ArchivDeutsches Ärzteblatt20/2003Adipositas: unterschätztes gesundheitspolitisches Problem

MEDIZIN: Editorial

Adipositas: unterschätztes gesundheitspolitisches Problem

Badenhoop, Klaus; Usadel, Klaus-Henning

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LNSLNS Die Adipositas stellt mit einem Anteil von 25 Prozent der US-Bevölkerung und einer sich dieser Zahl annähernden hohen Prävalenz in Deutschland, insbesondere in der heranwachsenden Generation, ein unterschätztes gesundheitspolitisches Problem dar. Mit der Diagnose Adipositas gehen ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus, Hypertonus, Herzinfarkt, Schlaganfall und anderen Erkrankungen einher. Diese Folgeerkrankungen verursachen Kosten, die auch noch von zukünftigen Generationen getragen werden müssen.
Ursache dieser Erkrankung ist – neben einer kleinen Gruppe von monogenetisch bedingter Adipositas – fast immer eine für den Energieverbrauch des Patienten inadäquat hohe Nahrungsaufnahme über lange Zeiträume. Hierbei gibt es genetisch bedingt Menschen, die die Nahrung gut in Fettspeicher anlegen können („gute Futterverwerter“ – „easy gainer“), und solche, die trotz Aufnahme gleicher Mengen wenig oder keine Fettdepots ansetzen. Letztere wären – evolutionär gesehen – benachteiligt, da die „gute Futterverwertung“ in Zeiten der Nahrungsmittelknappheit vorteilhaft ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Adipositas in allen Gesellschaften im Übergang von Nahrungsmangel zum -überfluss stark zunimmt. Obwohl Gene in bis zu 70 Prozent das Gewicht beeinflussen, ist die sprunghafte Zunahme der Adipositas höchstwahrscheinlich weder durch genetische Veränderungen noch durch hormonelle Ursachen erklärbar, wenngleich oftmals die „Drüsen“ von den Patienten verantwortlich gemacht werden. Dennoch sollte insbesondere bei allen nicht durch die Lebensweise erklärbaren Formen des Übergewichts die Suche nach sekundärer Adipositas auch eine endokrinologische Basisdiagnostik (Schilddrüse, Nebenniere) einschließen. Bei allen Adipösen mit normalen Nüchternglucosewerten sollte ein Glucosetoleranztest durchgeführt werden, denn die erfolgreiche Therapie der pathologischen Glucosetoleranz kann vaskuläre Komplikationen verhindern.
In der Regel beginnt das Übergewicht bereits in der Jugend oder sogar schon bei Kindern. Hier wird in der Familie, in der die Nahrungsaufnahme und das Ausmaß körperlicher Betätigung vorgelebt und gemeinsam gepflegt werden, der Grundstein für die weitere Lebensführung gelegt. Ess- und Bewegungskultur sind Ausdruck einer gesunden Lebensführung, die sich in den meisten Familien nur unter großer Mühe erhalten lässt. Auch im Schulsport werden Defizite der Bewegungs- und körperlichen Koordinationsfähigkeit bei einer zunehmenden Zahl von Kindern erkennbar.
Der Übergang vom Normal- zum Übergewicht bis zur Adipositas ist fließend. Die Stigmatisierung der adipösen Menschen beginnt früh und kann über einen Teufelskreis der sozialen Isolation krankheitsverstärkend wirken. Diese Stigmatisierung führt auch zum Ignorieren des Problems bei Betroffenen, Angehörigen und – wegen fehlender klinischer Konsequenzen – bei Haus- und Fachärzten. Erst bei der morbiden Form (WHO Adipositas Grad III, Bodymass-Index [BMI] > 40 kg/m2 oder BMI > 37 bei Komorbidität) kommt es zu einer Kostenübernahme der chirurgischen Therapie, wohingegen in früheren Stadien eine Lifestyle-Modifikation vorgenommen wird, die nicht zu einer garantierten Leistung der Krankenkassen gehört.
Strategien der Gewichtsreduktion zielen auf ein Kaloriendefizit, wobei ein tägliches Defizit von 500 Kcal unterhalb des tatsächlichen Bedarfs zu einer durchschnittlichen Gewichtsreduktion von 500 g pro Woche führt. Dazu gehören Veränderungen der Lebensweise (Ernährung und Bewegung erreicht durch eine Adipositasschulung), eine Verhaltensänderung durch Psychotherapie und Behandlungsansätze wie Pharmakotherapie und chirurgische Eingriffe. Allerdings sind randomisierte und prospektive Langzeitstudien über die verschiedenen Formen der Adipositastherapie erforderlich, um ihre Indikationen zu belegen.
Dennoch kann schon jetzt bei einigen Ansätzen eine zumindest kurz- bis mittelfristige Erfolgswahrscheinlichkeit festgestellt werden. Eine Pharmakotherapie (Sibutramin als Appetithemmer und Orlistat als Fettresorptionshemmer zum Teil bei Formen der Adipositas mit einem BMI > 30 < 40 effektiv) ohne Änderung der Lebensweise ist in der Regel wenig erfolgreich, Langzeitstudien fehlen. Auch die Magenbandplastik erfordert eine psychologische Begleitung beziehungsweise Nachbetreuung. Deshalb muss ein Stufentherapiekonzept erarbeitet werden, beginnend mit Adipositasschulungen, ähnlich den Schulungen bei Diabetes mellitus vom Typ 2, in dem die verschiedenen Therapien aufeinander aufbauen, sodass chirurgische Maßnahmen vermieden werden können.
Die rechtzeitige Behandlung der Adipositas wird bisher durch die Ablehnung der Kostenübernahme einer ambulanten Behandlung und Schulung durch die Krankenkassen verhindert. Solange hier keine Leistung vor dem Ausbruch von morbider Adipositas anerkannt wird, wird sich das Problem weiter ausbreiten.

Manuskript eingereicht: 25. 3. 2003, angenommen:
26. 3. 2003

Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. med. Klaus Badenhoop
Prof. Dr. med. Klaus-Henning Usadel
Medizinische Klinik I
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt/Main

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

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