ArchivDeutsches Ärzteblatt20/2003Arzt & Selbsthilfe: Auf gutem Wege

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Arzt & Selbsthilfe: Auf gutem Wege

Merten, Martina

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Für viele Ärzte gehört eine Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen inzwischen zum normalen Tagesablauf. Fünf Beispiele aus der Praxis zeigen, wie reibungslos die Kooperation funktionieren kann.

An das Gefühl, das sie nach der Diagnose „Brustkrebs“ hatte, kann sich Edith Tries noch genau erinnern: Angst überkam sie, sie fühlte sich hilfos, ohne Boden. Der Arzt, der ihr die Botschaft „wie im Vorübergehen“ mitgeteilt hatte, war genauso schnell aus dem Krankenzimmer verschwunden, wie er gekommen war. In diesem Moment hätte die heute 50-Jährige niemals daran geglaubt, dass es ihr nur zwei Monate später im Kreise anderer betroffener Frauen viel besser gehen würde. Eine Freundin hatte ihr den Besuch der Gruppe „Frauenselbsthilfe nach Krebs“ empfohlen, die sie noch heute, sechs Jahre danach, gerne aufsucht. „Hier“, wusste Tries schon nach einer Stunde, „bin ich richtig.“*
Schätzungsweise 100 000 örtliche Selbsthilfegruppen gibt es in Deutschland, mehr als 100 bundesweite Selbsthilfeorganisationen chronisch Kranker und behinderter Menschen und rund 250 professionell betriebene Kontaktstellen (siehe Artikel „Im Dienste der Patienten“ in diesem Heft). Damit liegt Deutschland, gemessen an der Verbreitung von Selbsthilfegruppen, europaweit an der Spitze. Darüber hinaus sind geschätzte zwei bis drei Millionen Menschen in der Selbsthilfebewegung aktiv, und die Zahl der in den Gruppen behandelten Themen steigt.
Auch bei der finanziellen Unterstützung der Selbsthilfegruppen zählt Deutschland zu den Vorreitern. Neben der Förderung durch Kommunen, Länder und den Bund und der projektbezogenen Förderung einzelner Selbsthilfegruppen durch die pharmazeutische Industrie werden Selbsthilfegruppen seit dem 1. Januar 2000 nach § 20 Abs. 4
SGB V auch durch die Gesetzliche Krankenversicherung finanziell unterstützt. Das jährlich vorgegebene Ausgabenvolumen pro Versicherten beträgt 51 Cent. Darüber hinaus werden bei der aktuellen Diskussion über die Stärkung der Patientenrechte und den Einsatz eines Patientenbeauftragten auch die Interessen der Selbsthilfevertreter miteinbezogen. Nicht zuletzt möchte der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (vzvb), Berlin, ein Akkreditierungsverfahren für Selbsthilfegruppen auf Bundesebene einführen. Angesiedelt beim politisch beabsichtigten Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patienten, soll das Akkreditierungsverfahren nach den Vorstellungen des vzvb dafür sorgen, nur seriöse und von den Interessen der Pharmaindustrie unabhängige Selbsthilfeorganisationen zu „lizenzieren“.
Die Akzeptanz von Selbsthilfegruppen innerhalb der Bevölkerung ist in den letzten Jahren merklich gestiegen. Auch die Zahl der Ärzte, die Selbsthilfegruppen aufgeschlossen gegenüberstehen, nimmt zu. Sie weisen ihre Patienten auf entsprechende Gruppen hin, vermitteln Adressen oder geben ihnen die Telefonnummern der regionalen Kooperationsberatungsstellen für Selbsthilfegruppen und Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), die über sämtliche Adressen der regionalen Selbsthilfegruppen verfügen. „Es ist doch meine Aufgabe als Arzt, bei Problemen, bei denen ich selbst nichts unternehmen kann, auf andere Hilfe hinzuweisen“, sagt Dr. med.Walter Dresch, Facharzt für Allgemein- und Arbeitsmedizin aus Köln. So kämen zum Beispiel regelmäßig Patienten mit Alkoholfahne in seine Praxis, denen eine medikamentöse Behandlung aufgrund ihres Krankheitsbildes kaum weiterhelfe.
