ArchivDeutsches Ärzteblatt16/2003Integrierte Versorgung: Bundesknappschaft als Vorreiter

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Integrierte Versorgung: Bundesknappschaft als Vorreiter

Schoeller, Annegret

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LNSLNS Das Knappschaftsmodell lässt sich nicht 1 zu 1 in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung übertragen.
Noch unter Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer wurde die integrierte Versorgung im Rahmen des „Gesundheitsreformgesetzes 2000“ als eine Möglichkeit angesehen, die Schnittstellenproblematik zwischen ambulantem und stationärem Sektor zu lösen. Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt sieht in der flächendeckenden integrierten Versorgung die Lösung als ein Kernstück der Reform 2003. Doch der „Selbstläufer“ integrierte Versorgung lahmt; er hat sich bisher nicht als Reformperspektive für das Gesundheitswesen erwiesen.
Aber von vielen kaum beachtet hat die Bundesknappschaft bereits vor diesem Gesetzesvorhaben 1998 damit begonnen, ein integriertes Netz aufzubauen. Diejenigen, denen dieses Projekt unbekannt ist, unterstellen, dass die Bundesknappschaft als eine gesetzliche Krankenkasse von Bergleuten ein „Auslaufmodell“ sei. Dies ist aber ein Trugschluss, denn die Bundesknappschaft ist mit der Einführung der integrierten Versorgung Vorreiter. Dieses moderne Konzept soll auch für weitere Versichertengruppen geöffnet werden. Es ist davon auszugehen, dass die Bundesknappschaft großen Zulauf bekommen wird.
Das Projekt „Integriertes Versorgungsmodell Prosper“ der Bundesknappschaft scheint viele unüberwindbare Hürden – woran manche Netze gescheitert sind – problemlos genommen zu haben. Worin liegen die Ursachen?
Die Bundesknappschaft mit Hauptsitz in Bochum ist ein aus verschiedensten „Bausteinen“ zusammengesetztes komplexes System. Ein Baustein stellt die Krankenversicherung dar, die rund 1,4 Millionen Versicherte, davon 28 Prozent Pflichtversicherte und 72 Prozent Rentner, zählt. Die Rentenversicherung umfasst rund eine Million Versicherte und eine Million Rentner, wobei 55 Prozent Versicherten- und 45 Prozent Hinterbliebenenrenten ausgezahlt werden. Darüber hinaus unterhält die Bundesknappschaft als Krankenhausträger sieben Krankenhäuser, und zwar in Bottrop, Gelsenkirchen-Buer, Recklinghausen, Dortmund, Bochum-Langendreer, Sulzbach und Püttlingen. Ferner ist sie an den Kliniken Essen-Mitte, Badenberg, Saarland-Heilstätten-GmbH sowie an den Kliniken Weilheim-Schongau beteiligt. Die Krankenhäuser halten rund 6 000 Betten vor. Im eigenen sozialmedizinischen Dienst sind circa 180 Ärzte an 25 Standorten tätig. Außerdem betreibt die Knappschaft fünf Rehabilitationskliniken mit rund 800 Betten. Neue Rehabilitationskliniken werden in der unmittelbaren Nähe der Akutkrankenhäuser wohnortnah gebaut. Die Bundesknappschaft versichert etwa 2,4 Millionen Personen; sie verfügt über ein Haushaltsvolumen von circa 20 Milliarden Euro.
Eine weitere Besonderheit des Knappschaftssystems ist, dass die Knappschaft einerseits die Aufgabe einer Krankenkasse, andererseits gemeinsam mit dem Verband der Knappschaftsärzte die Funktionen einer Kassenärztlichen Vereinigung einnimmt. Die Zusammenarbeit dieser Akteure hat sich als vertrauensvoll und konstruktiv erwiesen. Dabei führt die Knappschaft mit dem Bundesverband der Knappschaftsärzte, der die niedergelassenen Knappschaftsärzte vertritt, Verhandlungen im Hinblick auf Rahmenvereinbarungen sowie Einzel- und Honorarverträge durch. Weitere Aufgaben des Bundesverbandes sind nicht nur, den Sicherstellungsauftrag zu erfüllen, sondern auch die berufspolitischen Interessen der Knappschaftsärzte gegenüber der knappschaftlichen Krankenversicherung zu vertreten. Von diesen rund 1 400 Ärzten sind 15 Prozent Zahnärzte und 85 Prozent Allgemein-/Fachärzte als Knappschaftsärzte in der ambulanten Versorgung tätig. Von allen Knappschaftsärzten sind 646 Allgemeinärzte/Internisten/Kinderärzte, 141 Augenärzte, 107 HNO-Ärzte sowie 73 Gynäkologen. Darüber hinaus sind unter den Knappschaftsärzten auch Hautärzte, Orthopäden, Urologen, Nervenärzte und Ärzte anderer Fachgebiete, die ihrerseits im Verband der Knappschaftsärzte organisiert sind.
Besonderheiten der Knappschaft
