ArchivDeutsches Ärzteblatt45/1996150 Jahre Anästhesie: „Eine Entdeckung in der Chirurgie“

VARIA: Medizingeschichte

150 Jahre Anästhesie: „Eine Entdeckung in der Chirurgie“

Brandt, Ludwig; Krauskopf, Karl-Heinz

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS Am 16. Oktober 1846 demonstrierte der Zahnarzt William Thomas Green Morton bei einer Operation vor Ärzten und Studenten der Harvard University am Massachusetts General Hospital in Boston die schmerzausschaltende Wirkung des Schwefeläthers. Dieses Datum markiert seither die Geburtsstunde der modernen Anästhesie.


Morton erlebte in seiner Zahnarztpraxis täglich die durch die Behandlung verursachten starken Schmerzen der Patienten. Er arbeitete daran, ein Mittel zur Schmerzbekämpfung zu finden. Von seinem Lehrer an der Universität, Dr. Charles T. Jackson, der sowohl Arzt als auch Chemiker und Geologe war, hatte er gelernt, daß Äther, lokal aufgetragen, eine schmerzstillende Wirkung besitzt. Die Idee, mit Äther den Patienten nicht nur schmerzfrei zu machen, sondern auch in Schlaf zu versetzen, veranlaßte ihn zu Versuchen an Hunden und schließlich auch an sich selbst. Jackson empfahl ihm, Schwefeläther zu benutzen. Ende September 1846 wandte Morton dieses Verfahren zum ersten Mal bei einem Patienten an. Dr. John Collins Warren erteilte ihm die Erlaubnis, am Massachusetts General Hospital einen Patienten in Narkose zu versetzen, bei dem ein Tumor am Kiefer entfernt werden sollte. Dieser Versuch überzeugte und war der Beginn der Schwefeläthernarkose.
Die Inhalation von Gasen zu medizinischen Zwecken war durchaus nicht neu. Am Ende des 18. Jahrhunderts schuf Joseph Priestley mit der Entdeckung des Sauerstoffs und des Stickoxyduls die Grundlagen für die "Pneumatische Medizin" zur Therapie von Lungenerkrankungen. Eine der bekanntesten Institutionen, die diese Methoden anwandten, war das "Pneumatische Institut" von Dr. Thomas Lovell Beddoes in Clifton, Bristol. Im Januar 1798 lernte Beddoes während seiner Sommerferien den erst 19jährigen Humphry Davy kennen. Dieser war zu der Zeit als Praktikant bei einem Chirurgen tätig. Beddoes bot ihm eine Stelle als Assistent an seinem Institut an; Davy willigte ein.
Er beschäftigte sich mit der Erforschung des Lachgases und bemerkte als erster dessen analgetische Eigenschaften, die er in einer im Jahr 1800 erschienenen zweibändigen Monographie folgendermaßen beschrieb: "Kopfschmerzen, die ich mir durch Magenverderb zugezogen hatte, wurden, als ich während dieser Schmerzen eine große Portion oxydiertes Salpeterstoffgas atmete, sogleich gehoben; sie kamen zwar nachher wieder, waren aber weit minder heftig als zuvor. Ein andermal verschwand ein schwächeres Kopfweh völlig, nachdem ich zwei Portionen Gas geatmet hatte.
Um zu sehen, inwiefern das Gas durch seine unmittelbare Einwirkung auf Wunden körperliche Schmerzen zu heben imstande sei, benutzte ich die Gelegenheit, wo ich mir einen von den bösen Zähnen, die man Weisheitszähne nennt, hatte ausziehen lassen. Mein Zahnfleisch war nach dieser Operation so stark entzündet, und ich hatte so heftige Schmerzen, daß ich weder ruhen noch anhaltend tätig sein konnte. An dem Tage, wo die Entzündung am stärksten war, atmete ich drei große Portionen oxydiertes Salpeterstoffgas. Nach den vier oder fünf ersten Atemzügen verminderten sich jedesmal die Schmerzen."
Dies hätte die Geburtsstunde der modernen chirurgischen Anästhesie sein können. Aber weder Davy selbst noch sonst jemand verfolgte diesen Gedanken weiter. Im Jahr 1805 wandte John Collins Warren die Ätherinhalation im Endstadium der Pneumonie an. Michael Faraday, ein Schüler Humphry Davys, beschrieb 1818 die einschläfernde Wirkung des Schwefeläthers. Und Henry Hill Hickman experimentierte ab 1820 mit Tieren, die er nach Inhalation von Kohlendioxid schmerzfrei operierte. Aber auch seine Arbeiten über die physiologischen Vorgänge während der Narkose fanden – noch – kein Interesse. Und am 30. März 1842 führte Crawford Williamson Long die erste Operation unter Äthernarkose an einem Patienten namens James M. Venable durch. Aber erst im Dezember 1849 berichtete er davon der Öffentlichkeit.


Lachgas und Äther
Dennoch waren Lachgas und Äther bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weithin bekannte und beliebte Substanzen. Als Halluzinogene wurden sie von Studenten zur Gestaltung von Parties verwendet ("Ether frolics") und dienten zur Belustigung des Publikums auf Jahrmärkten. Einer jener "Entertainer", die mit Lachgas und Äther im Gepäck von Volksfest zu Volksfest reisten, war Gardner Quincy Colton. Auf seinen "Tourneen" durch die Neuengland-Staaten kam Colton am 10. Dezember 1844 auch in das Städtchen Hartford in Connecticut. Dort fielen einem aufmerksamen Beobachter allerlei merkwürdige Dinge auf. So kam es vor, daß sich Menschen im Lachgasrausch verletzten und offenbar zunächst keinerlei Schmerzen verspürten. Horace Wells, Zahnarzt in dem Städtchen, dachte zwar zunächst nur an eine ". . . new era in tooth-pulling", seine Beobachtungen sollten jedoch von einer unabsehbaren Tragweite für die weitere Entwicklung der gesamten Chirurgie sein, denn mit seinen Beobachtungen eröffnete sich der Welt das Geheimnis der Anästhesie.
Wells bat gleich am nächsten Tag Colton zu sich nach Hause und ließ sich von ihm in die Geheimnisse der Lachgasherstellung und dessen Anwendung einweisen. Und noch am selben Abend ließ er sich von seinem Assistenten John Mankey Riggs einen Zahn in Lachgasanästhesie ziehen. Bis zum Jahresende konnte er seinen Erfolg bei mehr als einem Dutzend seiner Patienten ohne jegliche Probleme wiederholen. Dennoch hätte Horace Wells’ Leben vielleicht einen weniger tragischen Verlauf genommen, hätte Colton ihn anstatt in die Kunst der Lachgasherstellung in die Geheimnisse der "Etherization" eingeweiht. Das Lachgas jedoch sollte ihm zum Verhängnis werden. Auf Vermittlung seines ehemaligen Schülers in Hartford, William Thomas Green Morton, durfte er seine Entdeckung einigen einflußreichen Leuten in Boston vorführen, so zum Beispiel dem Universalgelehr-ten Charles Thomas Jackson. Und so wurde er schließlich für den 25. Januar 1845 nach Boston eingeladen, um bei Dr. Warren seine Erfindung vorzuführen. Aber die Demonstration mißlang, Wells und mit ihm das Lachgas mußten die "Bühne" des Operationssaales verlassen, noch ehe beide sie richtig betreten hatten. Wells hatte auch Versuche mit Äther gemacht, war aber davon wieder abgekommen. Nach Wells’ Desaster begann Morton selbst mit Untersuchungen zur Anästhesie. Auf Anraten von Charles Thomas Jackson verwandte er jedoch anstelle von Lachgas gleich den Äther. Mit der Konstruktion eines "Narkosegerätes" gelang ihm der entscheidende Schritt. Bisher hatte man den Äther auf ein Stück Tuch getropft und dieses dem Patienten vor Mund und Nase gehalten. Morton hingegen verbrachte einen mit Äther getränkten Schwamm in einen Glaskolben, der zwei Öffnungen aufwies. Der Patient atmete durch diesen Glaskolben hindurch die Mischung aus Raumluft und Äther ein, die Ausatmung erfolgte jedoch über ein Ventil direkt in die umgebende Luft – das erste halboffene Narkosesystem war erfunden. Dr. John Collins Warren, der Senior Surgeon des MGH, ließ Morton für den 16. Oktober 1846, vormittags 10 Uhr schriftlich einladen, ". . . to administer to a patient who is then to be operated upon the preparation which you have invented to diminish the sensibility to pain". Der Brief war von Dr. Heywood, dem House Surgeon des Krankenhauses, verfaßt worden.

