ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2003Infektionsprävention: Eine Wiedereinführung der Pockenimpfung ist derzeit nicht notwendig

POLITIK: Medizinreport

Infektionsprävention: Eine Wiedereinführung der Pockenimpfung ist derzeit nicht notwendig

Burger, Reinhard; Kurth, Reinhard

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Pockenviren Foto: Gopal Murti/Mauritius
Pockenviren Foto: Gopal Murti/Mauritius
Nach Ansicht des Robert Koch-Institutes ist eine Vakzination einzelner Gruppen oder der Bevölkerung erst angebracht, wenn tatsächlich ein Pockenfall auftritt.

Von einzelnen Seiten wird im Zuge der aktuellen Debatte zur Pockenschutzimpfung eine generelle Impfung der Bevölkerung gefordert. Auch einige Presseveröffentlichungen der letzten Wochen waren missverständlich formuliert und konnten beim Leser den Eindruck erwecken, als ob das Robert Koch-Institut in Berlin eine solche Maßnahme vorschlüge. Daher scheint hier eine Klärung angebracht:
Seit Ende der 70er-Jahre sind die Pocken (Variola) ausgerottet, und es wurden weltweit keine natürlichen Pokkenerkrankungen mehr bekannt. Es gibt kein tierisches Reservoir für das Pokkenvirus. Konsequenterweise wurde die Pockenschutzimpfung eingestellt. Vor dem Hintergrund potenzieller bioterroristischer Bedrohung – also einer nicht völlig auszuschließenden bewussten Freisetzung von Pockenviren – muss eine Impfung gegen Pocken wieder in Betracht gezogen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Freisetzung ist sicher äußerst gering, aber sie ist nicht gleich null. Eine besondere Gefährdung Deutschlands ist derzeit nicht erkennbar.
Eine Pockenschutzimpfung ist jedoch nur angebracht, wenn ein Pockenfall aufträte und sich somit Befürchtungen bewahrheiten sollten, wonach Pockenviren sich nicht länger ausschließlich in den beiden von der Weltgesundheitsorganisation akzeptierten Hochsicherheitslabors befinden (USA und Russland). Sobald ein erster bestätigter Pockenfall irgendwo auf der Welt aufträte, wäre dies ein „Proof of Principle“ – das heißt ein Beleg, dass Pockenviren in nichtautorisierte Hände gelangten.
Die derzeitigen Vorbereitungen für Pockenschutzimpfungen sollten ausschließlich als Vorsorgemaßnahme für diesen Fall betrachtet werden. Es muss ausreichend Impfstoff und die sonstige erforderliche Infrastruktur vorgehalten werden, um im Falle einer Pockenerkrankung (ob im Ausland oder gar im Inland) eine Impfung einzelner Gruppen oder – bei Bedarf – eine Massenimpfung vornehmen zu können.
Nach einem vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, dem Robert Koch-Institut und Fachkreisen zusammen mit den Bundesländern erarbeiteten Konzept („Szenario“) für eine Pockenschutzimpfung entspricht diese jetzige Vorbereitungsphase der Phase 1. Mit dem ersten Auftreten eines echten Pockenfalles in irgendeinem anderen Land (Phase 2) sollte in Deutschland eine Impfung von medizinischem Personal und anderen Bevölkerungsgruppen erfolgen, die für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erforderlich sind. Einzelne oder mehrere Pockenfälle in Deutschland selbst bedeuteten Maßnahmen nach Phase 3: Hier sollten bei einzelnen Fällen großflächige Riegelungsimpfungen beziehungsweise bei zahlreichen Fällen auch die Impfung der gesamten Bevölkerung erfolgen.
Die Bundesregierung sorgte in den letzten Monaten für eine ausreichende Menge an Vakzinen und trieb die Vorbereitungen für eine Impfung voran zur Absicherung gegen den extrem unwahrscheinlichen Fall von Pockenerkrankungen. Damit ist ein Schutz der Bevölkerung gegen diesen hochgefährlichen Erreger und die katastrophalen Folgen einer Epidemie möglich. Sollte es zukünftig zu einer Freisetzung von Pockenviren kommen, stehen Mittel und Wege zur Verfügung, selbst große Teile der Bevölkerung rasch zu impfen. Kontraindikationen für eine Impfung mit diesem Lebendimpfstoff müssen dabei natürlich berücksichtigt werden (zum Beispiel schwere angeborene oder erworbene Immundefizienz, HIV-Infektion, Immunsuppression, Ekzem).