Die Bundesknappschaft hat viele Probleme zu lösen. Die Versicherten der Bundesknappschaft stammen überwiegend aus dem Steinkohlebergbau. Dies bedeutet, dass aufgrund der Verminderung der Kohleförderung und Schließung der Zechen die Mitgliederzahl deutlich sinkt. Eine weitere Besonderheit ist, dass der Altersdurchschnitt der Krankenversicherten zurzeit 59,1 Jahre beträgt. Damit sind die Knappschaftsversicherten im Durchschnitt 18 Jahre älter als die Versicherten in der gesamten Gesetzlichen Krankenversicherung. Darüber hinaus ist der Anteil der Versicherten, die an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie an bösartigen Neubildungen leiden, überproportional höher als im Gesamtdurchschnitt der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Aufgrund der Ausgangslage lastet auf der Bundesknappschaft ein besonders großer Druck, effizient zu arbeiten. Um mit ihrer traditionellen Rolle zukunftsfähig und auch attraktiv für neue Versichertengruppen zu sein, beauftragte die Bundesknappschaft die Unternehmensberatung McKinsey, eine Untersuchung des Gesundheitssystems durchzuführen. McKinsey stellte Ineffizienzen im Gesundheitssystem fest, bei denen jedoch geeignete Maßnahmen die Möglichkeit eröffnen würden, immerhin zehn bis 23 Prozent der Kosten zu sparen. Geeignete Maßnahmen wären die Verringerung der Zahl von Krankenhauseinweisungen, der zentrale Einkauf von Medikamentenkontingenten und ein veränderter Medikamenteneinsatz, die Vermeidung von Doppeluntersuchungen sowie bessere Kommunikationsstrukturen zwischen den Leistungserbringern.
Integriertes Netzwerk
Diese Analyse bewog die Organisation des Netzwerkes der Bundesknappschaft, ein integriertes Netzwerk zu entwickeln. Die Bundesknappschaft gründete in Zusammenarbeit mit den Knappschaftsärzten am 1. Oktober 1999 das „Integrierte Versorgungsmodell ‚Prosper‘ Bottrop“. Das Netz ist wie folgt organisiert (Grafik):
Knappschaftsärzte aus einer Region schließen sich zu einem Netz um ein regiebetriebenes Knappschaftskrankenhaus zusammen. Die Krankenversicherung ist nicht am Honorarverteilungsmaßstab der regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen beteiligt, sondern verwaltet ihr eigenes Budget, wobei sie Kostenentwicklungen zulässt. Die Arbeitsebene dieses Netzwerks stellt für Ärzte die Netzwerkkonferenz dar. Mitglieder dieser Konferenz sind Vertreter der im ambulanten Sektor tätigen Netzärzte des Bundesverbandes der Knappschaftsärzte sowie Chefärzte als Repräsentanten der Knappschaftskrankenhäuser. Sie bilden Arbeitsgruppen und Qualitätszirkel, in denen Behandlungsleitlinien und Therapiekonzepte sektorübergreifend erarbeitet und weiterentwickelt sowie Behandlungsfälle beraten werden. Die Teilnahme an diesen Qualitätszirkeln wird den Ärzten mit 150 Euro honoriert. Die Netzkonferenz, die Krankenhäuser und die Bundesknappschaft entsenden ihre Vertreter in ein übergeordnetes Lenkungsgremium, den Netzvorstand, dessen Hauptaufgabe es ist, das Netzgeschehen zu fördern. Die Versicherten der Region werden durch Befragung in das Netz eingeschlossen; rund 7 800 haben sich bisher in Bottrop angemeldet. Weil zur Unterstützung, Vermittlung und Koordinierung der Netzaktivitäten ein Netzmanagement erforderlich ist, hat die Bundesknappschaft eine sechsköpfige Koordinierungsstelle, ausgestattet mit einem Budget von 18 Millionen Euro, gegründet. Zur verbesserten Vernetzung wurden den Ärzten EDV-Systeme zur Verfügung gestellt, und die erste sektorenübergreifende elektronische Patientenakte in Deutschland wurde eingeführt, die aber technisch noch nicht – wie gewünscht – funktioniert. Diese Akte, die mit dem Innovationspreis im Wettbewerb „Telematik im Gesundheitswesen“ ausgezeichnet wurde, ist intranetbasiert und sorgt für Transparenz für alle, die am medizinischen Prozess beteiligt sind.
Zur Bestimmung der Wirtschaftlichkeit des Netzes werden zunächst zwei Gruppen gebildet – die Netz- und die Referenzgruppe – und dann deren Gesamtkosten gegenübergestellt. Im ersten Jahr kam es zu Kosteneinsparungen von 1,5 Millionen DM und einer Verweildauerreduzierung um 2,9 Tage im Vergleich zum Jahr 2000. Dieser Trend hält bis heute an. Das Vorgehen zur Erfolgsmessung wurde von Prof. Dr. rer. pol. Eckard Knappe, Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Universität Trier, durchgeführt.
Die Gewinnausschüttung hat das Bundesversicherungsamt genehmigt. Mit der Ersparnis werden zunächst die Kosten des Netzwerk-Managements gedeckt. Der Versicherte wird über eine Bonusregelung in Form von Sachgütern, wie mit Blutdruckmessgeräten, „belohnt“. Es erfolgt eine direkte aufwandbasierte Entschädigung für die Netzärzte, wobei Rücklagen für den Ausbau einer EDV-Netzinfrastruktur gebildet werden. Ein Gewinnanteil ist auch für die Bundesknappschaft vorgesehen, der als Aufwandsentschädigung an die Krankenhäuser weitergereicht wird.