"This is no humbug"
Diesem Patienten, einem etwa zwanzigjährigen Mann namens Gilbert Abbot, wollte Warren einen Tumor an der linken Halsseite entfernen. Morton leitete die Narkose ein, indem er den Patienten einige tiefe Atemzüge aus seiner Ätherkugel nehmen ließ. Als der Patient eingeschlafen war, wandte sich Morton an den Operateur mit den Worten: "Der Patient ist bereit, Dr. Warren." Dieser begann mit der Operation und führte sie mit gewohnter Schnelligkeit aus. Gegen Ende der Operation, beim Verband, bewegte der Patient plötzlich seine Extremitäten und stöhnte. Obwohl dadurch zunächst über die Wirkung der Narkose verunsichert, wandte sich Warren am Ende an das Auditorium mit seinem berühmten Ausspruch: "Gentlemen, this is no humbug."
Der bei der Demonstration anwesende Henry Jacob Bigelow der Jüngere, einer der einflußreichsten Chirurgen seiner Zeit, bemerkte: "Ich habe heute etwas gesehen, das um die Welt gehen wird." Und damit sollte er recht behalten. Die moderne Anästhesie war geboren.
Am 9. November 1846 berichtete Bigelow vor der "Boston Society of Medical Improvement" über dieses Ereignis und die sich dadurch eröffnenden Möglichkeiten für die Chirurgie. Am 18. November erschien Bigelows Bericht im "Boston Medical and Surgical Journal", dem späteren "New England Journal of Medicine", unter dem Titel "Insensibility during surgical operations produced by inhalation". Der "Boston Daily Advertiser" druckte den Artikel einen Tag später, am 19. November 1846, nach. In deutscher Übersetzung erschien er am 1. Januar 1847 in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung".
Wie war der Artikel so schnell nach Deutschland gekommen?
Henry J. Bigelows Vater, der Arzt und Botaniker Jacob Bigelow, teilte in einem Brief vom 28. November 1846 seinem Freund Dr. Francis Boott in London die neue Erfindung mit und legte dem Brief einen Sonderdruck des Artikels bei. Der Brief wurde auf dem damals schnellsten Weg von Amerika nach Europa verschickt, mit dem Schaufelraddampfer "Acadia" der Cunard Line. Er verließ Boston am 3. Dezember und erreichte Liverpool am 16. Dezember 1846. Einen Tag später hatte Boott den Brief in den Händen. Zusammen mit dem Zahnarzt Robinson nahm er am Samstag, den 19. Dezember 1846 die erste Äthernarkose in Europa vor. Bigelows Brief sandte er zusammen mit dem Artikel an die "Times", die beides am 2. Januar 1847 publizierte, erst einen Tag nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung", Leipzig.
Man könnte vermuten, daß der Artikel unabhängig von Bigelows Benachrichtigung an Boott an die "Deutsche Allgemeine Zeitung" gelangt ist. An Bord der "Acadia" befand sich auch Edward Warren, der möglicherweise als Agent Mortons sofort nach der Ankunft in Liverpool nach Frankreich weiterreiste, um in Paris das neue Anästhetikum patentieren zu lassen. Auch der Schiffsarzt der "Acadia", William Fraser, hatte Kenntnis von der Erfindung der Ätheranästhesie und war an der ersten Anwendung in Europa am 19. Dezember durch Boott und Robinson beteiligt.
Am 12. Januar 1847 wurde in Paris durch Roux erstmalig Äther auf dem europäischen Kontinent angewandt, wenn auch mit unbefriedigendem Ergebnis. In London hatte Robert Liston bereits am 21. Dezember 1846 eine Oberschenkelamputation in Äthernarkose durchgeführt. Die ersten Operationen unter Äthernarkose im deutschsprachigen Raum wurden, wie in Paris, erst im Januar 1847 vorgenommen. Am Sonntag, den 24. Januar 1847 betäubten Heinrich Eduard Weickert und Carl Friedrich Eduard Obenaus am Jakobsspital in Leipzig einen Patienten mit Äther zur Entfernung eines Backenzahns. Wahrscheinlich dienten ihnen die Berichte in den Tageszeitungen über die Ereignisse in Boston als einzige Quelle der wissenschaftlichen Information.
Am gleichen Tag wie Weickert und Obenaus versuchte der Erlanger Ordinarius für Chirurgie, Johann Ferdinand Heyfelder, den Schuhmachergesellen Michael Gegner zur schmerzlosen Eröffnung eines Glutealabszesses mit Äther zu anästhesieren, was jedoch fehlschlug. Erst am nächsten Tag gelangen Narkose und Operation. Heyfelder hatte seine Kenntnis über die Narkose wahrscheinlich aus dem Januarheft der "Revue médico-chirurgicale de Paris", das ihm am 21. Januar 1847 zugesandt worden war.
Ohne die Entdeckung der Anästhesie wäre die Entwicklung, welche die operative Medizin seit jenem Tag nahm, niemals möglich gewesen.
Literatur beim Autor
Anschrift für die Verfasser:
Univ.-Prof. Dr. med. Ludwig Brandt
Institut für Anästhesie
Klinikum Wuppertal GmbH
Heusnerstraße 40
42283 Wuppertal

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote