wird, auch wenn sie gelegentlich in ihrer symbolischen Bedeutung überhöht wurde.
Die Aktivitäten Gunther von Hagens’ gehören in einen anderen kulturellen und historischen Kontext der Wahrnehmung des menschlichen Körpers. Diese Form der „Demokratisierung der Anatomie“, auf die von Hagens so stolz ist, bedeutet einen weiteren Schritt hin zur Medikalisierung unseres Menschenbildes. Die alten Menschheitsfragen „Erkenne dich selbst!“ und „Was ist der Mensch?“ lässt man sich nun vom Anatomen beantworten. Der Mensch ist bei der Suche nach dem Unvergänglichen in der Welt nun wohl endgültig beim Vergänglichsten von allem angekommen, beim eigenen Leib. Die plastinierten Körper der Körperwelten werden länger existieren als die ägyptischen Mumien und geben damit einigen Spendern ernsthaft das Gefühl, unsterblich zu werden. Doch wenn sie auch vielleicht für immer „existieren“ werden, so sind sie doch vor allem für immer tot. Demnächst auch in München. Dr. med. Andreas Winkelmann
Schuss, Udo
Moog, Thomas
Heppe, Andreas