Eine ähnliche Auffassung vertritt der Leverkusener Arzt Dr. Norbert K. Mülleneisen. Für den Spezialisten für Lungen- und Bronchialheilkunde ist das Weiterleiten seiner Patienten an Selbsthilfegruppen selbstverständlich. Gerade bei Patienten mit seltenen Lungenwegserkrankungen hilft ihm die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfegruppe auch fachlich weiter. „Woher soll ich zum Beispiel wissen, wie man eine Flugreise mit einem Sauerstoffkonzentrator antritt?“ fragt Mülleneisen. Da die Selbsthilfegruppe sich mit solchen Fragen beschäftige, sei der Patient dort viel besser als bei ihm aufgehoben.
Viele Patienten stehen dem Vorschlag, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen, offen gegenüber. Manche fragen sogar selber nach, ob es Personen gibt, die an derselben Erkrankung leiden, so Hans Gunia, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut aus Darmstadt. Meist wollen die Patienten etwas unternehmen, nur fehlt ihnen der Mut. So erging es auch Edith Tries. Zunächst habe sie Angst davor gehabt, „dass sich alle die ganze Zeit über umarmen“, erinnert sie sich. Solche Ängste plagten die Duisburgerin jedoch nur für kurze Zeit.
Mittlerweile nimmt Tries zweimal monatlich an Gruppensitzungen teil. Was ihr vor allem dabei hilft, ist der Austausch mit anderen Betroffenen. Jeder weiß, welche Phasen man nach einer Chemotherapie durchlebt, kennt die innerfamiliären Belastungen und die Ängste vor Nachsorgeuntersuchungen. Neben dem emotionalen Austausch untereinander geht es in der Gruppe auch um medizinische Fragen, etwa zu Therapiemöglichkeiten oder Rehabilitation und um Fragen zu Leistungsansprüchen der Krebskranken. Darüber hinaus stehen Fachvorträge auf dem Programm, die ein- bis zweimal monatlich von Ärzten gehalten werden. Einmal jährlich beantwortet eine Internistin den Krebspatienten generelle Fragen zu ihrer Krankheit. Dies alles, so Gunia, ist nicht zuletzt auch für die Compliance der Patienten sehr nützlich.
Vorträge halten auch Dresch, Mülleneisen und Gunia. „Wenn die Einladung freundlich formuliert ist und die Selbsthilfegruppen seriös erscheinen, mache ich das gern von Zeit zu Zeit“, so Mülleneisen über sein Engagement. Darüber hinaus lädt der Leverkusener Arzt häufiger Betroffene in Qualitätszirkel ein, um deren Erfahrungen in die Erstellung von Leitlinien miteinzubeziehen. Das in den Leitlinien enthaltene medizinische Wissen über eine bestimmte Krankheit sei in der Praxis oft untauglich, da es nicht auf den Patienten anwendbar sei. „Durch die Einbeziehung von Betroffenen aus Selbsthilfegruppen versuchen wir, die Wissenschaft auf das Umsetzbare runterzubrechen – und dafür spielt der Patient eine ganz besondere Rolle“, sagt Mülleneisen. Diejenigen Patienten, die in die Zirkel eingeladen werden, könnten sofort Einspruch erheben, wenn ihnen eine Therapieart missfiele oder sie diese nicht für realistisch hielten.
Auf bisher einmalige Weise ist der Münchner Internist und Psychotherapeut Dr. med. Peter Scholze innerhalb des Kooperationsprojekts „Dialog“ aktiv. Als Mitglied des Ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes München (ÄKBV) hat Scholze „Dialog“ vor zwei Jahren zusammen mit dem Münchner Selbsthilfezentrum (SHZ) ins Leben gerufen, um „das Wissen von Experten und Betroffenen zu verbinden“, wie er sagt. Krankenhausärzte, Fachärzte oder Hausärzte können sich bei „Dialog“ melden, wenn sie am Kontakt mit Selbsthilfegruppen interessiert sind. „Dialog“ berät über spezielle Kooperationsmöglichkeiten und begleitet die Zusammenarbeit, solange es die Partner wünschen. Die Stadt München, die regionalen Krankenkassen, die KV Bayerns und die ÄKBV finanzieren das Projekt.
Wachsende Bedeutung von Selbsthilfegruppen