Die Pockenschutzimpfung geht im Vergleich zu den anderen gegenwärtig empfohlenen, sehr gut verträglichen Impfungen mit einer beträchtlichen Rate an Nebenwirkungen einher. Man muss mit schwerwiegenden Erkrankungen rechnen (1 pro 1 000 Impflingen), die symptomatischer Behandlung bedürfen, und mit etwa 30 Dauerschäden und ein bis zwei Todesfällen pro eine Million Impflingen. Diese unerwünschten Nebenwirkungen waren bei einer Güterabwägung nur so lange vertretbar, als noch die Gefahr einer Pockeninfektion bestand. Nach der Ausrottung des Pockenvirus in der Natur waren derartige Nebenwirkungen der Impfung nicht länger hinnehmbar.
Die durch die Pockenschutzimpfung mit dem Vacciniavirus induzierte (Kreuz-)Immunität auch gegen die nahverwandten Kuhpocken oder Affenpocken (oder andere tierische Pocken) rechtfertigen eine Impfung nicht. Hier handelt es sich um extrem seltene Erkrankungen. Deren Kontagiosität und Mortalität ist deutlich geringer als bei Variola. Den in den letzten Jahrzehnten beobachteten Anstieg der Allergiehäufigkeit in der Bevölkerung als eine Folge des Aussetzens der Pockenschutzimpfung einzustufen ist eine höchst spekulative Interpretation einzelner Wissenschaftler. Es gibt hierfür keine Belege. Diese Annahme ist kein valides Argument pro Impfung und wissenschaftlich nicht haltbar.
Es gibt also keine Rechtfertigung für eine generelle (Wieder-)Einführung der Pockenschutzimpfung. Vielmehr ist mit ausreichenden Impfstoffvorräten, einem detaillierten Impfplan und den entsprechenden technischen Vorbereitungen für eine kurzfristige Massenimpfung der Sicherheit der Bevölkerung Genüge getan. Die erforderliche Zahl der Impfdosen (circa 100 Millionen inklusive einer Reserve) für die Impfung aller Einwohner Deutschlands wird in Kürze verfügbar sein. Es ist vorgesehen, bis 1. April 2003 bereits zwei Drittel dieser Menge bevorratet zu haben.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind 55 Millionen Dosen eingelagert, was für großflächige Abriegelungsimpfungen ausreichend ist. Eine Freigabe im erforderlichen Umfang erfolgt erst im Eventualfall, also bei Vorliegen eines bestätigten Pockenfalles. Entsprechend wird derzeit auch kein Anlass gesehen, besonders besorgten oder verunsicherten Bürgern die Impfung freizustellen.
Zu erwägen ist in der jetzigen Situation höchstens die Impfung von medizinischen Mitarbeitern der Kompetenz- und Behandlungszentren für hochinfektiöse Krankheiten (zum Beispiel für „importierte“ Krankheitserreger wie Gelbfieber, Lassa oder Pest); also den spezialisierten Klinikeinheiten, die bei einem Pockenverdacht als erste mit einem entsprechenden Patienten konfrontiert würden (in Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg, Leipzig, München).
Bei einer Massenimpfung ist nicht völlig auszuschließen, dass auch solche Personen die Impfung erhalten, bei denen Kontraindikationen vorliegen, aber nicht erkannt werden und bei denen deshalb ein hohes Risiko von Impfkomplikationen besteht. Auch eine Übertragung des Impfvirus auf Kontaktpersonen mit Kontraindikationen ist nicht völlig ausgeschlossen. Diese Risiken erscheinen nur bei einer akuten Bedrohung akzeptabel.
Prof. Dr. med. Reinhard Burger
Prof. Dr. med. Reinhard Kurth

Prof. Dr. Reinhard Kurth ist Präsident, Prof. Dr. Reinhard Burger Vizepräsident des Robert Koch-Instituts in Berlin.
Weitere Informationen des RKI zu diesem Thema sind über das Internet erhältlich unter www.rki.de/GESUND/ GESUND-BT.HTM

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