Vorteile für Systembeteiligte
Die dreijährige Testphase zeigt, dass alle Beteiligten von den Vorteilen des Systems profitieren können:
1. der Versicherte, weil er definierte Ansprechpartner hat und für ihn eine reibungslose interdisziplinäre Versorgung im Netz gewährleistet ist. Zusätzliche Serviceleistungen, wie zum Beispiel eine Telefon-Hotline bei gesundheitlichen Fragen und Beschwerden, werden angeboten. Aufgrund des effektiven Wirtschaftens verringert sich der Beitragssatz auf zurzeit 12,9 Prozent.
2. Die Knappschaftsärzte profitieren von dem System, weil Gestaltungsmöglichkeiten, insbesondere im Rahmen der Selbstverwaltung im Netzvorstand und in der Netzkonferenz, gegeben werden. Aufgrund des Einsatzes in Qualitätszirkeln kommt es zu einer Qualitätssteigerung und Verbesserung von Arbeitsabläufen. Durch die Aufnahme eines verbindenden EDV-Systems, das vom Träger zur Verfügung gestellt wird, wird der Transfer von Patientendaten beschleunigt.
3. Für das Krankenhaus ist das Netz insofern attraktiv, als dadurch die Belegung infolge der starken Bindung von Einweisern an das Krankenhaus sichergestellt wird. Darüber hinaus ist es an Netzeinsparungen beteiligt. Das Krankenhaus kann sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren, weil Serviceleistungen durch das Netz getragen werden.
4. Für die Bundesknappschaft bedeutet ein gut funktionierendes Netz einen erheblichen Imagegewinn, der bewirkt, dass auch Versicherte außerhalb des Bergbaus aufgenommen werden können. Die Realisierung von Wirtschaftlichkeitspotenzialen bewirkt eine Entlastung bei den Ausgaben für die Gesundheitssicherung. Darüber erschließen sich neue Geschäftsfelder für die Bundesknappschaft, wie die Einrichtung von Kurzzeitpflegediensten, die gewährleisten sollen, dass die frühzeitig aus dem Krankenhaus Entlassenen, die noch kurzfristig gepflegt werden müssen, diese Pflege auch erhalten.
Die Ergebnisqualität wird durch halbjährliche Befragungen der Versicherten im Netz geprüft. Die Umfrage zeigt, dass die Patienten sehr zufrieden sind und dass dem Netz die Treue gehalten wird. Im Hinblick auf diesen Erfolg entschloss sich die Bundesknappschaft, weitere integrierte Versorgungsnetze einzuführen: ab April 2001 im Saarland und ab 1. Oktober 2002 in Recklinghausen. Insgesamt werden derzeit 25 000 bis 30 000 Versicherte im Netz versorgt.
!Gewichtiger Faktor für den Erfolg des „Integrierten Versorgungsmodells ‚Prosper‘“ ist vor allem die besondere komplexe Struktur der Bundesknappschaft. Sie ist gleichzeitig Versicherungs- und Krankenhausträger und verfügt über ein nicht gedeckeltes sektorübergreifendes Budget. Darüber hinaus sorgt eine gute Kommunikation und Verständigung zwischen den unterschiedlichen Akteuren des Netzes in der Netzkonferenz und in den Qualitätszirkeln für reibungslose Abläufe. Außerdem ist innerhalb des Netzwer-kes das Konflikt- und Konkurrenzpotenzial relativ gering. Diese Struktur ist beispielgebend, aber wegen der Besonderheit der Struktur nicht im Maßstab 1 zu 1, aber doch in Teilen auf andere Netze übertragbar. Es lohnt sich, sich mit diesem Konzept zu befassen.
Krankenkassen sind gefordert
Dass das Netz beispielgebend ist, liegt nicht zuletzt auch daran, dass hier der Krankenversicherungsträger Bundesknappschaft eine entscheidende Rolle zum Gelingen einer integrierten Versorgung spielt. Die Krankenversicherung muss insbesondere auch niedergelassenen Ärzten eine langfristige Perspektive für die Entwicklung integrierter Anbietersysteme bieten. Nicht nur die Leistungsanbieter, sondern auch die Krankenkassen müssen bereit und fähig sein, wie die Bundesknappschaft in den Aufbau integrierter Anbietersysteme zu investieren und Prozesse im Hinblick auf die Personal- und Organisationsentwicklung mit anzustoßen und zu gestalten. Die Gesundheitspolitik wäre gut beraten, das unternehmerische Engagement aller Beteiligten zu fördern, indem sie den Initiatoren und Akteuren mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet und adäquate Rahmenbedingungen schafft.

Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 1041–1044 [Heft 16]

Anschrift der Verfasserin:
Dr. med. Annegret Schoeller
Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Straße 1
50931 Köln

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