ArchivDeutsches Ärzteblatt PP7/2003Migrantenkinder: Sprachförderung gescheitert

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Migrantenkinder: Sprachförderung gescheitert

Lenze, Susanne

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LNSLNS Berliner Psychotherapeuten fordern, die Rolle der Eltern stärker beim Spracherwerb zu berücksichtigen.

Eltern von Migrantenkindern müssen beim Auffrischen und Erlernen der Erst- und Zweitsprache miteinbezogen werden. Das forderte Gisela Borgmann, Präsidentin der Landeskammer für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Berlin bei einer Pressekonferenz Anfang Juni. Nach ihrer Meinung greifen die isolierten pädagogischen Konzepte für den Deutsch- und Förderunterricht der Kinder nicht weit genug. Sie seien gescheitert.
Denn: Mehr als 80 Prozent aller Kinder nichtdeutscher Herkunft haben große Sprachdefizite. Das ist das Ergebnis der letzten Sprachstandsstudie des Berliner Senats bei 26 720 Schulanfängern. Von den türkischen Erstklässlern sprachen 2001 über 50 Prozent kein Deutsch, das sie zu einer erfolgreichen Teilnahme am Unterricht befähigt hätte. Knapp ein Fünftel der türkischen Hauptschüler – und damit doppelt so viele wie deutsche – beenden die Schule ohne Abschluss. Das geht aus der Gesundheitsberichterstattung 2003 des Berliner Senats hervor.
„Das Problem der doppelten Halbsprachigkeit ist nicht spezifisch für Berlin, das betrifft alle Städte mit hohen Ausländeranteil, bundesweit“, erklärte Borgmann. Aus der mangelnden Sprachkompetenz könnten psychische Störungen erwachsen. Die nachgewiesenen Sprachdefizite in der Erst- und Zweitsprache seien ein Indikator für eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung. Menschliche Bindung werde über Sprache hergestellt. Die psychische Entwicklung von Kindern in Familien mit instabilen Bindungen und reduzierter Kommunikation sei gefährdet. Den Kindern werde zu wenig soziales Interesse entgegengebracht. Meistens hätten die Migranteneltern nach Verlassen ihres Landes, ihren sozialen Status in Deutschland verloren. „Dieser Verlust wird unbewusst auf die Kinder übertragen. Paarkonflikte, Selbstvorwürfe bis hin zu Suchtverhalten entstehen.“ Freizeitaktivitäten für Kinder in der Großstadt kosten Geld. Die materielle Not vieler Migrantenfamilien wirke sich auf die Verhaltensweisen der Eltern aus. 75 Prozent der türkischen Familien in Berlin lebten im Bereich der Armutsgrenze. Vielen Eltern fehle die Wertschätzung von Bildung außerhalb der Familie. Sie seien in ihrer Erziehungskompetenz überfordert. Nach Ansicht von Borgmann sind kindbezogene Wertevorstellungen, die dabei helfen, Anforderungen im deutschen Schulsystem gerecht zu werden, vielen Migranteneltern nicht vertraut. Borgmanns Vorschlag: Mit psychotherapeutischer Hilfe könnten Eltern ihre unterschiedlichen Erziehungsziele erreichen und mittelfristig die Integration für die Erziehungsberechtigen und Kindern erleichtern.
Gutes Modell:
Berliner Europaschulen
Unverständlich ist es für die Kammerpräsidentin, dass beim Schulpsychologischen Dienst die Psychotherapeutenstellen gestrichen wurden. Sorge bereiten ihr auch die drastischen Einsparungen der Beratungsstellen und die „katastrophale Unterversorgung mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten“. Die Zusammenarbeit mit einem Kulturmittler, der die Sprache der Eltern spreche, sei wichtig. Die seit elf Jahren bestehenden Berliner Europaschulen, Ganztagsschulen, die zwei Sprachen ab der Vorklasse lehren, befinden die Therapeuten als ein gutes Schulmodell. Susanne Lenze

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