Zu früheren Zeiten wäre ein Projekt wie dieses schwer zu realisieren gewesen. Obwohl sich die erste Selbsthilfegruppe, die Anonymen Alkoholiker, bereits 1956 gründete, spielten Selbsthilfegruppen bis Ende der 70er-Jahre in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle. Erst zwei Forschungsprojekte, eines an der Psychosomatischen Universitätsklinik Gießen, ein weiteres an der Medizinischen Soziologie der Universität Hamburg, verhalfen zu mehr Aufmerksamkeit. Aus dem Projekt in Gießen entwickelte sich die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG), die heute eine der führenden Dachorganisationen der Selbsthilfe ist. Anfang der 80er-Jahre entstand aus den in der DAG SHG zusammengetragenen Erfahrungen das Konzept einer Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen. Hier sollten Betroffene und Fachleute themenübergreifend Informationen und Beratung in Sachen Selbsthilfe finden. NAKOS, die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen, ist mittlerweile zentraler Ansprechpartner, wenn es um die Vermittlung und Vernetzung von Informationen geht. Inzwischen enthält sogar der Gesetzestext des § 20 SGB V die Begriffe „Selbsthilfegruppe“ und „Selbsthilfekontaktstelle“.
Der Diplom-Psychologe und Psychologische Psychotherapeut Jürgen Matzat, Leiter der Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen der DAG SHG e.V., die an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Gießen angesiedelt ist, nennt für die gewachsene Bedeutung der Selbsthilfe-Bewegung drei Ursachen: 1. die Verschiebung des Krankheitsspektrums hin zu chronischen Leiden, wodurch Unterstützung und Erfahrungskompetenz von anderen Betroffenen notwendig geworden sei; 2. den Zerfall traditioneller sozialer Netze, die sich zunehmend in Selbsthilfegruppen hätten finden lassen, und 3. die Zunahme von Bildung in unserer Gesellschaft, weshalb Patienten immer bessere Informationen verlangten und selber einholten, so zum Beispiel über den Besuch von Selbsthilfegruppen.
Bei Dr. med. Margitta Bert, Gynäkologin aus Rüsselsheim, müssen Vorträge wie die ihrer Kollegen aus Zeitmangel ausfallen. Neben ihrer Arbeit bei der KV und der Kammer bleibe kein Raum mehr für zusätzliches Engagement, so die Gynäkologin. Trotzdem gehören für die Ärztin Zeiten, in denen man Selbsthilfegruppen negativ gegenüberstand, der Vergangenheit an. Es gebe zwar immer Randgruppen, der größte Teil sei jedoch seriös. Mülleneisen: „Manchmal ist der Vorsitzende einer Gruppe religiös angehaucht, was dann auf die ganze Gruppe abfärbt.“ In der Praxis sei das aber selten. Gunia lobt vor allem das politische Engagement, das von vielen Gruppen ausgeht. Die Patienten würden nicht nur gut über ihr Krankheitsbild oder Problem aufgeklärt, sondern auch über ihre Rechte informiert. Das wirke sich positiv auf die Arzt-Patient-Beziehung aus, indem der Betroffene nicht länger der Unterlegene, sondern ein „mündiger“ Patient sei. „Auch wenn ein gut informierter Patient manchmal ein teurer Patient ist“, wie Bert weiß. Denn viele kämen im Anschluss an den Besuch der Selbsthilfegruppe und verlangten das medizinisch Optimale. Dann müsse erst einmal erklärt werden, dass nicht alles, was gut ist, auch bezahlbar sei. Diesen Punkt hält die Gynäkologin aber für den einzigen Nachteil der Zusammenarbeit von Ärzten und Selbsthilfegruppen.
Dennoch klagen viele Gruppen, mit denen Gunia Kontakt hat, darüber, dass die Zusammenarbeit mit den Ärzten besser sein könnte. Edith Tries kann Berührungsängste mancher Ärzte nicht nachvollziehen. Schließlich seien sie alle „herzlich willkommen“, auch wenn kritische Fragen dazugehörten. Martina Merten

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