POLITIK
EU-Beitritt Polens: Freude gepaart mit Skepsis


Podium: Etwa 220 deutsche und polnische Ärzte und Politiker diskutierten in Meißen die
Auswirkungen des EU-Beitritts Polens.
Foto: Slä
Zuerst waren es die Bäcker und Friseure. Künftig mögen es die polnischen Ärzte sein, bei denen Deutsche vermehrt Leistungen nachfragen. Zumindest die deutschen Krankenkassen werden schnell ihr Interesse an dieser Form des europäischen Austauschs entdecken. Werden somit, wenn Polen in gut sieben Monaten der Europäischen Union (EU) beitritt, den Deutschen die Patienten und den Polen die Ärzte davonlaufen?
Soziale Auswirkungen
„Jetzt stehen wir vor den Problemen, die wir uns immer gewünscht haben“, brachte es Prof. Egon Bahr, Bundesminister a. D., beim 2. Deutsch-polnischen Symposium vom 12. bis 14. September in Meißen auf den Punkt. Der Wegbereiter der neuen Ost- und Deutschlandpolitik unter Willy Brandt hatte als Ehrengast vor zwei Jahren beim 1. Deutsch-polnischen Symposium in Kreisau/Krzyzowa, Polen, für den Beitritt Polens zur EU geworben, aber auch vor Hektik gewarnt.
Jetzt steht die Mitgliedschaft unmittelbar bevor. Gut zwei Drittel der Polen haben sich kürzlich in einer Volksabstimmung entschieden, der Europäischen Gemeinschaft ab Mai 2004 beizutreten. Dabei bleibt die Gestaltung des Gesundheitssystems eine nationale Aufgabe des EU-Mitgliedstaates. Dennoch wird sich die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auch auf den Sozialbereich auswirken. Denn nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 1997 (Kohll/Decker) ist es erlaubt, ärztliche Dienstleistungen in einem anderen EU-Land einzukaufen. Somit stellt sich mit der Osterweiterung der EU erneut die Frage, wie die gesundheitlichen Leistungen verteilt werden sollen. „Der Zugang zu medizinischer Versorgung innerhalb der EU darf nicht unter Aufgabe der sozialen Gerechtigkeit geregelt werden“, warnte Bundesärztekammer-Präsident Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe. „Ob es uns gefällt oder nicht, es wird ein Harmonisierungsdruck innerhalb der EU entstehen.“ Das Niveau der Gesundheitssysteme einander anzupassen, dürfte sich jedoch langwierig und schwierig gestalten. Betrugen nach WHO-Angaben die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit 1999 im EU-Durchschnitt 8,4 Prozent des Bruttosozialprodukts, waren es in Polen nur etwa vier Prozent. Die Krankenhäuser sind verschuldet und sanierungsbedürftig; es mangelt an Ärzten. Diese werden trotz langer Arbeitszeiten extrem schlecht bezahlt (etwa 500 Euro monatlich).
Die polnischen Ärzte sehen der Öffnung der Grenzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Freude über die neuen Möglichkeiten und die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung durch die EU sind mit der Sorge um ein „Ausbluten“ ihres Landes verbunden. „Wenn viele gut ausgebildete Ärzte Polen verlassen, wird die Situation bei uns sehr gefährlich“, sprach Dr. Konstanty Radziwill, Präsident der Ärztekammer Polens, die Befürchtungen aus. Hinzu kommt: Gerade im benachbarten Sachsen werden Ärzte gesucht. „Wir wollen kein Heil durch das Abziehen von Ärzten aus osteuropäischen Ländern“, stellte Prof. Dr. med. Jan Schulze, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer klar. „Der ärztliche Beruf muss in Deutschland attraktiver werden, damit uns nicht die Ärzte davonlaufen.“
Vermutlich werden Sprach- und Ortsbarrieren sowieso eine übermäßige Migration verhindern. „Die früheren EU-Erweiterungen haben gezeigt, dass es nicht zu den befürchteten starken Migrationsbewegungen von Ärzten gekommen ist“, beruhigte Dr. med. Otmar Kloiber, Bun-
desärztekammer. Selbst eine sehr viel bessere Bezahlung im Migrationsland würde eher zweitrangig sein. „Bei der Erweiterung der EU um die südeuropäischen Staaten waren die Gehaltsunterschiede mindestens genauso groß wie jetzt zwischen Deutschland und Polen“, berichtete Kloiber. Trotzdem sei damals die befürchtete Ärzteschwemme in Deutschland nicht eingetreten.
Unsicher sind derzeit noch die Migrationsbedingungen für polnische Ärzte. Eine Übergangsregelung erlaubt es den deutschen Bundesländern, für die Dauer von sieben Jahren Zuwanderungsbeschränkungen zu erlassen. Zudem will das Europäische Parlament die Anerkennung von Diplomen neu regeln. Die geltenden Bestimmungen innerhalb der EU (Richtlinie 93/16) sehen eine automatische und unbürokratische Anerkennung der Qualifikationen für Ärzte vor, wenn diese im europäischen Wirtschaftsraum erworben worden und in der Richtlinie aufgeführt sind. Gleichzeitig muss der Antragsteller Bürger eines EU-
Mitgliedstaats sein. Ist einer der Punkte nicht erfüllt, müssen die Ärztekammern im Einzelfall prüfen.
Im November könnte diese unbürokratische Regelung jedoch aufgelöst werden. Eine automatische Anerkennung der Qualifikation soll nach den Vorschlägen der Europäischen Kommission nur noch für die Fächer möglich sein, die in beiden Ländern deckungsgleich existieren. Für den Austausch von deutschen und polnischen Ärzten hieße das: Nur 17 der 32 (Deutschland) beziehungsweise 35 Gebiete (Polen) würden ohne bürokratische Überprüfung anerkannt werden. Die Bundesärztekammer setzt sich deshalb für die Übernahme der bisherigen Regelungen in die neue Richtlinie ein.
Zukunft gestalten
„Vergangenheit verstehen – Zukunft gestalten“ – von dem Motto des Symposiums der beiden Partnerärztekammern Sachsen und Niederschlesien stand in diesem Jahr besonders der zweite Teil im Mittelpunkt des Interesses. Unvergessen bleibt jedoch die gemeinsame Vergangenheit, die unbestritten ruhmvoll und sogar regelrecht europäisch war. Erinnert sei an die Medizinische Fakultät Breslau, eine der medizinischen Metropolen der Welt im 19./20. Jahrhundert, an der deutsche, polnische, tschechische, lausitzische und jüdische Gelehrte wirkten (beispielsweise Purkinje, Heidenhain, Cohn, Neisser, Czerny, Biermer, Wernicke, Alzheimer, Mikulicz-Radecki, Sauerbruch). Damals war Breslau eine – bereits ganz im europäischen Sinne –
(zusammen-)gewachsene „europäische Medizinische Hochschule“.
Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlmann